Originalwerk
Im Deutschen ist das Wort – ebenso wie seine italienische
Wie an diesen negativen Charakterisierungen deutlich wird, sind sozioökonomische Eigenschaften wie Armut und mangelnder Status auf das Engste mit
Für die frühen Belege ist allerdings festzuhalten, dass das Wort überwiegend auf Zustände in Frankreich, im alten Rom, in England bezogen ist. Zur Beschreibung der sozialen Wirklichkeit in den deutschsprachigen Ländern wird es zunächst kaum genutzt. Es kann daher für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts noch als Exotismus gelten.
Von den zahlreichen negativen Zuschreibungen, die das Wort ausdrückt, ist es kein weiter Weg zu seiner Verwendung als Schimpfwort. Damit wandelt sich der Ausdruck von einer Bezeichnung für eine große soziale Gruppe zu einem Ausdruck für ein Individuum: Die Zugehörigkeit zu den unteren Klassen wird dabei – im Zuge einer metonymischen Übertragung – als persönlicher Makel gedeutet. Die ältesten Beispiele für diesen individualisierenden und zugleich stark abwertenden Gebrauch sind auf weibliche Personen bezogen:
In der Anrede und somit als direkte Beschimpfung einer Person findet es sich früh dann , wobei die Beleidigung hier einer männlichen Person gilt. Belege für den Schimpfwortgebrauch, der dann in erster Linie Männer adressiert, finden sich gehäuft in der Wiedergabe (fiktiver) direkter Rede, so
Im Gefolge der Herausbildung einer auf Einzelpersonen bezogenen Verwendung entsteht dann schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch das Bedürfnis nach einer Pluralform
Sowohl der kollektive als auch individualisierende Gebrauch hat sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten (
Der dritte Stand in Franckreich bestehet dann der auß der
Canaille ? Das darff ich den Herrn von Gremonville wol fragen / weil sein Vater und sein Bruder auß diesem Stand waren. Er selbst ist auß dem Stande der Gelehrten und vortrefflichen Bürger.Anonymus: Anmerckungen Auff die Rede, Die der Commandeur von Gremonville vor Denen Herren Räthen Der Röm. Kayserl. Majestät in Wien abgeleget. Auß dem Frantzöischen. Amsterdam 1673, S. 25.
Damit aber die eingenommene Oerter nicht von Einwohnern entblösset verwildern möchten/ auch Rom nicht mit allzugroßer
canaille überhäuffet würde/ nahm man an vielen Orten nur die Wohlhabenden und Tapffern Bürger nach Rom/ und setzte an der weggeführten Stelle arme Bürger aus Rom/ die selbigen Ort mit Wohlgewogenheit gegen Rom anfülleten/ und zugleich an stadt einer Besatzung waren.Pufendorf, Samuel von: Einleitung zu der Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten/ so itziger Zeit in Europa sich befinden. Frankfurt a. M. 1682, S. 28.
Dannenhero in keinem Lande in der Chriſtenheit mehr ungereimte verſchiedene Meinungen in der
Religionzu finden/ als in Engeland. Es iſt auch diedaſelbſt zu Dieberey und Strassenrauberey sehr geneiget; weswegen der Hangmann in Engeland viel zu thun hat.Canaille Pufendorf, Samuel von: Einleitung zu der Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten/ so itziger Zeit in Europa sich befinden. Frankfurt a. M. 1682, S. 306.
Und derhalben vermeynen ſie/ es koͤnne ihnen gnug ſeyn/ wenn ſie an Chriſtum und ſein Verdienſt glauben/ und dardurch gedencken ſelig zu werden. Den Reſt von den Sachen/ die man bey die Chriſtliche Religion geflicket hat/ koͤnten ſie ja zum Schein mit machen/ und davon glauben/ ſo viel ſie wolten.Ob das Weibervolck und diedie ohne dem ancanaille ,extravaganten Dingen Beliebung traͤgt/ ſelbige Dinge in Ernſt glaube/ daran koͤnne nicht viel gelegen ſeyn. Ohne Zweiffel giebt es derer auch nicht wenig/ die nicht unterſcheiden koͤnnen/ was in der Religion von Gott iſt/ und was die Cleriſey ihres Nutzens halber darzu geflicket.Pufendorf, Samuel von: Einleitung zu der Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten/ so itziger Zeit in Europa sich befinden. Frankfurt a. M. 1682, S. 870.
Denn das iſt gewiß/ die kluͤgſten Leute muſten dazumal in ihren Minen was naͤrriſches/ und unſerer Gewonheit nach was laͤcherliches
exprimiren: Nur damit ſie der unbedachtſamengemaͤß erſchienen/ und uͤber deroſelbenCanaille affecten deſto leichtertriumphiren kunten.Weise, Christian: Der freymüthige und höfliche Redner. Leipzig 1693, S. d 6 v [Bild 88].
allerhand lumpen Geſinde/ kan auch von Hohen und Niedrigen verſtanden werden/ die kein Canaille,genereuſes,wohlthaͤtiges/ ehrliches Gemuͤth haben/ oder die gemeine undlaches Actionesbegehen.Marperger, Paul Jacob: Der allzeit-fertige Handels-Correspondent. 4. Aufl. Hamburg 1717, S. 66.
Doch da der Graf endlich hinter ihre Schliche kam, und die ſeinem Ehe-Bette zugefuͤgte Verunehrung merckte, war er auf eine gar ſeltzame Rache bedacht: Er gieng hin in ein beruͤchtigtes
Bordel-Hauß, trieb daſelbſt eine von Frantzoſen halb aufgefreſſeneauf, und nachdem er ſich, mit Vorſatz, dieſe garſtige Kranckheit ſelbſten zugezogen, ſchantzete er ſie aus Revange ſeiner treuloſen Gemahlin zu.Canaille Rost, Johann Leonhard: Leben und Thaten Derer berühmtesten Englischen Coquetten und Maitressen. Oder, Curieuse Nachricht Von denen Geheimen Liebes-Händeln und Intriguen Derer Brittischen Könige. Nürnberg 1721, S. 478.
loß Lumpen-Geſindel, ein loſer Hauffe, allerhand nichts wehrten Geſindleins, eine unzuͤchtige Metze.Canaille ,it.der gemeine Poͤbel.Gladov, Friedrich: A la Mode-Sprach der Teutschen Oder Compendieuses Hand-Lexicon. Nürnberg 1727, S. 85.
Weiter mag ich aus dieſem
abſurden und unvernuͤnfftigen Buche nichts anfuͤhren.Das angezogene zeiget die Narren-Kappe desIch thue demAutorisgenugſam; und von dem Reſt kan ich ſo viel verſichern, daß er nicht beſſer, ſondern noch weit aͤrger, leichtfertiger und naͤrriſcher iſt.Autoridieſes leichtfertigen Buchs mitlerweile noch zu viele Ehre an, daß ich ihn unter die Zahl derer Gelehrten Narren ſetze, und nicht vielmehr gar unter die, Hundsfuͤter und Bernheuter rechne. CanaillenFassmann, David: Der Gelehrte Narr, Oder Gantz natürliche Abbildung Solcher Gelehrten, Die da vermeynen alle Gelehrsamkeit und Wissenschafften verschlucket zu haben. Freiburg 1729, S. 166.
Cromwell
, ob er gleich ſonſt einhat wohl regieret, indem er allefourbegeweſen, ſo hat er doch geſucht diebonos imperanteszuimitiren, undoccaſiones peccandigeſucht aus dem Wege zu raͤumen. Er ſahe, daß diewenn ſie Zeit haͤtte, wuͤrde zuſammen lauffen, daher ordnete er, des Sonnabends, Sonntags und Montags ſollte Kirche gehalten werden, den Dienſtag, Mittwoch, Donnerſtag und Freytag muſten die Leute arbeiten, und haben ſie alſo keine Gelegenheit gehabt zuCanaille ,conſpiriren.Gundling, Nicolaus Hieronymus: Ausführlicher und mit Illustren Exempeln aus der Historie und Staaten Notiz erläuterter Discovrs über Weyl. Herrn D. Io. Franc. Bvddei, SS. Th. Prof., Philosophiæ Practicæ Part. III. Die Politic. Frankfurt a. M./Leipzig 1733, S. 186.
daß man den Magiſtrat culpam imputiret, ſie haͤtten dienicht recht in Zaum gehalten, und ſie deßwegen ſo hart geſtrafft, iſt hoͤchſt unrecht.canaille Gundling, Nicolaus Hieronymus: Ausführlicher und mit Illustren Exempeln aus der Historie und Staaten Notiz erläuterter Discovrs über Weyl. Herrn D. Io. Franc. Bvddei, SS. Th. Prof., Philosophiæ Practicæ Part. III. Die Politic. Frankfurt a. M./Leipzig 1733, S. 213.
Mein Herr wurde
von raſender Wuth dergeſtalt eingenommen, daß er augenblicklich ſeinen Hirſch-Faͤnger entbloͤſſete, mich bey den Haaren ergriff, und, indem er mir die Spitze auf die Bruſt ſetzte, ſprach: bete ein Vater Unſer in der Stille und gib nicht den geringſten Laut von dir, denn du mußt ſterben, weil ich mercke, daß du eher ein Verraͤther und Schelm an mir werdenCanaille !, als dich meines Gluͤcks theilhafftig zu machen und mir gefaͤllig zu leben trachtenwirſt.Schnabel, Johann Gottfried: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, Zweyter Theil, oder: fortgesetzte Geschichts-Beschreibung Alberti Julii, eines gebohrnen Sachsens, und seiner auf der Jnsul Felsenburg errichteten Colonien. Nordhausen 1737, S. 494.
Seine uͤble Lebens-Art, und ſonſt nichts, ſey Schuld daran: denn laſterhafte Sitten uͤberwoͤgen alle Vorzuͤge des Standes und der Geburt, und machten den Adel dem allerveraͤchtlichſten Paͤbel und der
Canaille gleich.Richardson, Samuel: Clarissa. Die Geschichte eines vornehmen Frauenzimmers. Zweyter Theil. Hrsg. von Johann David Michaelis. Göttingen 1748, S. 107.
Charlotte.Na, ſo laß ſie mich doch ausſchreiben. (
Marie ſpatziert ein Paarmal auf und ab, dann ſpringt ſie ploͤtzlich zu ihr, reißt ihr das Papier unter dem Arm weg, und zerreißts in tauſend Stuͤcken.)
Charlotte(in Wuth.)Na, ſeht doch — iſt das nicht ein Luder — eben da ich den beſten Gedanken hatte — aber ſo eine
Canaille iſt ſie.
Marie.
Canaille vous même.Lenz, Jakob Michael Reinhold: Die Soldaten. Eine Komödie. Leipzig 1776, S. 64.
Humbrecht.Wart Racker! ich will dich bekrotten! — wenn du ein Vieh biſt, ſo geh in Wald zu den andern wilden Thieren; (kriegt ein ſpaniſch Rohr, und pruͤgelt ihn tuͤchtig durch.) Jetzt geh,
Kanaille ! ich hab dirs lang nachgetragen; biſt mir auf einmal in die Kluppen gekommen.Wagner, Heinrich Leopold: Die Kindermörderinn, ein Trauerspiel. Leipzig 1776, S. 89.
Schweizer.Ein zukerſuͤßes Bruͤdergen! Jn der That! — Franz heißt die
Kanaille ?Schiller, Friedrich: Die Räuber. Ein Schauspiel. Frankfurt u. a. 1781, S. 30.
Matthes.(in die Thuͤr ihm nachrufend.)Empfehle mich, Herr Geheimerath! (im Umdrehen.) Dir brech ich auch noch einmal den Hals,
Kanaille !Iffland, August Wilhelm: Die Jäger. Ein ländliches Sittengemälde in fünf Aufzügen. Berlin 1785, S. 9.
Da wurden denn die armen Leute aufs haͤrteſte und ſchimpflichſte mishandelt, muſten hart arbeiten und erhielten nichts, als Pruͤgel, Waſſer und Brod. Die Wuth der ariſtokratiſchen
Kanaille ging ſo weit, daß ſie ſogar den Unteroffizieren Geld und Wein gaben, damit ſie dieſen oder jenen recht mishandeln und ſchlagen moͤgten.Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben. Dritter Theil, welcher dessen Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzugs gegen Frankreich von Anfang bis zur Blokade von Landau enthält. Leipzig 1796, S. 468.
Aber nicht bloß die Helden der Revoluzion und die Revoluzion ſelbſt, ſondern ſogar unſer ganzes Zeitalter hat man verlaͤumdet, die ganze Liturgie unſerer heiligſten Ideen hat man parodirt, mit unerhoͤrtem Frevel, und wenn man ſie hoͤrt oder lieſ’t, unſere ſchnoͤden Veraͤchter, ſo heißt das Volk die
Canaille , die Freyheit heißt Frechheit.Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg 1831, S. 312.
Stadt, man holte Gerichtsdiener und das Ende vom Liede war eine Vorladung der Behoͤrde, die mir
eroͤffnete, daß die Herren ſo und ſo — die
Kanaillen fuͤhrten gar keine Namen, — ihre eigenen Herrenſeien und das Recht beſaͤßen, ſich fuͤr eigene Rechnung zur Schau zu ſtellen.
Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Roman in vier Bänden. 2. Bd. Breslau 1852, S. 154.
Halts Maul, Stilpe, ächzte Auguſt, Du biſt die frechſte
Canaille , die ich kenne, aber ich liebe Dich, ich liebe alle frechenCanaillen . Hulda, klopf mir den Buckel ab!Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin 1897, S. 278.
Wie dem auch sein mag, es dürfte sich nicht so sehr um den Märchendrang des den Finsternissen der Welt abgewandten Genius handeln als um das Unternehmen eines nicht mehr ganz tatkräftigen Geschmacksimperators, der es sich noch erlauben darf, einer auf alles hereinfallenden
Kanaille der Sensation den puren Schwachsinn (seinem Freunde Karpath gewidmet) als Leckerbissen zum Fest zu bieten.Kraus, Karl: Kulturpleite. In: Die Fackel [Elektronische Ressource], 2002 [1924], S. 55.
Vergessenheit über all dies Erbärmliche. 999/10 aller Menschen sind schmutzige
Canaillen .Klemperer, Victor: [Tagebuch] 1925. In: Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Berlin 2000 [1925], S. 274.