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die oberen Zehntausend Upper Ten

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Die Verbindung die oberen Zehntausend ist eine Lehnübersetzung aus englisch the upper ten (thousand). Sie tritt ca. 1855 erstmals in deutschen Texten auf, hier zunächst mit Bezug auf Verhältnisse in der englischsprachigen Welt. Seit den 1870er Jahren bürgert sich der Ausdruck dann als allgemeine Bezeichnung für die Oberschicht einer Gesellschaft ein, wobei vor allem deren Extravaganz und Exklusivität betont werden. Um 1900 wird mit die Upper Ten dann auch die Entlehnungsgrundlage selbst noch einmal ins Deutsche übernommen.

Wortgeschichte

Eine Lehnübersetzung aus dem Englischen

Bei der Verbindung die oberen Zehntausend handelt es sich um eine Lehnübersetzung der englischen Fügung the upper ten (thousand), die laut 3OED seit 1844 bezeugt ist, und zwar zunächst im amerikanischen, einige Jahre später und überwiegend in der Verkürzung the upper ten auch im britischen Englisch (s. 3OED unter upper).

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Der englische Ausdruck findet sich zuerst 1844 in dem Leitartikel einer New-Yorker Zeitung bezüglich der allerreichsten Einwohner New-Yorks (Stiven 1936, 66). Bei Büchmann (1910: 333; zit. nach Anglizismen-Wb., 1639) heißt es dazu erklärend: Er [der Journalist des Zeitungsartikels] wählte die Zahl 10 000, weil sie zu seiner Zeit die Anzahl der gesellschaftsfähigen New Yorker war (zum Erstbeleg im amerikanischen Englisch s. auch 3OED unter upper, 20 a).

Vom Exotismus zum integrierten Lehnwort

In deutschen Texten tritt die Verbindung zuerst in Beschreibungen der gesellschaftlichen Gegensätze im Großbritannien des viktorianischen Zeitalters auf. Geschildert werden sowohl Arbeiterproteste, die gegen die obersten Zehntausend gerichtet sind (1855), als auch der Lebensstil dieser Klasse, der durchweg als luxuriös und extravagant dargestellt wird (1861a, 1861b, vgl. 1894) und sich von dem des Mittelstandes bzw. der breiten Schichten des Publikums abhebt (1885, 1896).

Mindestens seit den späten 1870er Jahren wird die oberen Zehntausend aus dem engeren Bezug auf anglo-amerikanische Verhältnisse herausgelöst und allgemein verwendet, so etwa 1878 für die Pariser Oberschicht oder 1885 für die Besucher der Bayreuther Festspiele. Die Verbindung tritt dabei in unterschiedlichen Schattierungen auf: Sie kann eine gesellschaftskritische Haltung zum Ausdruck bringen (etwa 1907b, 1911), sie kann aber auch mit spöttischem Einschlag verwendet werden (1885, 1896) oder als neutrale Beschreibung gesellschaftlicher Hierarchien dienen (1908, 1913). Seit dem 20. Jahrhundert tritt oftmals auch die Bewunderung für den extravaganten, beneidens- und nachahmenswerten Lebensstil der so bezeichneten Schicht in den Vordergrund (1900, 1902a, 1964, 1994).

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Auf diesen Aspekt nimmt auch der Filmtitel Die oberen Zehntausend Bezug (Original 1956 High Society). In diesem Musical wird die glamouröse Lebensweise der amerikanischen Ostküsten-Oberschicht leicht ironisierend, aber weitgehend frei von Kritik vorgeführt. – Eine Korrelation zwischen der erfolgreichen Aufführung des Films und der Entwicklung des Wortgebrauchs lässt sich bislang nicht nachweisen.

Eine exklusive Schicht

Im Vergleich zu synonymen Ausdrücken wie Oberschicht oder Oberklasse akzentuiert die oberen Zehntausend stark die Exklusivität der gemeinten sozialen Gruppe: Im Vergleich zu der in die Millionen gehenden Mehrheit – der großen Masse, den unteren Volksklassen und Arbeitern (1907a, 1908, 1911) – sind zehntausend Personen nicht viel. (Unter diesem Aspekt ist der Ausdruck übrigens mit dem Wort EliteWGd vergleichbar, das mit der Ausgangsbedeutung Auslese ebenfalls deutlich auf die Exklusivität der gemeinten Gruppe abhebt.) Der geringe Umfang der Gruppe steht dabei in einem scharfen Kontrast zu der Fülle von Prestige, Macht und Reichtum, über die sie verfügt. Neben die weitgehend wertfrei-bewundernde Akzentuierung tritt somit gelegentlich eine kritische Verwendung; die oberen Zehntausend kann damit auch als Stigmawort in politischen Auseinandersetzungen auftreten – ein Steuergeschenk für die oberen Zehntausend (vgl. 1993, 1999b) ist in einer grundsätzlich egalitären Gesellschaft per se ungerecht.

Die Upper Ten: Doppelentlehnung

Die Entlehnungsgrundlage von die oberen Zehntausend findet um 1900 ein weiteres Mal Eingang ins Deutsche, diesmal freilich als direkte Übernahme der verkürzten britisch-englischen Ausgangsform the upper ten (1902b). Auch wenn der Ausdruck, wie zu erwarten, vielfach auf Verhältnisse in den englischsprachigen Ländern angewandt wird (z. B. 1950), finden sich früh schon Belege mit breiterem Anwendungsspektrum (neben 1902b vgl. auch 1914). Ansonsten wird, ähnlich wie bei die oberen Zehntausend, in den Belegen meist auf modische Extravaganz, vorbildliche Manieren sowie die Internationalität abgehoben (neben 1902b und 1914 vgl. auch 1956, 1999a; im Beleg 1957 im Gegensatz zum NormalverbraucherWGd). Insgesamt bleibt die Upper Ten aber seltener im Vergleich zur älteren Lehnübersetzung die oberen Zehntausend.

Literatur

Anglizismen-Wb. Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945, begründet von Broder Carstensen, fortgeführt von Ulrich Busse. Bd. 1–3. Berlin/New York 1993–1996.

3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)

Stiven 1936 Stiven, Agnes Bain: Englands Einfluß auf den deutschen Wortschatz. Diss. Marburg 1935. Zeulenroda 1936.

Belegauswahl

Dunkele Gerüchte sprachen von einem bewaffneten Zuge des Volks in den Hyde-Park […], von Verstärkung aus Birmingham, Manchester u. s. w., von wo die Chartisten zu rechter Zeit eintreffen würden, um der Polizei zu zeigen, daß sie Diener des Volks und nicht Werkzeug der obersten Zehntausend sei, um einen englischen Sonntag erkämpfen zu helfen, wie ihn die Völker des Continents genössen.

Die Gartenlaube 3 (1855), S. 389.

Die obersten Zehntausend und die unmittelbar darunter zu ihnen aufstrebenden hochrespectablen Familien bezahlen Fleischer, Bäcker, Schuster, Schneider, Weinlieferanten, Puder- und Haarkünstler, Putzmacherinnen, Juweliere u. s. w. alle 2–3-5 Jahre […], oft in noch größeren Zwischenräumen (Wellington alle 9 Jahre, wie ich wiederholt hörte) und öfter gar nicht.

Die Gartenlaube 9 (1861), S. 155. [DTA]

Die obersten Zehntausend geben sich immerwährend gegenseitig Gesellschaften, Bälle und Concerte.

Die Gartenlaube 9 (1861), S. 155. [DTA]

Der Grund des weit auseinander gehenden Urtheils der beiden Beobachter liegt offenbar darin, daß Nordau nur die Ehe der modernen französischen Hauptstadt und in dieser wieder vorzugsweise die Ehe der obern Zehntausend in Betracht zieht.

Die Grenzboten 37/2/1 (1878). [DTA]

Wie sie da angefahren kamen in langen Reihen, die schöngeputzten Mitglieder der zahlreich anwesenden „obern Zehntausend,“ und die weniger schön, aber nicht minder kostbar gekleideten Vertreter des Mittelstandes […], der es kann, und die ebenfalls mit mehr oder weniger gutem Geschmack möglichst herausstaffirten Künstler und Kunsttheoretiker – alles so ziemlich nach der Schablone –, und wie sie sich dann in aller ihrer Pracht hineinquetschten in die höhlenartigen Eingänge des Wagnertempels und die steilen, in der Breite nur für einen Menschen Raum lassenden Hühnersteigen hinanstapften, dann, […]eingetreten in den weiten, dunkeln, unheimlichen Raum, nach mehrmaligem Stolpern über unsichtbare Stufen, durch die engen Zwischenräume zwischen den Bänken, über Hühneraugen und an kantigen Knieen vorbei, sich einen Weg bahnten zu ihren so eng bemessenen Sitzplätzchen, und nun Schulter an Schulter, Ellbogen an Ellbogen […]– „Ich hatte mir eingebildet, dieses Theater wäre der Inbegriff aller Bequemlichkeit!“ wagte ich halblaut gegen meine Nachbarin zur Linken, mit der ich gekommen war, zu bemerken.

Die Grenzboten 44/1 (1885). [DTA]

Und so gut bewahrt und äußerlich gesichert das Leben als solches in England ist, so wenig beneidenswert ist es in seinen Begegnungs-Einzelheiten für den, der sich nicht des Vorzugs erfreut, den oberen Zehntausend zuzugehören. Und welcher Fremde gehörte dazu? Kaum einer.

Fontane, Theodor: Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. Hrsg. von Walter Hettche und Gabriele Radecke. 2. Aufl. Berlin 1894, S. 45. (deutschestextarchiv.de)

Wenn aber erst die breiten Schichten des Publikums dahintergekommen sind, was „Chic“ ist, dann ist es für die obern Zehntausend die höchste Zeit, sich etwas neues auszudenken […], oder von den tonangebenden Geschäften vorschreiben zu lassen, und das geht dann wieder denselben Gang, indem es schnell oder langsam bis nach unten durchsickert, um durch das nächste Neue verdrängt zu werden.

Die Grenzboten 55/1 (1896). [DTA]

Gesellschaften, glänzende Diners und Soupers, elegante Toiletten, Reisen und was sonst noch alles zu dem Luxus der oberen Zehntausend gehört, schilderte sie Lotte in glühenden Farben.

Duncker, Dora: Großstadt. In: Deutsche Literatur von Frauen. Berlin 2001 [1900], S. 17691. [DWDS]

Ist man selber so glücklich, Eigentümer eines Automobils werden zu können, so freue man sich, etwas zu besitzen, was nur die oberen Zehntausend besitzen können […], man hüte sich aber, ein Unheil anzurichten und körperlich beschädigt zu werden, da man zwar bedauert würde, aber doch nur von solchen Freunden und Bekannten, die sich über die Existenz der Automobile ärgern und sich heimlich freuen, daß einmal wieder ein Exempel statuiert worden ist und einer dieser Fahrer einen tüchtigen Denkzettel erhalten hat.

Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. In: Werner Zillig (Hrsg.): Gutes Benehmen. Berlin 2004 [1902], S. 15732. [DWDS]

Der Schauplatz war die bekannteste und von den Europäern am meisten frequentirte Avenue Kairos, die Schariah Kamêl, unmittelbar vor dem berühmten Shepheards Hotel, das von den upper ten der internationalen Reisewelt bewohnt zu werden pflegt.

Berliner Tageblatt (Montags-Ausgabe), 10. 2. 1902, S. 3. [DWDS]

Die große Masse geht dem Verdienst nach, die obern Zehntausend trainieren sich für die Anstrengungen der Butterwoche.

Die Grenzboten 66/1 (1907). [DTA]

Der Wert des Wahlrechtes steht im umgekehrten Verhältnis zur Größe des Besitzes. Er ist am geringsten für die Frauen der oberen Zehntausend, er ist am größten für die Proletarierinnen.

Zetkin, Clara: Das Frauenstimmrecht. Berlin 1907, S. 42. (deutschestextarchiv.de)

Primitive Völker und Zeiten werden durch andere Primitive Völker und Zeiten werden durch andere Dinge belustigt und erheitert als hoch kultivierte, Kinder durch andere als Erwachsene, ein Publikum aus den unteren Volksklassen durch andere als die oberen Zehntausend.

Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München 1908, S. 218. (deutschestextarchiv.de)

Die Arbeiter darben nach wie vor, sie sind und bleiben nach wie vor die verachtete Klasse, sie arbeiten bloß für die oberen Zehntausend.

Friedländer, Hugo: Das Dynamit-Attentat bei der Enthüllungsfeier des Niederwald-Denkmals. In: Ders.: Interessante Kriminal-Prozesse. Berlin 2001 [1911], S. 1201. [DWDS]

Wo sollen aber die vielen Häuser, in die alle weiblichen Wesen hineingehören, herkommen? Die Männer können und wollen sie weder bauen noch ihren Unterhalt bestreiten. Das beweist die zunehmende Ehelosigkeit der oberen Zehntausend.

Ichenhaeuser, Eliza: Frauenziele. Aufgaben der Frauenbewegung. Berlin 1913, S. 26. (deutschestextarchiv.de)

Man weiß, was sich schickt, man ist upper ten schließlich.

Tucholsky, Kurt: Operetten. In: Werke – Briefe – Materialien. Berlin 2000 [1914], S. 687. [DWDS]

Doch so laut dröhnten die Feste der fröhlichen „upper ten", daß nur einige wenige [wie Oscar Wilde] das Knistern im Gebälk wahrzunehmen vermochten.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. 11. 1950.

Hier jedoch – wo sich vielleicht die „Crème de la Crème“, die „Upper ten“, die „Fivehundred“ ein Stelldichein geben – ist es häufig nicht mehr als ein lästiger Zwang, den durchaus nicht immer das Herz zu diktieren braucht, dem man vielmehr gehorcht, weil man im Brennpunkt der Öffentlichkeit steht oder sitzt und sich keinerlei Blößen geben darf.

Graudenz, Karlheinz/Erica Pappritz: Etikette neu. Berlin 1967 [1956], S. 23. [DWDS]

Die Öffentlichkeit kennt die Modeschöpfer von Paris und Berlin, aber kaum die großen Namen der Konfektion, die nicht nur die Upper Ten, sondern die Millionen Normalverbraucher kleiden.

Die Zeit, 19. 12. 1957, S. 13. [IDS]

Statt sich dem Golfsport zu widmen, werden diese Klubs zu smarten Rendezvous der oberen Zehntausend.

Die Zeit, 29. 5. 1964, Nr. 22. [DWDS] (zeit.de)

Ein Steuergeschenk für die oberen Zehntausend, sagt die SPD, und sie hat auf den ersten Blick recht.

Die Zeit, 3. 12. 1993, Nr. 49. [DWDS] (zeit.de)

Wer mit dem Lifestyle der oberen Zehntausend Werbung macht, stößt im Osten auf Unverständnis.

Berliner Zeitung, 2. 5. 1994. [DWDS]

Das Auto war ein Luxusprodukt für die Playboys der »upper ten« und hatte einen Status wie heute vielleicht ein Privatflugzeug.

Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt a. M.: Eichborn 1999, S. 369. [DWDS]

Die Opposition wolle über Einkommenssteuersenkungen und eine Herabsetzung der Kapitalzuwachssteuer vor allem die oberen Zehntausend entlasten, wetterte Clinton, das Gesetz bezeichnete er als „verantwortungslos“.

Berliner Zeitung, 29. 9. 1999. [DWDS]