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gutbürgerlich

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Bei der seit dem 18. Jahrhundert bezeugten Bildung gutbürgerlich echt bürgerlich, in für das Bürgertum typischer Weise handelt es sich um ein adjektivisches Kompositum, das an ältere Verwendungen von gut im Sinne von typisch oder echt anschließt. Gutbürgerlich bringt generell typische Verhaltensweisen und Repräsentationsformen des Bürgerlichen zum Ausdruck. Eine besondere Bedeutungsentwicklung hat sich in der Verbindung mit Substantiven wie Gastronomie, Essen oder Küche ergeben. Hier steht es für Speisen, die als traditionell zubereitet und gehaltvoll gelten.

Wortgeschichte

Wortbildung: Muster und historische Vorläufer

Bei gutbürgerlich echt bürgerlich, in für das Bürgertum typischer Weise handelt es sich um ein adjektivisches Kompositum, dessen Erstglied gut eine adverbiale Bestimmung zu bürgerlichWGd darstellt. Die hier vorliegende Wortbildung ist von ihrer Struktur her also mit Adjektiven wie schwerreich oder frühreif zu vergleichen (vgl. Fleischer/Barz 2012, 325, 1DWB 4, I, 6, 1350DWDS). Dem Kompositum geht die getrenntgeschriebene Wortfolge gut bürgerlich voraus, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bezeugt ist (1798). Die Getrenntschreibung ist mit dem Aufkommen von gutbürgerlich allerdings nicht verschwunden; vielmehr ist neben gutbürgerlich auch weiterhin gut bürgerlich belegt, ohne dass dies mit einem Bedeutungsunterschied einhergeht(vgl. etwa 1907, 1920 mit Getrenntschreibung).

Gutbürgerlich schließt an eine bestimmte Verwendung von gut an, die schon mindestens seit dem 17. Jahrhundert bezeugt ist (1609, s. auch 1DWB 4, I, 6, 1329DWDS). Die Bedeutung, die das adverbiale gut in der Verbindung mit einem Adjektiv trägt, lässt sich umschreiben als in typischer, vorbildlicher Weise und daher echt, unverfälscht. Hier zeigt gut das Vorliegen einer charakteristischen oder besonders positiven Ausprägung der betreffenden Eigenschaft an: Gut katholisch beispielsweise ist jemand, der in seiner Einstellung und seinem Betragen echt katholisch ist und daher den einschlägigen Ansprüchen an den Eigenschaftsträger vollauf genügt (vgl. auch die Verbindungen gut bairisch, gut berlinisch, 1DWB 4, I, 6, 1329DWDS). Mit gut bürgerlich echt bürgerlich direkt vergleichbare Verbindungen, die ebenfalls eine soziale Kategorie enthalten (denkbar wäre gut adlig), sind freilich nicht bezeugt. In dieser Hinsicht steht die Bildung somit für sich.1)

Selbstbewusst und spießig: Zum Bedeutungsspektrum

Gutbürgerlich bringt typische Verhaltensweisen und Repräsentationsformen des Bürgerlichen zum Ausdruck (vgl. etwa 1894, 1889). Da das Konzept des BürgersWGd allerdings sehr weit gefasst ist, weist die Bildung eine entsprechend große Bandbreite semantischer Schattierungen auf. So kann sich das Wort auf verschiedene positive wie negative Vorstellungen beziehen, die herkömmlicherweise mit der Figur des Bürgers assoziiert werden: so mit einer dem Bürgertum in Abgrenzung zum Adel und dem PöbelWGd zugesprochenen Sittsamkeit (1798, als Gegensatz zu pöbelhaftWGd) oder später dann auch mit Eigenschaften wie solide, geordnet, gediegen (1853, 1900, 1934, 1966, 1985, 2006). Gutbürgerlich kann dabei auch ins Enge und Spießige tendieren (1903; vgl. spießbürgerlichWGd). Im Laufe der Gebrauchsgeschichte scheinen sich die negativ aufgeladenen Zuschreibungen tendenziell eher verstärkt zu haben, während in den älteren Belegen ein positiver Blick überwiegt (vgl. auch die Belege 1822, 1863, 1907, die bürgerliches Standesbewusstsein akzentuieren). Offensichtlich von der jeweils sprechspezifischen Einstellung zum Bürgertum abhängig ist der Gebrauch in Verbindungen wie gutbürgerliches Haus, gutbürgerliche Herkunft u. ä., in denen auf bestimmte soziale Verhältnisse verwiesen wird, aus denen jemand stammt (1922, 1930, 1972, 1983, 2000, 2006). In diesem Fall wird meist auch auf den wohlhabenden, bessergestellten Teil des Bürgertums Bezug genommen.

Kohlroulade und Co.: die gutbürgerliche Küche

Einen deutlich erkennbaren Bedeutungswandel weist gutbürgerlich in der Verbindung mit Ausdrücken wie Essen, Küche oder Gastronomie auf (vgl. 1870, 1988). In solchen Zusammenhängen hat das Adjektiv eine sehr spezifische und in sich recht komplexe Bedeutung angenommen, die mit traditionell, einfach zubereitet und gleichzeitig gehaltvoll (von Speisen) umschrieben werden kann. Hier ist von einer metonymischen Übertragung auszugehen: Mit gutbürgerlichem Essen wird zunächst auf ein für bürgerliche Haushalte typisches Essen verwiesen, dem die eben genannten Eigenschaften zugeschrieben werden. Im Laufe des Bedeutungswandels verlagert sich der semantische Fokus dann von der sozialen Zuordnung auf Eigenschaften der Speisen selbst, so dass heute gutbürgerliches Essen nicht mehr nur in einem gutbürgerlichen Haushalt auf den Tisch kommen muss.

Anmerkungen

1) In 1DWB 4, I, 6, 1382 wird die Bildung allerdings auf eine andere Verwendung des Adjektivs gut zurückgeführt, nämlich auf gut im Sinne von wohlhabend (dazu In 1DWB 4, I, 6, 1267DWDS).

Literatur

1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)

Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.

Belegauswahl

Der Stendtmusterung zu Roß/ ist bereit zu Rochozan/ 2. meil von Pillsen geschehen/ vnd weilen selbige Stadt jederzeit/ gut Catholisch/ vnd Keys. geblieben/ […]auch in diesen auffstandt/ sich mit den Stenden nit vereinigen wollen/ also haben die Reuter der Stadt Vnterthanen/ mehr als andere beschwerdt/ vnd theils zu Todtgeschlagen.

Aviso. Relation oder Zeitung, 9. 8. 1609, A iii a [243]. (deutschestextarchiv.de)

Oder man liebt die Seele zuerst, und dann den Körper, aber den letztern mit allen Sinnen. Hält man sich nun hier in den Grenzen der Ehrbarkeit und der Mäßigung, so ist dieß eine gut bürgerliche Liebe: (amore civile.) Liebt man aber hauptsächlich den Körper, und die Seele nur beyher, so ist dieß eine gemeine pöbelhafte Liebe (amore volgare o plebejo.)

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils zweyte Abtheilung: Neuere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig 1798, S. 182. (deutschestextarchiv.de)

Unſere Pfarrer ſind Volkslehrer, nichts weiter, und eben ſo gut buͤrgerliche Beamte, wie die Schullehrer; dieſen iſt der Unterricht der Jugend, den Predigern der Religionsunterricht der ganzen Gemeinde anvertrauet.

Hundt-Radowsky, Hartwig: Die Judenschule, oder gründliche Anleitung, in kurzer Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden. Erstes Buch. Jerusalem 1822, S. 11. (deutschestextarchiv.de)

Sie macht ſich für Eva höchſt intereſſant dadurch, daß ſie Franzöſiſch ſprechen kann und viel von Paris zu erzählen weiß. Adam, mit welchem Eva gut bürgerlich um zwölf Uhr zu Mittag ſpeiſt, hat längere Zeit keine Ahnung von dieſer gefährlichen Bekanntſchaft, bis er ſie auf einer gemeinſchaftlichen Promenade mit ſeiner Frau zufällig entdeckt u. ſ. w.

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg 1853, S. 208. (deutschestextarchiv.de)

Die Masse der Beamten ist zu aufgeklärt und gutbürgerlich gesinnt, um im Herzen mit den Trägern der Reaction zu sympathisiren.

Die Grenzboten 22/1/1 (1863), S. 443. (deutschestextarchiv.de)

Von einem Brauch in Emden, nach welchem sich alte Leute ins „Gasthus“, d. h. ins Spital, in ein Armenverpflegungshaus, einkaufen, oder wohin unnütze Subjecte von ihren Angehörigen eingekauft werden. Solche Leute erhalten besonderes gut bürgerliches Essen und Trinken und sind von den eigentlichen Armen, die aus öffentlichen Mitteln unterhalten werden, getrennt.

Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. 2. Bd. Leipzig 1870, Sp. 1534. (deutschestextarchiv.de)

P. L. Courier feierte den Herzog als den einzigen nationalen und liberalen Prinzen von Geblüt. In weitere Kreiſe drang ſein Ruhm erſt, als er ſeine Söhne gut bürgerlich in einem Pariſer Lyceum unterrichten ließ.

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Vierter Theil: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig 1889, S. 19. (deutschestextarchiv.de)

„Meddelhammer war es nicht,“ fuhr Markauer fort. „Dazu war er doch zu klug. Er lachte nur und sagte: ‚Fünf Uhr ist spät, natürlich, und wenn wir zu Hause sind, so essen wir gut bürgerlich um zwei. Nur keine Neuerungen, wo sie nicht nötig sind.‘

Fontane, Theodor: Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. Berlin 1894, S. 150. (deutschestextarchiv.de)

Wenn er das vorher gewusst hätte, würde er, einstweilen wenigstens, einen Besuch in dieser geordneten, gut bürgerlichen Häuslichkeit vermieden haben.

Duncker, Dora: Großstadt. In: Deutsche Literatur von Frauen. Berlin 2001 [1900], S. 17667. [DWDS]

Das schien ihr alles so sinnlos, so gut bürgerlich und gänzlich unmodern – war nicht das, was sie wollte.

Reventlow, Franziska Gräfin zu: Ellen Olestjerne. In: Deutsche Literatur von Frauen. Berlin 2001 [1903], S. 61888. [DWDS]

Ich war aus einer guten bürgerlichen Familie; mein Vater war Beamter, hatte kein Vermögen außer seinem Gehalt, gab mir aber, nach den damaligen Begriffen, eine gute Erziehung und glaubte bestens für mich gesorgt zu haben, als er mir eine Offiziersstelle in der päpstlichen Armee unter Papst Gregor XVI. verschaffte.

Meysenbug, Malwida von: Der heilige Michael. In: Deutsche Literatur von Frauen. Berlin 2001 [1907], S. 50115. [DWDS]

Solange aber in allen Köpfen der Glaube wächst, Verbrecher in Uniformen seien keine, und das luderhafte Verhalten deutschnationaler Studenten sei der Erguß der freien Volksseele – solange Gesetze und Verfügungen des Entwaffnungskommissars und Verordnungen der Sicherheitsbehörden für gut bürgerlich gesinnte Skatpatrioten nicht gelten, solange ist der Jude vogelfrei.

Tucholsky, Kurt: Hepp hepp hurra! In: Ders.: Werke – Briefe – Materialien. Berlin 2000 [1920], S. 2084. [DWDS]

Sie stammte aus gutbürgerlichem Hause – ihre Vorfahren waren Kantoren und Ärzte gewesen, und eine ihrer Jugendfreundinnen, die auch ich noch besucht habe, die »Tante« Ulrike von Yorck, war eine Nichte des großen Generals.

Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. In: Oliver Simons (Hrsg.): Deutsche Autobiographien 1690–1930. Berlin 2004 [1922], S. 65969. [DWDS]

Ich bin von Geburt Niedersachse, Braunschweiger, von so reiner, gutbürgerlicher Herkunft, wie sich wenige andere rühmen oder wenigstens es nachweisen können.

Bode, Wilhelm von: Mein Leben. In: Oliver Simons (Hrsg.): Deutsche Autobiographien 1690–1930. Berlin 2004 [1930], S. 10237. [DWDS]

Sie gehörte hierher, in dieses gutbürgerliche Zimmer, diese geordnete Brautzeit.

Fallada, Hans: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Berlin u. a. 1990 [1934], Bd. 2, S. 86. [DWDS]

Beide waren bis dahin angesehene, gutbürgerliche Bankinstitute gewesen, solide wie die meisten bodenständigen Banken und allen geschäftlichen Abenteuern abhold.

Die Zeit, 2. 12. 1966, Nr. 49. [DWDS] (zeit.de)

Das autoritär erzogene Kind gutbürgerlicher Eltern sieht nur selten die Ursachen und Wurzeln des unbefriedigenden Verhältnisses zu seinen Eltern, fast nie kannes sich zu einer offenherzigen Aussprache durchringen.

Die Zeit, 15. 9. 1972, Nr. 37. [DWDS] (zeit.de)

Während sich der junge Page Cherubino, ein Popper-Knabe aus gutbürgerlichem Hause, seine pubertären Triebe von der Seele singt, fegt sie lustlos mit dem Besen durch die Behausung, und zwischen zwei Rezitativen steckt sie sich flott mal eine Zigarette ins lose Mundwerk.

Der Spiegel, 18. 7. 1983, S. 133. [DWDS]

Wieso kann infolge der Neuheit eines Rentnerdaseins eine gut eingelaufene, nicht extrem exquisite, sondern einfach eine gutbürgerliche zwei-rechts-zwei-links-gestrickte Ehe in Konfusion geraten?

Schröter, Heinz: Ich, der Rentnerkönig. Genf 1985, S. 64. [DWDS]

Verschwinden wird nach Ansicht des Hoteliers dagegen die sogenannte gutbürgerliche Gastronomie.

Die Zeit, 11. 11. 1988, Nr. 46. [DWDS] (zeit.de)

Aus dem sicheren Abstand gutbürgerlicher Verhältnisse betrachtet, stellt man sich vielleicht vor, dass Leute mit einem Stundenlohn zwischen sechs und zehn Dollar über die Jahre irgendwelche raffinierten Überlebensstrategien entwickeln.

Die Zeit, 27. 4. 2000, Nr. 18, S. 9. [DWDS]

Sein weißer Rollkragenpullover unter dem beigefarbenen Cordsacco läßt auf eher gediegene, gutbürgerliche Herkunft schließen.

Krausser, Helmut: Eros. Köln 2006, S. 102. [DWDS]