Wortgeschichte
Von Truppenbewegung
bis innere Bewegtheit
. Das Bedeutungsspektrum von Bewegung
Das Wort Bewegung, das sich bis zum althochdeutschen biwegunga zurückverfolgen lässt, hat über die Jahrhunderte ein breites Spektrum an Bedeutungen entwickelt (vgl. 2DWB 5, 97–102DWDS; daneben auch Pfeifer unter BewegungDWDS). Das Spektrum reicht von konkret-räumlichen Lesarten wie Veränderung einer Position, einer Stellung
(1676) bzw. Truppenbewegung
(1653) bis zu Gefühlsregung, Ergriffenheit, Rührung
(1531). Zudem hat das Wort über die Jahrhunderte Eingang in die verschiedensten disziplinären Zusammenhänge, wie unter anderem in die Physiologie (1759), Physik (1828), Soziologie (1930a) und nicht zuletzt in die Linguistik (2005) gefunden (vgl. auch den Artikel Bewegung des Wikis zur interdisziplinären Begriffsgeschichte des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin).
Semantische Wegbereiter der politisch-sozialen Bedeutungslinie von Bewegung
Ist Bewegung also ein recht altes Wort, ist seine im engeren Sinn politisch-soziale Bedeutung Bestreben einer (organisierten) gesellschaftlichen Gruppierung, gemeinsam bestimmte (politische, soziale und dergleichen) Ziele zu erreichen; auch die Gruppe selbst
erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts anzusetzen und damit deutlich jüngeren Datums. Gleichwohl gibt es ältere Bedeutungen, die jene semantische Entwicklung des 19. Jahrhunderts vorbereiten. So ist Bewegung dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch zufolge mit der Bedeutung individuelle Aufsässigkeit, Widerborstigkeit; politisch-gesellschaftliche Bewegung, Parteibildung gegen etw.
bereits im 14. Jahrhundert bezeugt (vgl. FWB-online unter bewegung). Die Wortverbindung bürgerliche Bewegung als Synonym für Aufruhr
ist spätestens seit dem 17. Jahrhundert bezeugt (1663). Erstmals lexikographisch gebucht wird die im weiteren Sinn soziale Lesart von Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und zwar sowohl bei Adelung (2Adelung 1, 967) als auch bei Campe (Campe Wörterbuch 1, 517), bei beiden in etwa übereinstimmend mit der Bedeutung Unruhe, Aufruhr, Auflauf
. Noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hat Bewegung seine heutige semantische Kontur nicht endgültig erhalten. In den 1830er Jahren tritt Bewegung dann besonders in der politischen Publizistik auf und kann zu dieser Zeit auch mit Bezug auf die Pariser Julirevolution von 1830 und deren Folgeereignisse verwendet werden (1832, 1843, vgl. HWPh 1, 880).
Ausbildung der Lesart Bestreben einer gesellschaftlichen Gruppierung, um gemeinsam bestimmte Ziele zu erreichen
im 19. Jahrhundert
Für die Beschreibung der Ausbildung der politisch-sozialen Lesart von Bewegung Bestreben einer gesellschaftlichen Gruppierung, um gemeinsam bestimmte Ziele zu erreichen
im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufschlussreich ist zudem eine Beobachtung des Auftretens und der semantischen Transformation der beiden Wortverbindungen politische Bewegung und soziale Bewegung im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Politische Bewegung ist als Kollokation bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bezeugt (1809). Soziale Bewegung – das als Verbindung seine Ursprünge wohl in Frankreich im 18. Jahrhundert hat (vgl. EdN unter Soziale Bewegungen, religiöse) – tritt im Deutschen spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf (1834a; 1840c; 1849d).
Beide Verbindungen zeigen in den frühen Belegen allerdings noch eine andere semantische Kontur als gegenwärtig. Sie werden – wie Bewegung selbst – erst im Laufe des 19. Jahrhunderts im heutigen Sinn gebraucht (1840a, 1848a, 1874, 1914). Das Historische Wörterbuch der Philosophie setzt die gegenwärtige Bedeutung von politische Bewegung, in der Bewegung in der politisch-sozialen Lesart verwendet wird, ab ungefähr 1845 an (vgl. HWPh 1, 881). Auch der erste unzweideutige Beleg der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs für Bewegung in der Lesart Bestreben einer (organisierten) gesellschaftlichen Gruppierung, gemeinsam bestimmte (politische, soziale u. dgl.) Ziele zu erreichen; auch die Gruppe selbst
fällt mit 1846 in diesen Zeitraum (vgl. 2DWB 5, 97–102DWDS). Darüber hinaus spricht für eine Ansetzung der politisch-sozialen Bedeutung von Bewegung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass zu dieser Zeit erste Abhandlungen zu sozialen Bewegungen in unserem heutigen Verständnis entstehen, so etwa Lorenz von Steins Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850). Damit kann die politisch-soziale Lesart ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als lexikalisiert gelten.
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Die Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs setzt die Bedeutung Bestreben einer (organisierten) gesellschaftlichen Gruppierung, gemeinsam bestimmte (politische, soziale und dergleichen) Ziele zu erreichen; auch die Gruppe selbst
allerdings bereits ab der Mitte des 18. Jahrhunderts an, genauer mit einem ersten Beleg aus dem Jahr 1768: die absicht des bundschuhes und andrer nicht undeutlich bezeichneter bewegungen
(2DWB, 5, 97). Gerade dieser Beleg, der auf die Bundschuh-Bewegung und also eine Reihe von Bauernaufständen (sic!) in Südwestdeutschland an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert referiert, verdeutlicht allerdings gerade die fließenden Grenzen zur im Deutschen Wörterbuch ab dem 15. Jahrhundert gebuchten Bedeutung Aufruhr, Krieg
(vgl. 2DWB, 5, 97).
Von Volksbewegung bis Umweltbewegung. Komposita im Wandel der Zeit
Soziale Bewegungen gab und gibt es zahlreiche: Das Spektrum reicht von der Arbeiterbewegung – während des 19. Jahrhunderts wohl die soziale Bewegung schlechthin und zu dieser Zeit auch schlicht als die Bewegung bezeichnet (1873a; vgl. auch Schmitz-Berning 2000, 100) – über Turn- und Sportbewegung, Frauen-, Jugend- und Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende bis hin zur UmweltbewegungWGd der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Reformationsbewegung gibt es verhältnismäßig früh (1839) auch eine Bildung, die sich nicht auf eine zeitgenössische soziale Bewegung bezieht, sondern als historische Beschreibungskategorie genutzt wird.
Es ist mit Blick auf die Ausbildung der semantischen Kontur der politisch-sozialen Bedeutung von Bewegung selbst aufschlussreich, zu beobachten, wann welche Komposita mit Bewegung als Grundwort auftreten. Allgemein lassen sich Komposita mit Bewegung bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen (1648). Die Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs vermerkt zudem, dass Zusammensetzungen mit Bewegung als Erstglied ebenfalls ab dem 17. Jahrhundert anzusetzen sind. Das erste Kompositum mit Bewegung als Grundwort und in der Bedeutung politisch-soziale Bestrebung
ist im Deutschen Textarchiv hingegen erst mit Volksbewegung Ende des 18. Jahrhunderts nachweisbar (1791). Volksbewegung steht seinerseits in einer Bedeutungslinie mit der älteren Wortverbindung bürgerliche Bewegung, Aufruhr
.
Nur wenig nach Volksbewegung entsteht Reformbewegung, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders auch in Bezug auf politische Zusammenhänge auftritt (1834b, 1837). Ab den 1840er Jahren und insbesondere um 1848/49 sind dann eine ganze Reihe von Komposita bezeugt, die teilweise einen sehr konkreten Bezug auf bestimmte politische Bewegungen aufweisen, so beispielsweise Chartistenbewegung (1840b), Wahlbewegung (1845), Freiheitsbewegung (1848c), Märzbewegung (1849c), Mai- und Junibewegung (1848b), Einheitsbewegung (1849a) oder Fortschrittsbewegung (1849b). Diese Komposita haben mehrheitlich wohl den Status von Spontanbildungen.
Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der sie begleitenden sozialen Frage entstehen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch Komposita, die nicht nur im engeren Sinn auf politische, sondern im weiteren Sinn auf soziale und gesamtgesellschaftliche Veränderung abzielen. Auf eine übergreifende, gesamtgesellschaftliche Veränderung zielt insbesondere die sogenannte Lebensreformbewegung ab (1908). Weitere Beispiele für die Vielzahl vergleichbarer Bestrebungen sind: Genossenschaftsbewegung (1870), Frauenbewegung (1873b), Temperenzbewegung (1892), Abstinenzbewegung (1898), Naturheilbewegung (1904), Emanzipationsbewegung (1901), Waldschutzbewegung (1909), Freilandbewegung (1913). Einige dieser Komposita haben sich bis in die Gegenwart erhalten (2013, 2016, 2017).
Über die Beobachtung der Zusammensetzungen, die Bewegung im Laufe des 19. Jahrhunderts ausbildet, wird so zugleich sichtbar, wie sich die Semantik des hier einschlägigen Wortgebrauchs von Bewegung in der Bedeutungslinie Bestreben einer gesellschaftlichen Gruppierung, um gemeinsam bestimmte Ziele zu erreichen
sukzessive von politische Bestrebung
auf politisch-soziale Bestrebung
erweitert: Ist Bewegung in der ersten Hälfte und der Mitte des 19. Jahrhunderts noch dominant politisch konnotiert, erweitert sich die Bedeutung des Wortes ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere an der Wende zum 20. Jahrhundert auf den gesamtgesellschaftlichen Bereich.
Nationalsozialistische Wortbesetzung im 20. Jahrhundert
Ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wird Bewegung zunehmend durch die Nationalsozialisten besetzt (1924). Hitler verwendet Bewegung in Mein Kampf sowohl als Selbstbezeichnung der NSDAP als auch für die Konkurrenten (1925a, 1925b) und auch der Völkische Beobachter gebraucht das Wort vor der Übernahme durch die Nationalsozialisten noch recht allgemein für alle antisemitischen und rechtsradikalen Gruppen (vgl. Schmitz-Berning 2000, 100–101). In der Nachfolge verengt sich Bewegung bzw. nun die Bewegung sukzessive auf die Bedeutung der Nationalsozialismus, die NSDAP
(vgl. Schmitz-Berning 2000, 100–101). Daneben tritt Hitlerbewegung als neues Kompositum auf (1930b), das ebenfalls gleichermaßen für Nationalsozialismus wie für die nationalsozialistische Partei steht (1931).
Von Anti-Atomkraft- bis Bürgerinitiativbewegung. Neue soziale Bewegung im ausgehenden 20. Jahrhundert
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsteht eine Vielzahl neuer sozialer Bewegungen, von der Studentenbewegung über die Neue Friedensbewegung und die Bürgerinitiativbewegung bis hin zur Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung. Sie werden nun unter der Wortverbindung neue soziale Bewegung(en) (1982a) zusammengefasst. Die Ausbildung dieser Verbindung ist gleichermaßen als Anschluss an wie Abgrenzung zu den großen sozialen Bewegungen zu verstehen. So wird hier zum einen auf ältere unter soziale Bewegungen zusammengefasste Bewegungen insbesondere des 19. Jahrhunderts wie Arbeiter- oder Frauenbewegung Bezug genommen. Zum anderen findet über das Adjektiv neu eine Abgrenzung von den älteren Bewegungen statt insofern neue soziale Bewegung nunmehr auf die grundlegend anders gelagerten Probleme der eigenen Zeit ausgerichtet ist. Als feste Wortverbindung mit der Bedeutung Alternativbewegung(en)
tritt neue soziale Bewegung erstmals Anfang der 1980er Jahre auf, zunächst über Anführungszeichen noch als neue Wortverbindung markiert (1982b, 1982c, 1987, 1999). Die Verbindung begegnet überwiegend, jedoch nicht ausschließlich pluralisch (1982a).
Literatur
2Adelung Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, 2. vermehrte und verbesserte Ausg. Bd. 1–4. 2. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1793–1801. Hildesheim u. a. 1990. (woerterbuchnetz.de)
Campe Wörterbuch Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der deutschen Sprache. Theil [Bd.] 1–5. Braunschweig 1807–1811.
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
FWB-online Frühneuhochdeutsches Wörterbuch/FWB-online. Hrsg. von Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann, Oskar Reichmann. 2017 ff. (fwb-online.de)
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Schmitz-Berning 2000 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 2000 [Nachdruck der Ausg. Berlin/New York 1998].