Wortgeschichte
Gesellschaftliche Ordnung
in der Frühen Neuzeit
Das Substantiv Gesellschaftsordnung, ein Kompositum aus den beiden deutlich älteren Wörtern Gesellschaft und Ordnung, begegnet im Deutschen gelegentlich bereits im 17. Jahrhundert (1675). Es ist damit älter als von der Forschung bislang wahrgenommen: Pfeifer etwa setzt es mit der Bedeutungsangabe Struktur und Gliederung der in gleichartigen ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen lebenden Menschen auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe
erst für das 19. Jahrhundert an (vgl. Pfeifer unter GesellschaftsordnungDWDS), und auch das 1DWB bucht das Kompositum ausschließlich mit der auf das Abstraktum Gesellschaft bezogenen Bedeutung die sociale einrichtung der menschlichen gesellschaft
(1DWB 5, 4066).
In den frühen Bezeugungen wird Gesellschaftsordnung in Bezug auf Vereinigungen oder Zusammenschlüsse von Menschen mit gemeinsamen Zielen oder Interessen, hier insbesondere die Fruchtbringende Gesellschaft
, verwendet (1647, 1675).
Gesellschaftsordnung bezieht sich hier wohl auf die vereinigungsspezifische gesellschaftliche
Rangordnung bei Treffen, die von der gesamtgesellschaftlich geltenden Standes- bzw. Rangordnung bis zu einem gewissen Grad abweicht (vgl. zu Organisation und Kommunikation der ersten deutschen Akademie Fruchtbringende Gesellschaft Briefe). Gesellschaftsordnung bedeutet hier also zunächst innere gesellschaftliche Struktur einer Vereinigung, eines Zusammenschlusses von Menschen mit gemeinsamen Zielen, Ansichten oder Interessen
. Inwieweit das Wort allerdings als allgemein lexikalisiert gelten kann, ist angesichts der dünnen Quellenlage an dieser Stelle schwer zu entscheiden.
(Rechtliche) Statuten einer Vereinigung
Auch in späteren Jahrhunderten begegnen Verwendungen von Gesellschaftsordnung in Bezug auf Vereinigungen von Menschen mit gemeinsamen Interessen (1843). Dabei bezeichnet das Wort nunmehr mindestens teilweise auch die (rechtlichen) Statuten solcher Zusammenschlüsse im engeren Sinn (1856). Diese juristische Verwendung ist neu: Zwar hatte auch die Fruchtbringende Gesellschaft
in Form verschiedener Absichtserklärungen bereits eine Vorform der Statuten, eine im engeren Sinn rechtliche Bindung hatten diese aber nicht.
Gegenüber der heute dominanten auf die Gesellschaft als ganze bezogenen Lesart bleiben die Lesarten innere gesellschaftliche Struktur, Rangordnung einer Vereinigung, eines Zusammenschlusses von Menschen mit gemeinsamen Zielen oder Interessen
und (rechtliche) Statuten einer Vereinigung, eines Zusammenschlusses von Menschen mit gemeinsamen Zielen oder Interessen
insgesamt wenig verbreitet.
Gesellschaftsordnung und das Abstraktum Gesellschaft
Seine heute geläufige Bedeutung erhält Gesellschaftsordnung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Das Wort begegnet nunmehr in Bezug auf die Gesellschaft als Ganze und trägt die Bedeutung Struktur, innere Ordnung der Gesamtheit von Menschen, die zusammen unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen leben
(1780b, 1793). Das ist kein Zufall: Auch das Substantiv Gesellschaft bildet erst zu dieser Zeit die Bedeutung Gesamtheit der Menschen, die zusammen unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen leben; Gesamtheit der sozialen Strukturen, Beziehungsgefüge und sozialen Teilbereiche
aus, die ihrerseits ein Abstraktum ist. Es ist also anzunehmen, dass ein Zusammenhang zwischen der Bedeutungserweiterung von Gesellschaft und der Etablierung von Gesellschaftsordnung in der Bedeutung Struktur, innere Ordnung der Gesamtheit von Menschen, die zusammen unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen leben
besteht. Frühe Belege lassen darüber hinaus vermuten, dass die Bedeutungserweiterung auch unter Einfluss des Französischen zu verstehen ist, jedenfalls begegnet Gesellschaftsordnung in dieser neuen Lesart zunächst in Übersetzungen aus dem Französischen (1770, 1780a; es handelt sich hier um eine Übersetzung des 1777 publizierten De l’ordre social, ouvrage suivi d’un traité élémentaire sur la valeur, l’argent, la circulation, l’industrie & le commerce intérieure & extérieur).
In der Lesart Struktur, innere Ordnung der Gesamtheit von Menschen, die zusammen unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen leben
begegnet das Wort bis in die Gegenwart (1867, 1912, 1960b, 1980a, 2002).
Gesellschaftsordnung und Staatsordnung. Semantische Überschneidungen, semantische Abgrenzung
In der Lesart Struktur, innere Ordnung der Gesamtheit von Menschen, die zusammen unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen leben
verbinden sich mit dem Wort Gesellschaftsordnung neben Vorstellungen von bestimmten Normen (1946, 2000a) vor allem Vorstellungen einer wie auch immer gearteten inneren sozialen Struktur der Gesellschaft (1900, 1923, 2000b) sowie der wirtschaftlichen (1952, 1980b) und politischen Verfasstheit (1945, 1960a). Hier sind zugleich semantische Überschneidungen sowie die Abgrenzung zu Staatsordnung anzusetzen.
Staatsordnung, seinerseits ein Kompositum aus Staat und Ordnung, ist mindestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts belegt (1652) und wird 1691 bereits mit der Bedeutungsangabe ordinatio politica
in Kaspar von Stielers Wörterbuch Der Teutschen Sprache Stammbaum aufgenommen (vgl. Stieler 1399). Die Bedeutung des Wortes hebt, insofern die Bezugsgröße hier der Staat ist, stärker als Gesellschaftsordnung auf die politischen, rechtlichen und verwaltungstechnischen Grundlagen und Strukturen eines politischen Gemeinwesens ab (1652, 1797, 1835, 1848, 1897, 1948, 2001). Das 1DWB bucht Staatsordnung entsprechend mit der Bedeutung geregelte Einrichtung eines Staates
(1DWB 17, 314). Gesellschaftsordnung und Staatsordnung sind damit zwar nicht synonym, gleichwohl aber durchaus eng aufeinander bezogen (1887) und begegnen häufiger auch gemeinsam (1865, 1960c).
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
Fruchtbringende Gesellschaft Briefe Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe I: Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen. Hrsg. von Klaus Conermann. Bd. 1–9. Tübingen u. a. 1992–2019. (hab.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Stieler Stieler, Kaspar von: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz/ Worinnen alle und iede teutsche Wurzeln oder Stammwörter/ so viel deren annoch bekant und ietzo im Gebrauch seyn/ nebst ihrer Ankunft/ abgeleiteten/ duppelungen/ und vornemsten Redarten/ mit guter lateinischen Tolmetschung und kunstgegründeten Anmerkungen befindlich. […] Nürnberg 1691. (mdz-nbn-resolving.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Gesellschaftsordnung, Staatsordnung.