Wortgeschichte
Zur Metaphorik: Institutionen als Gebäude
Das in der Verbindung Stütze(n) der Gesellschaft enthaltene sprachliche Bild findet sich bereits in deutschen Texten der Frühen Neuzeit: So ist etwa 1538 von zwei Helden als Stützen des Reichs die Rede, im 17. Jahrhundert können verdiente Persönlichkeiten oder auch ein Abstraktum wie die Lehre der Weisheit als Stützen von Staat und Kirche genannt sein (vgl. 1642, 1692). Der entsprechenden Person bzw. Eigenschaft wird hier eine zentrale, gewissermaßen tragende
Rolle innerhalb der Institution zugesprochen (weitere Beispiele für diese Art der Metapher s. unter 1DWB 10, 4, 748).
Das Bild einer Person oder einer positiven Eigenschaft, die eine Institution stützt
oder trägt
, setzt ein anderes, grundlegenderes Bild voraus, nämlich das einer Institution als Gebäude. Eine solche Bildbeziehung liegt auch zahlreichen weiteren Äußerungen zugrunde. So kann man vom Fundament des Staates (2DWB 9, 1257), einer Säule der Kirche (1642) oder auch von einem Pfeiler der Gesellschaft (1902) sprechen bzw. gibt es Verbindungen wie einen Staat aufbauen oder zum Einsturz bringen.
Nur vor dem Hintergrund dieser traditionsreichen metaphorischen Gleichsetzung von Institutionen und Gebäuden ist dieser übertragene Gebrauch von Stütze interpretierbar. Diesem Wortgebrauch liegt somit ein Gefüge von zwei Metaphern zugrunde: Eine Person (oder Eigenschaft) wird mit der Stütze in einem Gebäude metaphorisch gleichgesetzt, gleichzeitig steht das Gebäude bildlich für die Institution, in der die betreffende Person bzw. Eigenschaft eine wichtige Rolle spielt.
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Die Metapher des Stützens ist auch noch in anderen Spielarten zu finden, so etwa in Äußerungen des Typs Er war mir eine große Stütze im Sinne von Er war mir eine große Hilfe
. Hier liegt freilich im Detail ein anderes Bild vor, nämlich das einer gebrechlichen Person, die sich auf einen Gegenstand aufstützt und sich dadurch aufrecht fortbewegen kann. (Nach 1DWB 10, 4, 748 ist die Grundlage im Bild eines abgestützten Baumes zu suchen.)
Von den Institutionen zur Gesellschaft als Ganzer
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist dann in den einschlägigen Verbindungen mit Stütze nicht nur von Kirche, Staat und Reich die Rede, sondern erstmals auch vom Gemeinwesen. Damit gerät neben einzelnen Institutionen das Ganze einer Gesellschaft in den Fokus dieser Verbindung. So ist in den historischen Belegen von einer Stütze des gemeinen Wesens (1751, 1754) die Rede, und seit 1779 wird dann auch ausdrücklich die Verbindung Stützen der menschlichen Gesellschaft verwendet (vgl. auch 1785). Subjekte sind hier sowohl Personen (ein Gelehrter im Beleg 1751) als auch abstrakte Eigenschaften (etwa Wahrheit und Gerechtigkeit im Beleg 1754). Die Bedeutung der Fügung lässt sich hier somit umschreiben als: Institution, Person oder Tugend, die zum Wohl der Gesellschaft beiträgt
.
Ibsen und die Folgen
Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Verbindung (die) Stütze(n) der Gesellschaft offenbar bereits etabliert (vgl. 1844, 1846, 1874). Für die weitere Entwicklung ist allerdings ein literarisches Werk maßgeblich, nämlich Henrik Ibsens auch im deutschsprachigen Raum breit rezipiertes Gesellschaftsdrama Stützen der Gesellschaft
(im norwegischen Original Samfundets støtter
, zuerst erschienen 1877, deutsch 1878).
Der Titel nimmt Bezug auf die Hauptfigur des Stücks, einen gewissen Konsul Bernick, der zusammen mit seinen Geschäftsfreunden in einem kleinen norwegischen Küstenstädtchen wegen seiner allseits geachteten moralischen Integrität und Sorge für die öffentliche Wohlfahrt als Stütze der Gesellschaft gilt
(Kindler 8, 52). Da das Stück die Doppelmoral und Heuchelei dieser Stützen der Gesellschaft vorführt, kann die Verbindung nur ironisch verstanden werden: Die Figuren der gesellschaftlichen Oberschicht, die dort agieren, mögen in der gesellschaftlichen Hierarchie zwar weit oben stehen, moralisch integer sind sie jedoch nicht, und sie haben auch keine Vorbildfunktion im Sinne einer wirklichen Stütze des Gemeinwesens.
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Sprachgeschichtlich interessant ist die Frage, woher der norwegische Titel Samfundets støtter
stammt. Nicht auszuschließen ist, dass es sich um eine Lehnübersetzung aus dem Deutschen handelt. Jedenfalls ist das deutsche Stützen der Gesellschaft in den 1870er Jahren bereits etabliert. Die Übersetzung des Stücktitels ins Deutsche wäre damit als Rückentlehnung zu betrachten. Hier können freilich nur genauere Einblicke in das Norwegische des 19. Jahrhunderts zu einer Klärung führen.
Der Titel von Ibsens Theaterstück wird rasch Teil des kulturellen Gedächtnisses und übt naheliegenderweise auch einen deutlichen Einfluss auf die Bedeutung der Verbindung aus. Vor allem ab den 1890er Jahren wird hier ein semantischer Wandel greifbar: Der Ausdruck erfährt eine Bedeutungsverschlechterung: Als Stützen der Gesellschaft sind nunmehr Personen mit hohem gesellschaftlichen Ansehen, die gleichwohl nicht integer sind
zu verstehen. Wesentliches semantisches Merkmal ist hier somit ein Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Stellung und dem dieser Stellung nicht gemäßen Verhalten der so Bezeichneten. Dem Ausdruck ist neben einer gesellschaftskritischen Akzentuierung durchaus auch eine ironische Facette zuzusprechen: Es ist zwar von Stützen die Rede, aber in Wirklichkeit ist eher das Gegenteil der Fall. Aus diesem Grund, und sicherlich auch um den Charakter des literarischen Zitats kenntlich zu machen, steht die Verbindung gelegentlich auch in Anführungszeichen (zu den hier genannten Befunden vgl. etwa die Belege von 1896, 1899, 1900, 1909, 1913).
Ein Gemälde und seine wortgeschichtliche Rolle
Stützen der Gesellschaft ist auch der Titel eines bekannten Bildes von George Grosz (1926), in dem drei Typen von Honoratioren aus der Zeit der Weimarer Republik – ein Jurist bzw. Corpsstudent, ein SPD-Abgeordneter und ein Journalist – auf drastische und geradezu vernichtende Weise karikiert werden. Der für die Bedeutung des Ausdrucks kennzeichnende Gegensatz von gesellschaftlicher Position und inneren Eigenschaften wird in dem Gemälde überdeutlich vorgeführt. Da auch dieses Bild spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses ist und heute sogar bekannter sein dürfte als Ibsens Theaterstück, kann darin eine nicht unwesentliche Grundlage für den kritisch-ironischen Gebrauch der Verbindung gesehen werden. Dieser ist jedenfalls bis in die jüngere Zeit geläufig (vgl. 1965, 1998). Dabei treten teils auch mildere
Verwendungen in Erscheinung, die kein betont gesellschaftskritisches Moment enthalten, sondern allenfalls mit leisem ironischen Unterton die gesellschaftliche Oberschicht
bezeichnen (vgl. 1961, 1970, 2000, 2018).
Ab- und Aufwertung: Eine wortgeschichtliche Kuriosität
Festzuhalten ist aber auch, dass die nicht-ironische und nicht-kritische Lesart des Ausdrucks, die auf der metaphorischen Gleichsetzung von Institutionen mit Gebäuden beruht, sich bis in die Gegenwart gehalten hat (vgl. auch Stützen der GesellschaftDWDS). Reminiszenzen an Ibsen oder Grosz sind bei diesen teils deutlich wertschätzenden Wortverwendungen offenbar nicht vorauszusetzen (vgl. 1920, 2020). Somit ist die Geschichte dieses Ausdrucks insgesamt durch das Nebeneinander einer stark abwertenden sowie einer dezidiert positiven, aufwertenden Lesart gekennzeichnet, was durchaus als lexikalische Besonderheit dieser Verbindung gelten kann.
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
Kindler Kindlers Literatur-Lexikon. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. 3., völlig neu bearbeitete Ausgabe. Bd. 8. Stuttgart 2009. (springer.com)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Stütze der Gesellschaft.