Wortfeld
Von Lebensart bis Lifestyle. Fast 400 Jahre des Redens über Lebensformen
Seit jeher sprechen Menschen über unterschiedliche Arten, zu leben und Leben zu gestalten: Schon in der Antike war der Begriff der Ars Vivendi in Gebrauch. Die deutsche Sprache kennt mehr als ein Wort hierfür: Von Lebenswandel über Lebensart und Lebenskunst, von Lebensweise und Lebensführung bis hin zu Lebensstil oder jüngst Lifestyle reicht das Spektrum. Welches Wort im je konkreten Einzelfall für Lebensform, Art und Weise der Lebensgestaltung
verwendet wird, welche Bedeutungsaspekte mit dem gewählten Wort verbunden sind und wie dieser Sachverhalt selbst aufgefasst wird, wandelt sich über die Jahrhunderte und vor dem Hintergrund sach- und wissenshistorischer Umbrüche jedoch grundlegend.
Lebensart. Eines der ältesten deutschen Wörter für Art und Weise der Lebensgestaltung
Eines der ältesten deutschen Wörter, mit denen die Art und Weise der Lebensführung
bezeichnet wird, ist LebensartWGd – der DTA-Erstbeleg datiert auf 1656 (vgl. Beleg 1656). Vor 1750 hat Lebensart überwiegend keine individuellen Bedeutungsaspekte, insofern die Art und Weise der Lebensführung auf ein übergeordnetes Bezugssystem wie Religion, Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht und/oder Berufsgruppe oder ähnliches bezogen ist (1656, 1706, 1740, 1756). Dafür spricht nicht zuletzt auch Kaspar Stielers Buchung von Lebensart im Artikel Art mit der Bedeutung ratio vitae, norma vivendi
(Stieler, 59).
Zwar geht die Wortprägung auf das 17. Jahrhundert zurück, vor allem während des 18. Jahrhunderts und insbesondere während des Zeitalters der Aufklärung hat das Wort jedoch Konjunktur. Während dieser Zeit verschiebt sich das Bezugssystem einer richtigen
Lebensart von Religion und gesellschaftlicher Schicht hin zu Tugend, Moral und Sittlichkeit (1747). Darüber hinaus kann sich Lebensart seit Beginn des 18. Jahrhunderts auch auf die Lebensführung eines ganzen Volkes oder einer Kulturgemeinschaft beziehen (1707). Schließlich bildet sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts sukzessive die neue Bedeutung Kunst des guten Lebens
(1778) aus, vermutlich vorbereitet über die Wortverbindung feine Lebensart (1753). Mit dem Ende der Aufklärung nimmt die Bezeugungsfrequenz von Lebensart signifikant ab, um seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf einem deutlich niedrigeren, seither aber stabilen Niveau zu bleiben.
Lebensweise, Lebensführung. Wortneuschöpfungen um 1800
Zeitgleich treten mit LebensweiseWGd und LebensführungWGd zwei neue Wörter neben das ältere Lebensart. Sowohl Lebensweise als auch Lebensführung sind erstmals um 1800 bezeugt, beide mit DTA-Erstbeleg bei Johann Gottfried Herder (1784, 1797). Lebensweise, das Lebensart hinsichtlich der Verwendungshäufigkeit im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ablöst, wird zunächst synonym zum älteren Lebensart verwendet, wie etwa der Wechsel der Kollokation von sitzender Lebensart zu sitzender Lebensweise verdeutlicht (1745, 1820). Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist Lebensweise mit der Bedeutung typische Lebensform von Tieren oder Pflanzen
Teil der naturwissenschaftlichen Fachterminologie (1851).
Die weitere semantische Entwicklung beider Wörter hängt eng mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne zusammen. So wird Lebensführung in der weiteren Bedeutungsentwicklung im 19. Jahrhundert zunehmend von übergeordneten Bezugssystemen abgekoppelt und auf die individuelle Lebensgestaltung bezogen (1823, 1847, 1883); es erhält mithin die Bedeutung der Art, wie jemand sein Leben gestaltet
. Voraussetzung für diese semantische Entwicklung ist der tiefgreifende gesellschaftliche Umbauprozess um 1800 und die damit verbundene Pluralisierung der Lebensformen. Ebenfalls vor diesem Hintergrund ist die Ausbildung einer ganzen Reihe an Kollokationen seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu verstehen, deren Spektrum von naturgemäße Lebensweise im Kontext der Lebensreformbewegung (1885) über sozialistische Lebensweise (1981) bis hin zu nachhaltige Lebensweise (2003) im ausgehenden 20. Jahrhundert reicht und die je individuelle Formen der Lebensgestaltung adressieren.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert entsteht mit der deutschsprachigen Soziologie auch die Wissenschaft von der (modernen) Gesellschaft, die eben dieselbe beobachtet und beschreibt. In Gemeinschaft und Gesellschaft führt Ferdinand Tönnies, einer der Gründerväter der deutschsprachigen Soziologie, Lebensweise in die Fachsprache der Soziologie ein (1887).
Lebensstil. Ein Wort der Soziologie
Ebenfalls im Kontext der entstehenden Soziologie als Wissenschaft von der (modernen) Gesellschaft kommt es um 1900 zu einer neuerlichen Wortneuschöpfung: LebensstilWGd wird als Terminus in der soziologischen Fachsprache geprägt. Der Ausdruck Styl des Lebens
begegnet bei Friedrich Schleiermacher zwar bereits 1835, doch scheint es sich hier um eine ad-hoc-Bildung zu handeln (1835). Es ist wohl Georg Simmel, der Lebensstil zuerst verwendet, so bereits 1890 in Über sociale Differenzierung (1890) sowie zehn Jahre später in Philosophie des Geldes (1900). Damit kann Lebensstil als eingeführt in die Fachsprache gelten. Neben Simmel gilt Max Weber als einer derjenigen frühen deutschsprachigen Soziologen, die das Wort Lebensstil in die Fachsprache eingebracht haben (vgl. etwa Saurer in EdN unter Lebensstile und Brachfeld in HWPh 5, 147). Ausgehend von der Soziologie findet Lebensstil in der Nachfolge auch allgemeinsprachlich Verwendung (1923, 1924).
Von der Soziologie ausgehend wird das Wort Lebensstil wohl von Alfred Adler in den 1920er Jahren die Individualpsychologie eingeführt (1926). Adlers Verwendung in der Vorrede zum Handbuch der Individualpsychologie hebt gerade auf den individuellen Lebensstil[]
ab: Lebensstil ist hier eine individuelle Angelegenheit, die auf das engste mit dem Seelischen verbunden ist. Eine derartige Verknüpfung von individueller Lebensführung und Seelischem
kann wissenshistorisch nun erst in dem Moment entstehen, in dem ein neues Menschenbild aufkommt, in dem das Unbewusste entdeckt wird (vgl. ähnlich Ansbacher 1967, 209).
Von Lebensstil zu Lifestyle. Übersetzung, Übertragung, (Rück-)Entlehnung
Zu den jüngeren Wortprägungen für Formen der Lebensgestaltung gehört LifestyleWGd. Im Englischen entsteht das Wort wohl ursprünglich in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts und vermutlich als Übersetzung von Alfred Adlers Lebensstil und Max Webers Lebensführung (sic!). In der veränderten ökonomischen Situation der 1960er Jahre wird das englische lifestyle von der neu entstehenden Werbe- und Konsumforschung verwendet (vgl. hierzu Soeffner/Raabe in ÄGB 5, 696). Von hier aus wird Lifestyle schließlich spätestens in den 1980er Jahren (zurück) ins Deutsche entlehnt – nun allerdings gerade nicht mehr mit dem Bedeutungsspektrum, das die Entlehnungsgrundlage Lebensstil bzw. Lebensführung hatte, sondern mit der neuen Bedeutung Lebensweise, die dem Zeitgeist entspricht und der sozialen Distinktion dient oder dienen soll
(1998, 1999).
Literatur
ÄGB Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, herausgegeben von Karlheinz Barck u. a. Stuttgart u. a. 2000–2005.
Ansbacher 1967 Ansbacher, Heinz L.: Life Style: A Historical and systematic Review. In: Journal of Individual Psychology (1967), H. 23 (2), S. 191–212.
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
Saurer 2014 Saurer, Edith: Art. „Lebensstile“. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Online zuerst: 2014. (doi.org)
Soeffner/Raab 2003 Soeffner, Hans-Georg/Jürgen Raab: Art. „Stil“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 5. Stuttgart/Weimar 2010 [2003], S. 641–703.
Stieler Stieler, Kaspar von: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz/ Worinnen alle und iede teutsche Wurzeln oder Stammwörter/ so viel deren annoch bekant und ietzo im Gebrauch seyn/ nebst ihrer Ankunft/ abgeleiteten/ duppelungen/ und vornemsten Redarten/ mit guter lateinischen Tolmetschung und kunstgegründeten Anmerkungen befindlich. […] Nürnberg 1691. (mdz-nbn-resolving.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Lebensformen.