Wortgeschichte
Ein Wort der Philosophie
Das Substantiv Aktivismus ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegt (1863, 1894), die dazugehörige Personenbezeichnung Aktivist sowie das Adjektiv aktivistisch werden etwas später in der Überlieferung greifbar (1912a, 1912b; vgl. auch 1DFWB unter Aktivist und 2DWB 2, 170DWDS). In den frühen Belegen für Aktivismus aus der Zeit bis ungefähr zum Beginn des Ersten Weltkriegs steht das Wort überwiegend für eine weltanschauliche Richtung, die auf eine aktive Gestaltung der Welt gerichtet ist
(im Beleg 1894 im Gegensatz zu QuietismusDWDS als einer Lehre, die auf Passivität und Innerlichkeit abzielt). Aktivist bezeichnet entsprechend einen Anhänger dieser Bestrebungen (vgl. 1907), und als aktivistisch wird eine Person oder eine Sache charakterisiert, die den Maximen des Aktivismus folgt bzw. diesen entspricht (1912c).
Diese auf eine Weltanschaung bezogenen Wortverwendungen von Aktivismus‚ Aktivist, aktivistisch, die vom Adjektiv aktiv abgeleitet sind, lehnen sich erkennbar an bereits länger bestehende Strukturen des Typs Idealismus, Idealist, idealistisch an, die ja ebenfalls auf eine philosophische Richtung bzw. deren Vertreter und Eigenschaften Bezug nehmen.
Namenartige Verwendungen in der Zeit des Ersten Weltkriegs
Diese frühe Verwendung von Aktivist und Aktivismus bleibt vorwiegend auf die philosophische Fachliteratur beschränkt1) und bildet keine erkennbaren wortgeschichtlichen Traditionslinien aus (in ironischer Brechung möglicherweise in einem Beleg von 1922b). In der Zeit des Ersten Weltkriegs tritt dann eine weitere Verwendungsweise hinzu, die im Gegensatz zu den älteren philosophisch-weltanschaulich geprägten Traditionen dieses Wortgebrauchs erstmals auch eine politische Dimension ins Spiel bringt. Mit Aktivismus und Aktivist wird nunmehr auf unterschiedliche pro-deutsche Strömungen im Ausland bzw. deren Vertreter Bezug genommen, die eigene nationale Interessen mit den Interessen des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten verknüpfen. Es wird über Aktivisten oder auch eine aktivistische Bewegung in Skandinavien, in Belgien sowie in Polen berichtet (1916, 1918b, 1918a, vgl. noch 1936 und 1937c), später werden auch die mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Vertreter der sudetendeutschen Partei als Aktivisten bezeichnet (1937b).
In diesen Gebräuchen kommt das Wort einem Eigennamen sehr nahe, da es einen konkreten Bezug auf spezifische Erscheinungen in der Welt enthält. Aktivist (bzw. Aktivismus und aktivistisch) ist hier zudem ein Exotismus, da Gegebenheiten außerhalb des deutschen Sprachraums bzw. des deutschen Reiches thematisiert werden, und zwar wohl in direkter Übernahme der Wörter aus den jeweiligen Sprachen (vgl. niederländisch activist und activisme). Da Aktivist bzw. aktivistisch somit relativ spezifische Sachverhalte adressiert, ist es – wie auch im Fall des oben angesprochenen philosophischen Wortgebrauchs – schwer einzuschätzen, ob von hier ausgehend eine wortgeschichtliche Traditionsbildung stattgefunden hat. Möglicherweise war die kommunikative Reichweite dieser Verwendungen dafür nicht hinreichend ausgeprägt.
Der Aktivist in der Politik
Seit ca. 1920 finden sich erstmals Belege für die Personenbezeichnung Aktivist, die bereits der heute geläufigen Bedeutung nahekommen: engagierter, besonders aktiver Vertreter einer politischen Partei, Bewegung
(1922c, 1922a, 1926, 1930b, 1949c). Das Abstraktum Aktivismus, das ebenfalls ab 1920 einen Bedeutungswandel erfährt, steht nun analog auch für engagiertes, radikales politisches Auftreten
(1920b, 1920a, vgl. 1950c).
Zwar ist Aktivist für Akteure sowohl von links wie von rechts verwendbar, allerdings fällt auf, dass vor allem in Texten des Nationalsozialismus die eigenen Anhänger häufig als Aktivisten heroisiert werden, hier besonders mit Bezugnahme auf die sog. Kampfzeit der Weimarer Republik (1937a, 1939). Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, dass in den Entnazifizierungsverfahren der Nachkriegszeit Aktivist als Kategorie für verantwortliche Täter eingeführt wurde, dies in Abgrenzung u. a. zum Mitläufer (1945b, 1945a).
Gelegentlich kann die Personenbezeichnung aber auch in einem sehr allgemeinen Sinne, der direkt an das Adjektiv aktiv anschließt, gebraucht werden: Aktivist ist dann eine tatkräftige Persönlichkeit
(1930a, mit Bezug auf energisches Handeln in der Politik im Beleg 1965), Aktivismus bedeutet entsprechend ,rege Tätigkeit, Geschäftigkeit‘, gelegentlich auch mit pejorativem Unterton (1923, 2005). Analog dazu kann das Adjektiv aktivistisch tatkräftig, zum Handeln bereit
bedeuten, hier, wie im Fall von Aktivist, auch mit Bezug auf Tatkraft von Akteuren in der Politik und verwandten Feldern (1982a, 2008).
Engagierte Zeitgenossenschaft
In der ab 1920 neu aufkommenden Bedeutung engagierter, besonders aktiver Vertreter einer politischen Partei, Bewegung
hält sich Aktivist bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (1951, 1972, 1982b, 1993). Das Wort erfährt in dieser Zeit eine allmähliche Bedeutungserweiterung: Es wird nun zunehmend nicht nur auf besonders engagierte Vertreter einer politischen Partei oder Bewegung verwendet, sondern auch für Personen gebraucht, die sich für jeweils ganz unterschiedliche gesellschaftlich bedeutsame Anliegen wie Minderheitenrechte, Frieden, Umwelt oder Tierschutz einsetzen (1956, 1966, 1970a). Aktivisten sind damit nicht so sehr als Anhänger einer Partei oder Bewegung zu fassen, sondern als Menschen, die aktiv und energisch für eine Sache eintreten, von der sie überzeugt sind.
Diese semantische Verschiebung spiegelt sich auch in den seit den 1970er Jahren auftretenden Komposita wie Anti-Konsum-Aktivist (1970b), Bürgerrechtsaktivist (1979), Friedensaktivist (1983b), Umweltaktivist (1983a, 1986), Tierschutzaktivist (1984), Wohlfahrtsaktivistin (1988), Anti-Atom-Aktivist (1996) oder Klima-Aktivist (2004). Das Erstglied steht dabei stets für die positiv bewertete Sache, zu deren Gunsten der Aktivist sich engagiert, es sei denn es liegt das Muster Anti-X-Aktivist vor; in diesem Fall ist die entsprechende Position mit einem negativ bewerteten Substantiv besetzt, das für die zu bekämpfende Sache steht.
Sprachübergreifende Zusammenhänge
Die hier vorliegende Bedeutungserweiterung ist auch in einem sprachenübergreifenden Zusammenhang zu sehen. So ist auch für das englische activist eine entsprechende Bedeutung bezeugt, und zwar nach den Belegen im 3OED unter activist B 2 b ab den späten 1960er Jahren. Die ältere und speziellere Verwendung engagierter Vertreter einer politischen Partei, Bewegung
ist hier seit den 1920er Jahren nachgewiesen. Zu berücksichtigen ist hier auch, dass viele der deutschsprachigen Belege aus den 1960er Jahren über Erscheinungen in der englischsprachigen Welt, zumal in den USA, berichten. Daher ist ein mindestens verstärkender Lehneinfluss des Englischen nicht auszuschließen.2)
Aktivismus und Ideologie: Ansätze einer Bedeutungsverschlechterung
Bei der Personenbezeichnung Aktivist, vor allem beim Adjektiv aktivistisch und dem Abstraktum Aktivismus sind in jüngster Zeit Ansätze einer Bedeutungsverschlechterung auszumachen. Vornehmlich auf Seiten eines eher als konservativ einzuschätzenden Meinungsspektrums werden Aktivisten und Aktivismus zuweilen als sachfremd und unwissenschaftlich kritisiert (1969, 2001, 2022b, 2022a), und mit dem Attribut aktivistisch versehene Personenbezeichnungen charakterisieren diese in einigen Kontexten als nicht-objektiv und ideologiegetrieben (2022a). Auch zu dieser Bedeutungsverschlechterung gibt es offenbar Parallelen bzw. Vorbilder im zeitgenössischen Englischen.
Aktivist als Held der Arbeit in der DDR
In der an Einflüssen und Entwicklungen nicht armen Wortgeschichte von Aktivist spielt auch eine Übernahme aus dem Russischen eine wichtige Rolle. So wurde das Wort in der DDR seit Ende der 1940er Jahre als Titel zur Auszeichnung von Werktätigen verwendet, die besondere Leistungen in der Produktion erbrachten (1949a, 1949b, 1950a, 1950b, 1964). Dieser im Kontext der sog. Aktivistenbewegung zu verordnende Wortgebrauch folgt unmittelbar der entsprechenden Verwendung von russisch aktivíst (активист; s. Pfeifer unter AktivistDWDS sowie 2DFWB unter Aktivist 2 c). Arbeitsleistung und politisches Engagement wurden hier miteinander kurzgeschlossen: Wer in der Produktion außerordentliche Ergebnisse erzielte, trug gleichzeitig zum Aufbau des Sozialismus bei und galt als vorbildlicher DDR-Staatsbürger (1963). Damit ist auch ein Anschluss an die ältere Wortbedeutung engagierter Vertreter einer politischen Partei, Bewegung
gegeben: ein guter Sozialist ist eben auch im Betrieb nicht faul.
Eine über das Ende der DDR hinausreichende wortgeschichtliche Traditionslinie hat diese Bedeutung nicht entwickelt, zumal mit dem Untergang der DDR das sozialistische Auszeichnungswesen gegenstandslos geworden ist.
Anmerkungen
1) In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass im HWPh kein Stichwort Aktivismus bzw. Aktivist enthalten ist. Das kann als Bestätigung der Annahme gewertet werden, dass sich in der Philosophie keine Schule des Aktivismus herausgebildet hat, zumal mit dem sog. Pragmatismus bereits eine verwandte Strömung etabliert war, vgl. auch HWPh 7, 1244–1249.
2) Laut GDLI 1, 822 ist die Personenbezeichnung im Italienischen (attivista) ein Neologismus (ohne nähere Angaben zur Bezeugung); attivismo ist aber laut GDLI bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts belegt.
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
2DFWB Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völlig neu erarbeitet im Institut für Deutsche Sprache von Gerhard Strauß u. a. Bd. 1 ff. Berlin/New York 1995 ff. (owid.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
GDLI Battaglia, Salvatore: Grande dizionario della lingua italiana. Vol. 1–21. Turin 1971–2002. (gdli.it)
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
WNT Woordenboek der Nederlandsche Taal. Bd. 1–29. ’s-Gravenhage u. a. 1882–1998. (ivdnt.org)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Aktivist, Aktivismus, aktivistisch.