Wortgeschichte
Selbstbemächtigung und Selbstermächtigung. Wortbildung und frühe Bezeugungen
Sowohl das Substantiv Selbstbemächtigung als auch das heute geläufigere Selbstermächtigung sind in entsprechenden Korpora mindestens seit Ende des 18. Jahrhunderts belegt (1784, 1790).
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Selbstbemächtigung wird darüber hinaus bereits Ende des 17. Jahrhunderts bei Stieler unter Mächtigung bzw. Bemächtigung und mit der Angabe proprius ausus
lexikographisch erfasst (Stieler, 1206). Im 19. Jahrhundert bucht Campe Selbstbemächtigung mit der Bedeutung die Handlung, da man in eigener Person, eigenmächtig sich einer Sache bemächtigt
(Campe Wörterbuch 4, 405); das 1DWB bucht Selbstbemächtigung zudem mit der Bedeutung eigenmächtige Besitzergreifung
(1DWB 16, 459). Selbstermächtigung wird dahingegen von den großen Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts nicht gebucht.
Selbstermächtigung ist eine Bildung zu Ermächtigung, das im Deutschen mindestens seit dem 17. Jahrhundert bezeugt ist (1683, 1776; das 2DWB setzt sowohl die Bedeutung Vollmacht, Mandat
als auch die Bedeutung Autorisierung, Ausstattung mit einer Vollmacht
mit Erstbelegen für die erste Hälfte des 19. Jahrhundert an, vgl. 2DWB 8, 1976). In Quellen des 19. Jahrhunderts begegnet das Substantiv in politischen Kontexten in den Bedeutungen eigenmächtige Machtübernahme
(1835, 1841). Daneben stehen aber auch Verwendungen in anderen Kontexten (1857, 1829, 1870). Sowohl Selbstbemächtigung als auch Selbstermächtigung bleiben bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zwar belegt (1848, 1934, 1967), insgesamt jedoch wenig verbreitet und semantisch schwer zu fassen.
Empowerment und die Verbreitung von Selbstermächtigung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist mit Empowerment ein neues Lehnwort im Deutschen bezeugt (1994a). Im Englischen ist empowerment bereits seit Jahrhunderten bezeugt; das 3OED bucht Belege in der Form impowerment bereits für das 17., Belege in der Form empowerment ab Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. 3OED unter empowerment, n.). Für die Entlehnung ins Deutsche ist erst die fachsprachliche Verwendung des Wortes ab Mitte der 1970er Jahre relevant, die aus dem Kontext der Neuen sozialen Bewegungen insbesondere in den USA entstammt1). Die Übertragung des Wortes empowerment auf die aus den entsprechenden Bewegungen entstehenden Gedanken einer Selbstbefähigung des Individuums wird gemeinhin Barbara B. Solomon und der Studie Black Empowerment: social work in oppressed communities zugeschrieben (vgl. Herriger 2010, 21).
Im Deutschen zeigen frühe Belege des Wortes eine enge Anbindung an die Verwendungszusammenhänge des Englischen (1995a, 1995c) sowie der Fachsprache (1995b, 1995d). Empowerment bezeichnet in allgemeinsprachlichen Quellen vornehmlich professionell durchgeführte Maßnahmen zur Befähigung von Individuen, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen (1998, 1999a). Daneben kann es aber, zumal in der Fachsprache (vgl. Herriger 2010, 16), auch einen selbst initiierten Prozess der (Wieder-)Herstellung von Selbstbestimmung, Eigenmacht und Autonomie über das eigene Leben bezeichnen (2003a, 2014a). Im deutschsprachigen Raum wird Empowerment zunächst vor allem in Bezug auf Frauen (1994b, 1995e, 1995f), später – möglicherweise neuerlich unter Einfluss des Englischen (2012d) – auch breiter in Bezug auf weitere marginalisierte gesellschaftliche Gruppen bezogen (2015, 2017a, 2017b).
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu Selbstermächtigung
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Als deutschsprachige Entsprechungen für Empowerment sind verschiedene Wörter belegt, so neben Ermächtigung (2014b) und Selbstbefähigung (2003a) auch Selbstbemächtigung (1999b, 2006). Wenn die Bezeugungsfrequenz von Selbstermächtigung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts signifikant steigt (vgl. Abb. 1 sowie die entsprechende bedeutungsübergreifende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers), könnte diese Entwicklung auch in Zusammenhang mit der weiteren Verbreitung von Wort und Konzept des Empowerments im deutschsprachigen Raum zu verstehen sein. Jedenfalls begegnet Selbstermächtigung nunmehr bedeutungsverwandt zu Empowerment (2000a, 2001a, 2011b, 2011c). Zudem ist Selbstermächtigung nun auch ein Wort der soziologischen Fachsprache (2003b, 2010, 2011a). Auch Selbstbemächtigung ist in den Quellen nun häufiger und in entsprechenden Bedeutungen bezeugt (2004, 2009), bleibt insgesamt aber deutlich weniger verbreitet als Selbstermächtigung.
Empowerment und Selbstermächtigung: Semantische Überschneidungen, semantische Abgrenzung
Selbstermächtigung und Empowerment sind zwar in Hinblick auf Verwendungen im sozialen Bereich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts bedeutungsverwandt, gehen aber nicht in einem vollständig synonymen Verhältnis zueinander auf. So fällt auf, dass Selbstermächtigung anders als Empowerment – möglicherweise auch vor dem Hintergrund der älteren Verwendungen im deutschsprachigen Raum – besonders in politischen Kontexten in der Bedeutung eigenmächtige Machtübernahme
begegnet (1993, 1997, 2012c), wobei die Grenzen zwischen politischen und sozialen Kontexten hier fließend sind (2012a, 2012b).
Ohnehin ist das semantische Spektrum von Selbstermächtigung gegenüber Empowerment insgesamt breiter; es bleibt nicht so sehr auf den soziale Bereich beschränkt, sondern wird in der allgemeineren Bedeutung eigenmächtige Übernahme einer Sache, Selbstbefähigung
auch etwa auf kulturgeschichtliche Prozesse der Menschheit, namentlich Aufklärung und Moderne, bezogen (2000b, 2001b), wo es die Emanzipation des Menschen im Zuge der Aufklärung aber auch die Erhebung des Menschen über die Natur im Zuge des Modernisierungsprozesses bezeichnet.
Anmerkungen
1) Vgl. hierzu detaillierter Herriger 2010, hier insb. Kapitel 2 Spurensuche: Eine kurze Geschichte des Empowerment-Konzeptes
.
Literatur
Campe Wörterbuch Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der deutschen Sprache. Theil [Bd.] 1–5. Braunschweig 1807–1811.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
Herriger 2010 Herriger, Norbert: Empowerment in der sozialen Arbeit: eine Einführung. 4., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2010. (ciando.com)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Stieler Stieler, Kaspar von: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz/ Worinnen alle und iede teutsche Wurzeln oder Stammwörter/ so viel deren annoch bekant und ietzo im Gebrauch seyn/ nebst ihrer Ankunft/ abgeleiteten/ duppelungen/ und vornemsten Redarten/ mit guter lateinischen Tolmetschung und kunstgegründeten Anmerkungen befindlich. […] Nürnberg 1691. (mdz-nbn-resolving.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Empowerment, Selbstermächtigung, Selbstbemächtigung.