Wortgeschichte
Der runde Tisch als Symbol: Gleiches Recht für alle
Ein in runder Form gestalteter Tisch hat gegenüber eckigen Tischen einen großen Vorteil: Es gibt keine Seiten, kein Oben und Unten, sodass alle Gesprächsteilnehmer im gleichen Abstand voneinander entfernt sitzen. Privilegierte Plätze gibt es nicht. Als Motiv und Symbol für Gleichheit und Gleichberechtigung hat der runde Tisch eine lange kulturgeschichtliche Tradition: In der höfischen Ritterepik wird der Tisch, um den sich der Sage nach König Artus mit seinem Gefolge ohne hierarchische Unterschiede versammelt hat, mit dem Wort tavelrunde. (vgl. BMZ 3, 18) bezeichnet. Die nach dem französischen Vorbild table ronde (vgl. 1DHLF, 2224) gebildete Lehnübersetzung Tafelrunde wird jünger volksetymologisch auch als Kompositum mit dem Substantiv Runde Zusammenkunft, Kreis von Personen
aufgefasst (vgl. 10Paul, 990).1)

Abb. 1: Die Ritter der Tafelrunde (Robert de Boron: Lancelot en prose. Handschrift aus dem 15. Jahrhundert)
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In deutscher Wortfolge liegt mittelhochdeutsch auch die Bildung runttavel vor (vgl. BMZ unter tavele). Entsprechungen in anderen europäischen Sprachen sind zum Beispiel englisch round table, schwedisch taffelrund, niederländisch tavelronde und italienisch tavola rotonda (vgl. 3OED unter round table).
Idiomatisierung: Der Runde Tisch muss nicht rund sein
Runder Tisch bezeichnet zunächst den konkreten Gegenstand: Die Bedeutung Tisch, der rund ist
ist aus der Bedeutung der einzelnen Bestandteile der Wortverbindung zu erschließen (z. B. 1798). Dass ein runder Tisch bei politischen Gesprächen und Konferenzen eingesetzt wird, um mögliche Rangstreitigkeiten zu vermeiden, wird im 18. Jahrhundert berichtet. Hier zeigt sich eine erste Tendenz zur Verfestigung der Wortverbindung in der Lesart runder Verhandlungstisch
(1772, 1787, 1858).
Im beginnenden 20. Jahrhundert zeigt sich ein erster Gebrauch der präpositionalen Verbindung am runden Tisch zusammenkommen, in der die Wortverbindung als semantische Einheit die Bedeutung Zusammenkunft von gleichberechtigten Gesprächspartnern
hat (1909, 1911a, 1911b). Zu Beginn der 1930er Jahre nimmt diese Verwendung im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die in London stattfindenden britisch-indischen Round-Table-Konferenzen zu. In Anlehnung an die im Englischen bereits im 19. Jahrhundert in übertragener Bedeutung belegte Wortverbindung Round Table (vgl. 3OED unter Round Table, n. 5) tritt Runder Tisch hier erstmals mit großgeschriebenem Adjektiv auf (1930, 1931a). Auch das von der englischen Wortverbindung round table conference lehnübersetzte Kompositum Rundtischkonferenz ist in diesem Zusammenhang bezeugt (1931b). In der frühen Nachkriegszeit tritt Runder Tisch zunächst mit Bezug auf weitere Round-Table-Konferenzen auf (1946, 1949), zeigt sich jedoch bald losgelöst vom englischen Vorbild in anderen Kontexten. In Gebräuchen wie der Runde Tisch findet statt und ständiger Runder Tisch ist Runder Tisch ein festes Idiom, da die Verbindung aus Adjektiv und Substantiv als Ganzes eine semantische Einheit bildet (1947, 1957, 1962,). Die präpositionale Wortverbindung am Runden Tisch verhandeln und auch Gespräche am Runden Tisch zeigen den Übergang zu einer weiteren metonymischen Übertragung – hier geht es nicht allein um die Zusammenkunft gleichberechtigter Verhandlungsteilnehmer
, sondern um das spezielle Verhandlungsformat
(1948 , 1968a, 1999a, 2015). Ebenso wie Tafelrunde sowohl die Zusammenkunft als auch den Kreis der anwesenden Ritter bezeichnet, steht Runder Tisch in Verbindungen wie der Runde Tisch tagt/entscheidet metonymisch auch für Gruppe der gleichberechtigten Verhandlungsteilnehmer
(1968b, 2002, 2009a, 2022).
Auch die englische Entsprechung Round Table, die ursprünglich als Exotismus im Zusammenhang mit den britisch-indischen Round-Table-Konferenzen im Deutschen verwendet wurde, ist nach wie vor gebräuchlich (2006) und – wie auch die Komposita (mit Durchkopplungsbindestrich) Round-Table-GesprächDWDS und Round-Table-KonferenzDWDS – in zeitgenössischen Wörterbüchern verzeichnet (vgl. auch Anglizismen-Wb. 3, 1212 unter Round-table-Gespräch/-Diskussion/-Konferenz).
Klein oder groß: runder Tisch vs. Runder Tisch
Die Großschreibung des Adjektivs in Runder Tisch ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend häufiger bezeugt, was den sich etablierenden metonymischen Gebrauch der Verbindung anzeigt. Die Großschreibung des adjektivischen Bestandteils zeigt an, dass die idiomatisierte Gesamtbedeutung gemeint ist. Nach Duden online D89 2d ist die Großschreibung von Idiomen wie z. B. auch Blauer Brief und Schwarzes Brett fakultativ (vgl. dazu IDS-grammis 2.4) – so finden sich auch gegenwärtig beide Schreibweisen des Adjektivs runder Tisch und Runder Tisch (2009a, 2010).
1989: Das Jahr der Runden Tische
Als politisches Verhandlungsformat für Gespräche zwischen Regierungs- und Oppositionsvertretern ist der Runde Tisch seit Anfang 1989 in den sozialistischen Ländern Polen, Bulgarien, der damaligen Tschechoslowakei und Ungarn (wo die Wahlverhandlungen auch am Dreieckstisch stattfanden; 1989a) eingesetzt worden (1989b, 1989c). Im Zusammenhang mit diesen Verhandlungen steigt die Gebrauchsfrequenz der Wortverbindung Runder Tisch in der Tagesberichterstattung im Laufe des Jahres stark an (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Bezeugung von „Runder Tisch“ seit 1946
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Zum Ende des Wendejahres 1989 finden in Deutschland regelmäßige Treffen von Abgeordneten der DDR-Regierung, oppositionellen Gruppen und Vertretern der Bürgerbewegung mit dem Ziel eines gleichberechtigten Dialogs am Runden Tisch statt (1989d, 1990a). Diese außerparlamentarische Institution wird auch Zentraler Runder Tisch genannt (1990b, vgl. 2009b). Die Wortverbindung meint hier bedeutungserweiternd Verhandlung, an der Regierung und Opposition gleichberechtigt teilnehmen
(1989e, 1999b). Sie wird hier namenartig verwendet und steht im Wendekontext symbolisch für die Friedliche RevolutionWGd und die Demokratisierungsprozesse im wiedervereinigten Deutschland.2)
Der Runde Tisch als demokratisches Gesprächs- und Beteiligungsformat ist spätestens seit der WendezeitWGd aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben nicht mehr wegzudenken. Seitdem findet sich die idiomatisierte Wortverbindung in vielen Zusammenhängen, wenn es darum geht, einen gleichberechtigten Dialog zu führen und bei strittigen Themen einen Konsens anzustreben (2000, 2010, 2017, 2019).
Anmerkungen
1) Nach Pfeifer ist das Substantiv Runde im Sinne von gesellige Zusammenkunft, Kreis von Personen, die sich zum Essen und Trinken zusammenfinden
aus Tafelrunde hervorgegangen (vgl.
rundDWDS).
2) Zu Runder Tisch in der Wendezeit vgl. ausführlich und mit Belegen Schlüsselwörter 1997, Kap. 7; außerdem Stötzel 2002, 347–352, mdr-Geschichte 2021, Petschow 2016.
Literatur
Anglizismen-Wb. Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945, begründet von Broder Carstensen, fortgeführt von Ulrich Busse. Bd. 1–3. Berlin/New York 1993–1996.
BMZ Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearb. von Müller, Wilhelm /Friedrich Zarncke. Bd. 1–3. Leipzig 1854–1866. (woerterbuchnetz.de)
1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
IDS-grammis Grammatisches Informationssystem „grammis“. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. (ids-mannheim.de)
mdr-Geschichte 2021 Aufbruch zur Demokratie: „Runde Tische“ in der DDR. 12. März 1990: Letzte Sitzung des „Runden Tisches“. mdr-Geschichte, 11. 8. 2021. (mdr.de)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Petschow 2016 Petschow, Annabelle: Der Runde Tisch, in: LEMO (Lebendiges Museum Online), 25. 2. 2016. (hdg.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Schlüsselwörter 1997 Herberg, Dieter/Doris Steffens/Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/90. Berlin/New York 1997. (owid.de)
Stötzel 2002 Stötzel, Georg/Thorsten Eitz (Hrsg.): Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hildesheim 2002.
Wikipedia Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. (wikipedia.org)