Wortgeschichte
Erstbezeugungen und Marx’ These von der Verelendung des Proletariats
Verelendung leitet sich von elend ab, das auf das althochdeutsche elilenti zurückgeht und zunächst in fremdem Land befindlich, der Heimat beraubt
und dann schlecht, schlimm, kümmerlich
bedeutet sowie ein Fehlen, einen Mangel bezeichnen kann (vgl.
2DWB
7, 1223–1225, sowie 10Paul, 267–268). Bereits seit dem Mittelhochdeutschen ist zudem das Verb verelenden, zunächst mit der Bedeutung verbannen
, erst später und wohl in Zusammenhang mit dem Substantiv Verelendung auch mit der Bedeutung arm werden
, bezeugt (vgl.
10Paul, 267–268).
Verelendung selbst wird von den Wörterbüchern gemeinhin in Zusammenhang mit Karl Marx, der das Wort 1867 für die fortschreitende Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse geprägt hat, gebucht.1) Die Verwendung des Substantivs und Adjektivs Elend bzw. elend ist bei Marx und Engels im Übrigen nicht immer eindeutig. In der Hauptsache verwenden sie es, um die Lage der Arbeiterkasse oder der von ihrem Land vertriebenen Bauern zu charakterisieren, wobei das Wort zwei Bedeutungen, eine rein ökonomische und eine allgemeinere, eine gesellschaftliche Position charakterisierende, habe (vgl. HKWM 3, 259; Verelendung steht im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus noch zur Bearbeitung aus).
Tatsächlich ist das Wort nicht nur bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der allgemeineren Bedeutung fortschreitende Verschlechterung der Lebensverhältnisse
bezeugt (1836), es wird auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin in dieser allgemeinen Bedeutung verwendet (1878). Gleichwohl hat Marx’ These von der Verelendung des Proletariats die weitere Verwendungsgeschichte maßgeblich beeinflusst: Die fortschreitende Verschlechterung der Lebensverhältnisse
wird von und mit ihm an eine bestimmte soziale Schicht gebunden (1894, 1988).
In der Nachfolge wird es mit dieser Bedeutung innerhalb des Theoriegebäudes des Marxismus ebenso wie in Bezug auf dasselbe verwendet (1911, 1960), zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in sozialdemokratischen Kontexten (1906). Verelendung tritt in diesem Bedeutungsstrang besonders häufig zusammen mit Wörtern wie Arbeiterklasse, ProletariatWGd, aber auch MassenWGd auf (1905, 1907, 1911). Als feste Wortverbindungen bilden sich in marxistischen Zusammenhängen zudem absolute und relative Verelendung aus (1911, 1970; vgl. auch den Eintrag Verelendung in Kernig 1973, 324). Vor dem Hintergrund, dass sich Marx’ These von der Verelendung des Proletariats in den Industrienationen nicht bewahrheitet hat, verliert das Wort im Laufe des 20. Jahrhunderts innerhalb des Marxismus im Allgemeinen und für die sozialistischen Staaten im Besonderen an Bedeutung – das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache bucht Verelendung mit dieser Bedeutung 1977 als ungebräuchlich
(vgl.
WDG6, 4116DWDS).
Übertragung auf Volk
und Nation
. Verelendung im NS-Sprachgebrauch
Zu Zeiten des Nationalsozialismus begegnet Verelendung unter Rekurs auf eine neue Bezugsgröße und wird politisch eingehegt. So fällt zunächst auf, dass es spätestens ab 1933 zunehmend in Bezug auf das deutsche Volk
, die deutsche Nation
und die Jahre der Weimarer Republik verwendet wird (1933c, 1935, 1939). Es ist schwer zu sagen, in welche der Bedeutungslinien diese Übertragung einzuordnen ist: Einerseits ist Verelendung das gesamte 19. Jahrhundert hindurch auch mit Verwendungen in einem weiteren, nichtmarxistischen Sinn bezeugt. Andererseits zeigen Bezeugungen der 20er Jahre Übertragungen auf andere soziale Schichten wie etwa das Handwerk, die sicherlich vor dem Hintergrund der engen Bindung des Wortes an die Arbeiterschicht zu verorten sind (1927). Deutlich erkennbar ist jedoch eine politische Vereinnahmung des Wortes. Verelendung wird nunmehr in Bezug auf die wirtschaftliche Lage und deren Folgen für die Bevölkerung zu Zeiten der Weimarer Republik verwendet und tritt zusammen mit Wörtern wie Novemberparteien
und Novemberverrat
auf (1933b, 1933a). Novemberverbrecher
bezeichnet im NS-Sprachgebrauch die Repräsentanten der Weimarer Republik, die für die Annahme des Versailler Vertrags verantwortlich gemacht werden (vgl. hierzu Schmitz-Berning 2000, 433). Verelendung wird im NS-Sprachgebrauch mithin auf jenes diskursiv produzierte Volk
bezogen, für dessen Verschlechterung der Lebensverhältnisse die Politik der Weimarer Republik verantwortlich gemacht wird.
Regionen – soziale Schichten – Individuen. Verwendungen nach 1945
Trotz der Vereinnahmung des Wortes durch die Nationalsozialisten kommt es nach 1945 nicht zu einem Bruch in der Verwendungsfrequenz, ist das Wort nicht diskreditiert. Im Gegenteil sind nicht nur Verwendungen im Kontext der Marx’schen Verelendungstheorie weiter bezeugt, daneben tritt auch eine ganze Reihe an Verwendungen im weiteren Sinn. Verelendung kann mit der allgemeinen Bedeutung fortschreitende Verschlechterung der Lebensverhältnisse
nunmehr auf soziale Gruppen ganz unterschiedlicher Art bezogen werden (1950, 2009), auf Regionen auch außerhalb Europas bzw. der Industrienationen (1966), hier insbesondere auf die sogenannte Dritte Welt
(1967) und auf Entwicklungsländer (1974).
Eine neue Entwicklung zeichnet sich ab den 1970er Jahren ab, die insbesondere, aber nicht nur in Verwendungen in Zusammenhang mit der Drogenszene (1990a, 1990b) ablesbar ist: War Verelendung bisher vorwiegend in Bezug auf wie auch immer geartete soziale Gebilde verwendet worden, wird es nunmehr auch in Bezug auf das Einzelindividuum verwendet (1969, 1979, 1983).
Anmerkungen
1) Vgl. 10Paul, 267–268; Pfeifer unter VerelendungDWDS, WDG6, 4166DWDS; vgl. daneben Gabler online unter Verelendung.
Literatur
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
Gabler online Gabler Wirtschaftslexikon Online. Das Wissen der Experten. Wiesbaden 2009 ff. (gabler.de)
HKWM Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug. Bd. 1 ff. Hamburg 1994 ff.
Kernig 1973 Kernig, C. D. (Hrsg.): Marxismus im Systemvergleich. Soziologie 2: Kommunikation bis Verelendung. Freiburg im Breisgau 1973.
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Schmitz-Berning 2000 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 2000 [Nachdruck der Ausg. Berlin/New York 1998].
WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Verelendung.