Wortgeschichte
Ein revolutionäres Wort aus Frankreich
Die Kollektivbildung Proletariat tritt zuerst 1840 in deutschen Texten auf und ist damit um einige Jahrzehnte jünger als die Personenbezeichnung ProletarierWGd, die bereits ab 1800 belegt ist. Im Beleg von 1840 bezieht sich das Wort auf Verhältnisse in Frankreich, hier konkret auf die Juli-Revolution von 1830. Als unmittelbare Quelle des deutschen Wortes ist naheliegenderweise das französische prolétariat anzusehen, das seit den 1830er Jahren bezeugt ist (vgl. TLFi unter prolétariat und 1DHLF 1771). Die Bedeutung ist zunächst Klasse der Besitzlosen, unterste Schicht der Gesellschaft
. Die Verwendungen der 1840er Jahre sind dabei von einer vielfach kritischen Haltung geprägt: Proletariat steht eher für etwas Bedrohliches, für eine Erscheinung, die die gesellschaftliche Ordnung gefährdet (für diese eher negativ konnotierten Verwendungen s. die Belege 1844, 1845a, 1845b, 1847). Dabei kommt als Kehrseite dieses Bedrohungsszenarios gelegentlich auch schon das positive Bild einer die Gesellschaft zum Besseren verändernden revolutionären Kraft zur Geltung (1846).
Proletariat als Wort der marxistischen Ideologie
Im Zuge der Ausformung einer sozialistischen bzw. kommunistischen Ideologie in den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels erfährt das Wort dann auf der einen Seite eine Bedeutungsverbesserung, indem die so bezeichnete Gesellschaftsschicht nicht allein als wehrlose Masse, sondern als Akteur aufgefasst wird. Parallel dazu erfolgt auf der anderen Seite auch eine Bedeutungsverengung: Proletariat wird zunehmend auf das Industrieproletariat eingeschränkt, d. h. auf die Klasse der abhängigen, ausgebeuteten Lohnarbeiter, die keine eigenen Produktionsmittel besitzt
(1848a). Proletariat wird damit zu einem zentralen Fahnenwort der sozialistischen Bewegung. In den einschlägigen Zusammenhängen ist es dementsprechend positiv besetzt, vor allem wenn es als Träger einer historischen Mission glorifiziert wird (so im Manifest der Kommunistischen Partei
1848b als die wirklich revolutionäre Klasse).
Lexikalische Relationen: Bourgeoisie und Lumpenproletariat
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird Proletariat weitgehend synonym zu dem ebenfalls positiv aufgeladenen Wort Arbeiterklasse verwendet (1892, 1907). Als lexikalische Gegensätze treten sehr früh schon BourgeoisieWGd sowie das Abstraktum das Kapital auf (1848a). Gewissermaßen auf der anderen Seite des semantischen Spektrums steht das Lumpenproletariat. Dieses bildet insofern einen Gegensatz zu Proletariat, als es zwar, wie das Proletariat, besitzlos und entrechtet ist, ihm aber sowohl ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein als auch der Wille zu gesellschaftlichen Veränderungen fehlt (1848c, 1897). Lumpenproletariat ist damit ein Stigmawort, das die gesellschaftliche Unterschicht in Parteigänger der marxistischen Ideologie auf der einen und einen wertlosen Rest auf der anderen Seite einteilt.
Die Wortbildung ist wohl unmittelbar auf Karl Marx bzw. Friedrich Engels als deren Schöpfer zurückzuführen (vgl. nochmals den Beleg von 1848a). Sie schließt jedoch erkennbar an ältere Vorbilder an. So tritt das Erstglied Lumpen- seit dem 16. Jahrhundert in einer Vielzahl von abwertenden Bildungen auf, die meist auf Personen oder Personengruppen bezogen sind (z. B. Lumpenkerl, LumpengesindelWGd, Lumpengeselle, LumpenpackWGd, Lumpenprediger, s. auch 1DWB 6, 1296). Lumpen- ist dabei in der Regel nicht wörtlich zu verstehen, etwa im Sinne von in Lumpen gekleidet
o. ä.; vielmehr kommt diesem Element eine übertragene (in diesem Fall metonymische) Bedeutung wertlos, armselig
zu. Es hat damit fast den Status eines Präfixes, mit dem eine negative Einstellung gegenüber dem Inhalt des Zweitglieds ausgedrückt werden kann. Das von Marx und Engels geprägte Kompositum steht folglich in einer langen Tradition abwertenden Sprechens über untere Gesellschaftsschichten. Die soziale Diskriminierung von oben, die in den Bildungen mit Lumpen- typischerweise zum Tragen kommt, wird hier in direkter Linie fortgeführt.
Übertragungen und Abwertungen
Ähnlich wie die Personenbezeichnung ProletarierWGd, wenn auch weniger ausgeprägt, hat auch das Kollektivum eine Übertragung auf andere soziale Gruppen erfahren. So ist bereits 1850 von einem geistigen bzw. intellektuellen Proletariat die Rede, das sich in Salons und Caffeehäusern herumtreib[t] (vgl. auch 1910, 1971, 2009). Damit sind nicht Arbeiter, sondern Personen mit akademischer Ausbildung gemeint, die jedoch keine Perspektive auf eine wirtschaftlich gesicherte gesellschaftliche Position haben und daher zu einem sozialen Unruhefaktor zu werden drohen. Damit ist geistiges Proletariat in gewisser Weise ein semantischer Vorläufer der Bildung PrekariatWGd.
Europäische Bezüge
Das Aufkommen einer breiten Masse von besitzlosen Arbeitern und die sozialen Unruhen und Umwälzungen sind als gesamteuropäisches Phänomen anzusehen. Daher ist das französische prolétariat bzw. prolétaire nicht nur ins Deutsche, sondern auch in weitere europäische Sprachen gelangt. Im Englischen ist es bereits für das Jahr 1847 bezeugt (vgl. 3OED unter proletariat), wobei schon hier auch das Deutsche neben dem Französischen als Ausgangspunkt in Betracht kommt. (An der entsprechenden Stelle des englischen Textes bedarf das Wort noch der Erläuterung; zugleich wird darauf hingewiesen, dass es im Französischen und Deutschen bereits verbreitet sei.)
Dass Proletariat dann ein Internationalismus mit großer Verbreitung wird, ist nicht zuletzt dem schon im 19. Jahrhundert über Deutschland weit hinausreichenden Einfluss des Marxismus zuzuschreiben. Damit wird das Deutsche zur Gebersprache für ein zentrales politisches Wortschatzsegment (vgl. den Eintrag zu niederländisch proletariaat im WNT, hier mit direkter Rückführung auf das Deutsche, sowie ital. proletariato, GDLI 574).
Auffällig ist dabei, dass auch Lumpenproletariat Eingang zumindest in das Französische findet. Hier ist schon für die 1850er Jahre der Ausdruck prolétariat en haillons bezeugt (wörtlich Proletariat in Lumpen
, vgl. 1852). Es handelt sich somit um eine Lehnübertragung vom Deutschen ins Französische.
Literatur
1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
GDLI Battaglia, Salvatore: Grande dizionario della lingua italiana. Vol. 1–21. Turin 1971–2002. (gdli.it)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
TLFi Trésor de la langue française informatisé (Trésor de la langue française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
WNT Woordenboek der Nederlandsche Taal. Bd. 1–29. ’s-Gravenhage u. a. 1882–1998. (ivdnt.org)
Belegauswahl
Allgemeine Zeitung, 14. Mai 1840, Nr. 135, S. 1073. (deutschestextarchiv.de)Propheten standen auf im Volk, Verführte oder Verführer; ihre Angriffe richteten sich kühn gegen das ewig Positive der Gesellschaft: Staatsgewalt, Eigenthum, Ehe. Noch gefahrvoller als diese dogmatischen Verirrungen drohte der wilde desperate Geist der Arbeiterclassen, […]der ohne sittliche und religiöse Bindung mit geballter Faust und gierigem Auge eine neue Theilung der materiellen Lebensgüter verlangte. Man sah entsetzt in den Abgrund des Proletariats wie in einen brodelnden Lavakessel, […]wo die gebundenen Elementargeister der Gesellschaft schäumend durcheinander wirbelten, und an die Luft, ans Tageslicht zu steigen strebten, um Frankreich mit ihren Eruptionen zu überfluthen.
Die Grenzboten 3/1 (1844), S. 459. (deutschestextarchiv.de)Oftmals habe ich Berliner nach jenen Volksgarten Wiens geführt, wo das Proletariat der untersten Stufen sich wohl thut bei saurem österreichischen Wein und schmalen Wiener Würsteln.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Aerzte und Studirende. Stuttgart 1845, S. 104. (deutschestextarchiv.de)[…]Die Steigerung der Industrie, der Künste und Wissenschaften setzt auch eine allgemeine Steigerung der cerebralen Thätigkeiten voraus; die immer weitere Entfernung von einfachen Sitten, die Verbreitung der feineren, geistigen und leiblichen Genüsse bringt früher unbekannte Neigungen und Leidenschaften mit sich; die allgemeine liberale Erziehung weckt unter der Masse einen höher strebenden Ehrgeiz, den nur die Wenigsten befriedigen können; mercantilische, politische und sociale Schwindeleien wirken erschütternd auf die Einzelnen, wie auf das Ganze, und was von Allem das Wichtigste ist, das Proletariat, die Zunahme des Hungers, des Elends und der Verbrechen in den untersten Klassen der modernen Gesellschaft, kann nicht ohne Einfluss auf eine Krankheit sein, unter deren wichtigsten näheren Ursachen wir Entbehrungen und anhaltende Gemüthsaufregungen kennen lernen werden.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig 1845, S. 148. (deutschestextarchiv.de)Das Bürgerthum bekennt ſich zu einer Moral, welche auf’s engſte mit ſeinem Weſen zuſammenhängt. Ihre erſte Forderung geht darauf hin, daß man ein ſolides Geſchäft, ein ehrliches Gewerbe betreibe, einen moraliſchen Wandel führe. Unſittlich iſt ihr der Induſtrieritter, die Buhlerin, der Dieb, Räuber und Mörder, der Spieler, der vermögenloſe Mann ohne Anſtellung, der Leichtſinnige. […]Die Stimmung gegen dieſe „Unmoraliſchen“ bezeichnet der wackere Bürger als ſeine „tiefſte Entrüſtung“. Es fehlt dieſen Allen die Anſäſſigkeit, das Solide des Geſchäfts, […]ein ſolides, ehrſames Leben, das feſte Einkommen u. ſ. w., kurz, ſie gehören, […]weil ihre Exiſtenz nicht auf einer ſicheren Baſis ruht, zu den gefährlichen „Einzelnen oder Vereinzelten“ zum gefährlichen Proletariat: […]ſie ſind „einzelne Schreier“, die keine „Garantien“ bieten und „nichts zu verlieren“, alſo nichts zu riskiren haben.
Freiligrath, Ferdinand: Ça ira! Sechs Gedichte. Herisau 1846, S. 28. (deutschestextarchiv.de)Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat,
Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat!
Allgemeine Auswanderungs-Zeitung 1847, S. 486. (deutschestextarchiv.de)Es erhellt hieraus zugleich, daß die Auswanderungslust keineswegs nur die ärmeren Classen ergriffen hat, sondern daß sie auch auf die mittlere und vermögendere, in welcher die eigentliche Kraft des Staates beruht, übergegangen ist und auch sie dem Vaterlande entzieht, das Proletariat mit allen seinen üblen Folgen zurücklassend, ja es vermehrend.
Marx, Karl/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. London 1848, S. 7. (deutschestextarchiv.de)In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d. h. das Kapital entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. […]Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Waare wie jeder andere Handelsartikel, und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.
Marx, Karl/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. London 1848, S. 9. (deutschestextarchiv.de)Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüber stehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.
Marx, Karl/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. London 1848, S. 10. (deutschestextarchiv.de)Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.
Die Bayerische Presse, 30. 9. 1850, Nr. 234, o. S. (deutschestextarchiv.de)Endlich schloß Herr Jörg aus München mit einem Vortrag über das geistige Proletariat in unserer Zeit, welches sich in Salons und Caffeehäusern herumtreibe, aus verkommenen Schreibern, Studenten, Praktikanten und Adspiranten, angehenden Beamten und Aerzten recrutire, und die ständige Revolutionsarmee bilde.
Blanc, Louis: Histoire de la révolution française. Paris 1852, Bd. 3, S. 328. (books.google.de)De leur côté, les prêtres poussaient de toutes leurs forces à une agitation en sens inverse et, chose curieuse, c’était à la misère du prolétariat en haillons qu’ils demandaient de défendre leur opulence discutée.
Die Grenzboten 51/4 (1892), S. 406. (deutschestextarchiv.de)Die Sozialdemokraten sprechen bald von einer besitzenden, gebildeten, herrschenden Klasse, bald von mehreren, und nur darin sind sie konsequent, nur eine Arbeiterklasse, die identisch mit dem sozialdemokratischen Proletariat sein soll, zu unterscheiden.
Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Ein zeitgemäßes Wort mit besonderer Berücksichtigung der Arbeitslosen-Unterstützungsfrage. Berlin 1897, S. 23. (deutschestextarchiv.de)Das Lumpenproletariat, dieſes Produkt der größten Noth, hat nie Klaſſenbewußtſein beſeſſen, ſondern iſt durchgängig bei allen gewerkſchaftlichen, politiſchen Kämpfen und Revolutionen auf die Seite der gewalthabenden Klaſſe getreten. […]Wohl iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß Maſſen, die äußerſt tief in ihrer Lebenslage ſtehen, einen dumpfen gewaltſamen Verzweiflungskampf unternehmen, doch dieſe Maſſen werden dann unterliegen oder die Kultur vernichten.
Kautsky, Karl/Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm. Berlin 1907, S. 19. (deutschestextarchiv.de)So werden die Arbeiterbewegungen in den verschiedenen Jndustriezweigen immer mehr eine einheitliche Bewegung der gesamten Arbeiterklassen, ein Klassenkampf zwischen Kapital und Proletariat. Damit werden die Ziele weitere, höhere, die sich die Arbeiterbewegung steckt.
Marburger Zeitung, 11. 1. 1910, Nr. 5, S. 2. (deutschestextarchiv.de)Eine Stelle nach der anderen, insbeſondere die leitenden, werde den Slawen zugeſchanzt; die ſlawiſche Erpreſſertaktik ſei überall zu beobachten. Es werden ſlawiſche Mittelſchulen aus dem Boden geſtampft, um ſlawiſches geiſtiges Proletariat zu erzeugen, welches den Deutſchen die Stellen wegnimmt.
Die Zeit, 11. 6. 1971, Nr. 24. [DWDS] (zeit.de)Professor Akala, einer der Dekane der Universität (rund 5000 Studenten), sieht darin freilich die Gefahr, daß eine Art intellektuelles Proletariat heranwächst, wenn es nicht gelingt, die Universitätsabsolventen im Staatsdienst unterzubringen.
Die Zeit, 7. 1. 2009, Nr. 2. [DWDS] (zeit.de)In Europa wächst ein akademisches Proletariat heran, das tief enttäuscht und frustriert ist und für griffige Erklärungen ihrer unbefriedigenden gesellschaftlichen Stellung anfällig sein wird.