Wortgeschichte
Teil und Ganzes: Lesarten von Zivilgesellschaft
Die Bildung Zivilgesellschaft weist im Gegenwartsdeutschen zwei eng verwandte und daher nicht immer leicht zu trennende Lesarten auf: Zum einen steht das Wort für eine Gesellschaftsform, die durch selbständige, politisch und sozial engagierte Bürgerinnen und Bürger geprägt ist
(1996, 1999), zum anderen – und wohl auch häufiger – wird das Wort im Sinne von gesellschaftlicher Bereich, der durch ein besonderes Engagement von Bürgerinnen und Bürgern geprägt ist
verwendet (1993, 2020b). In dieser letzten Gebrauchsweise dient es auch der Abgrenzung gegenüber anderen gesellschaftlichen Aktionsfeldern bzw. Akteuren, so vor allem gegenüber der Politik sowie dem Militär, teils auch der Wirtschaft (1997, 2001, 2005, 2020c). Als Träger einer so verstandenen Zivilgesellschaft gelten klassischerweise Vereine und Verbände sowie in jüngerer Zeit auch sog. Nichtregierungsorganisationen bzw. NGOsDWDS (vgl. auch Verein sowie Assoziation). Charakteristisch für den gegenwartssprachlichen Wortgebrauch ist somit, dass Zivilgesellschaft sowohl ein Ganzes – eine bestimmte Gesellschaftsform – als auch einen der wesentlichen Teilbereiche dieser Gesellschaftsform – die von Bürgerinnen und Bürgern eigenständig gestalteten Handlungsfelder – beschreibt. In beiden Verwendungsweisen ist Zivilgesellschaft ein Prestigewort: Die Zivilgesellschaft ist stets zu stärken, und sie wird oft in Verbindung mit weiteren Prestigewörtern wie Demokratie oder Freiheit genannt (vgl. 2004a, 2004b, 2020a).
Von der Fach- in die Allgemeinsprache
Der komplexe aktuelle Wortgebrauch steht in einer nicht weniger komplexen historischen Tradition. Den wesentlichen geschichtlichen Hintergrund bildet dabei ein bis in die Antike zurückreichendes Konzept der politischen Theorie, nämlich die Vorstellung eines durch freie und gleiche Bürger (lateinisch cīvēs) gestalteten Gemeinwesens (dazu EdN unter Zivilgesellschaft sowie GG 1, 347; 2, 269 u. ö.). Vor diesem Hintergrund ist Zivilgesellschaft als Bürgergesellschaft
zu verstehen; entsprechend findet sich auch die Verbindung bürgerliche Gesellschaft, so bei Hegel und Marx (HWPh 12, 1359; vgl. auch bürgerlichWGd und Bürgergesellschaft). Das im Lateinischen als societās oder communitās cīvīlis (bürgerliche Gesellschaft
bzw. Gemeinschaft
) bezeichnete Konzept ist bis in die Gegenwart hinein Gegenstand vielfältiger politischer und staatsphilosophischer Kontroversen. In dieser Diskussion, die u. a. von Hegel, Weber, Gramsci und Habermas geprägt wird, spielen auch mögliche negative Aspekte eine Rolle, auf die besonders Max Weber hingewiesen hat (vgl. HWPh 12, 1357–1362, EdN, Andersen/Woyke 2021 unter Zivilgesellschaft sowie die Belege von 1971a und 1962, im letzten Fall zu Zivilsozietät).
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu "Zivilgesellschaft"
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Zivilgesellschaft, das somit zunächst als Fachwort der Staats- und Gesellschaftstheorie zu beschreiben ist, gelangt um 1990 in die Allgemeinsprache, hier vor allem in die Pressesprache (vgl. dazu auch Abb. 1). Dieser Prozess kann als sog. Binnenentlehnung, d. h. als Entlehnung zwischen verschiedenen Varietäten einer Sprache verstanden werden. Wie bei Übernahmen dieser Art üblich, bleibt der Facettenreichtum des fachlichen Wortgebrauchs, der auch Gegenstand vielfältiger wissenschaftlicher Kontroversen ist, in der Allgemeinsprache nur teilweise erhalten (vgl. HWPh 12, 1359–1361).
Zivilgesellschaft in den Demokratiebewegungen um 1990
Der Übergang von der Fach- in die Allgemeinsprache ist an besondere Thematisierungszusammenhängen geknüpft: So nimmt der Wortgebrauch in den 1990er Jahren vor allem Bezug auf die Demokratiebewegungen in Mittel- und Osteuropa. Zivilgesellschaft bezeichnet hier einen Gegenentwurf zu den sozialistischen Diktaturen Europas und den von diesen geprägten Gesellschaften (1990, 1992, 1996). Dem polnischen Ausdruck społeczeństwo obywatelskie bzw. dem ungarischen civil társadalom kommt dabei möglicherweise auch eine Vorreiterrolle zu (HWPh 12, 1359 mit weiterer Literatur). Auch die Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern des globalen Südens bildet seit Ende der 1990er Jahre einen häufig anzutreffenden Bezugsrahmen für den Wortgebrauch (1998, 1997, 2011).
Ältere Gelegenheitsbildungen
Das Wort Zivilgesellschaft weist freilich auch Gebrauchstraditionen auf, die deutlich hinter die Schwelle 1990 zurückreichen und die jenseits des engeren politologischen Diskurses zu verorten sind. So findet sich bereits 1893 ein vereinzelter früher Beleg für die Bildung. Hier ist Zivilgesellschaft offenbar auf eine vereinsartige Zusammenkunft von Zivilisten bezogen. Das Erstglied Zivil- wird in diesem Fall, wie beim Adjektiv zivilWGd im 19. Jahrhundert noch oft der Fall, als Gegensatz zu militärisch
verstanden. Als Gegensatz zum Konzept kirchlich
wird Zivil- noch in den 1970er Jahren verwendet (1971b). Diese Wortvorkommen sind allerdings als Gelegenheitsbildungen zu betrachten, die keine wortgeschichtliche Tradition ausgebildet haben.
Literatur
Andersen/Woyke 2021 Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktualisierte Aufl. Heidelberg 2021.
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
GG Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1–8. Stuttgart 1972–1997.
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Zivilgesellschaft.