Wortgeschichte
Zivilisch als Vorgänger
Das lateinische Wort cīvīlis bürgerlich
, eine Ableitung von cīvis Bürger
, wurde zuerst im 16. Jahrhundert als civilisch ins Deutsche entlehnt (vgl. 15391), 1663). Zivilisch ist jedoch nur sporadisch überliefert und wird nach dem 17. Jahrhundert durch zivil abgelöst. In der Schweiz ist die -isch-Bildung allerdings breiter bezeugt, und sie bleibt dort bis in die Gegenwart erhalten (vgl. Idiotikon 17, 333–334).
Ob es sich bei zivil um eine erneute Entlehnung handelt, die dann an die Stelle des älteren zivilisch getreten wäre, ist fraglich. Die Verkürzung älterer Wortbildungen, die auf -il-isch/-al-isch ausgehen, stellt vielmehr eine verbreitete Tendenz dar, die wohl auch die Entwicklung zivilisch zu zivil betrifft. Diese Tendenz zeigt sich ebenfalls bei Lehnbildungen wie servilisch, volatilisch, vegetabilisch, idealisch oder sentimentalisch, die sämtlich das -isch-Element zur Gegenwart hin eingebüßt haben (zu dieser Entwicklung vgl. 3Henzen 201, Paul, Dt. Gr. 5, 91).
Komposita mit Zivil-
Das lateinische Adjektiv cīvīlis hat jedoch schon seit dem 16. Jahrhundert, vor allem aber im 19. und 20. Jahrhundert auf andere Weise Spuren im Deutschen hinterlassen, nämlich als Erstglied von Komposita: So wurden lateinische Adjektiv-Substantiv-Verbindungen wie iūs cīvīle oder causa cīvīlis im Deutschen vielfach als substantivische Zusammensetzungen mit einem Bestimmungselement Zivil- wiedergegeben wie etwa in Zivilrecht oder Zivilsache (1667, 1883a). Allerdings sind diese Komposita vor dem 17. Jahrhundert nicht sehr verbreitet und wesentlich auf die Sprache des Rechts beschränkt, so dass die bei Pfeifer angedeutete Hypothese, das Adjektiv zivilDWDS könne sich aus diesen Komposita heraus verselbständigt haben, kaum tragfähig sein dürfte. Älter und in älterer Zeit auch häufiger bezeugt als die Zivil-Bildungen sind übrigens Verbindungen mit dem Adjektiv bürgerlichWGd, das lateinisch cīvīlis als Lehnübersetzung wiedergibt, so vor allem in den Verbindungen bürgerliches Recht und bürgerliche Sachen.
Bedeutungsspektrum: vom zivilen Gericht zum zivilen Preis
Das Adjektiv zivil kommt im 17. Jahrhundert auf, und zwar zunächst juristisch-fachsprachlich in der Bedeutung privatrechtlich
(1635, hier in der Verbindung ziviles Gericht); im allgemeinen Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts wird es auch im Sinne von gesittet, zivilisiert
verwendet (1647, 1652).
Zu diesem Wortgebrauch tritt – wohl per Bedeutungsverengung in Verbindung mit Substantiven wie Preis – seit dem 17. Jahrhundert die Lesart angemessen, nicht zu teuer, moderat
hinzu (1668, 1799): Zivile Preise sind solche, die insofern gesittet
sind, als sie den Gepflogenheiten des ehrbaren Kaufmanns entsprechen (als bezeichnung freundlich-zuvorkommenden verhaltens übertragen auf das gebiet kaufmännischer handelstätigkeit
, 1DWB 15, 1724DWDS). Die Bedeutung ist somit moderater, angemessener Preis
(vgl. dazu auch die Belege 1882, 1969). Von hier ausgehend hat sich per Übertragung auch zivile Zeit moderate Zeit, nicht zu spät oder zu früh
herausgebildet (1957).
Die rechtliche Verwendung setzt sich bis in die Gegenwart fort (1883b, 1994). Die Bedeutung gesittet, zivilisiert
wird ebenfalls weiter tradiert (vgl. 1709, 1727, 1866, 2000, 2005a).
Negative Kategorisierung: Die Hauptbedeutung nicht-militärisch
Seit dem 19. Jahrhundert wird zivil auch im Sinne von nicht-militärisch
verwendet (1858, 1872, 1905, 1932, 2019). Diese Bedeutung hat sich spätestens im 20. Jahrhundert als Hauptbedeutung etabliert, gegenüber der die anderen Lesarten in ihrer Häufigkeit deutlich zurücktreten. Im 19. Jahrhundert wird neben dem Gegensatz zivil
– militärisch
auch die Opposition zivil
- kirchlich
bzw. kirchenrechtlich
relevant, so vor allem in der Gegenüberstellung von kirchlicher und standesamtlicher Eheschließung (1835, 1896, vgl. auch 1971). Zivil kann damit auch die Bedeutung nicht-kirchlich
tragen.
Lehneinflüsse
Die wesentlichen Bedeutungslinien des Wortes zivil sind wohl nicht eigenständig im Deutschen entwickelt worden, sondern gehen auf das Lateinische bzw. Französische als Gebersprache zurück. Während die in das 17. Jahrhundert zurückreichenden rechtlichen Gebräuche sich sehr wahrscheinlich dem Lateinischen verdanken, das durch das Römische Recht entscheidenden Einfluss auf die deutsche Rechtsterminologie besaß, kommt für alle anderen Bedeutungspositionen des Wortes auch das französische civil als Quelle in Betracht. Dies gilt für die Bedeutung gesittet, zivilisiert
, aber auch für die Lesart nicht-kirchlich
, die bereits im (Mittel-)Lateinischen bzw. im Französischen präsent ist (vgl. 1DHLF 457, TLFi unter civil sowie MLW 2, 656 und ThLL 3, 1213). Das Gegensatzpaar zivil – militärisch lehnt sich dagegen wohl eher an das französische Vorbild an (vgl. 1DHLF 457, TLFi).
Die Personenbezeichnung Zivilist
Die Personenbezeichnung Zivilist ist seit dem 18. Jahrhundert belegt. Zunächst und vereinzelt ist das Wort noch als Spezialist für Zivilrecht
bezeugt (1788). In dieser Bedeutung stellt es sich als Ableitung zum Adjektiv zivil privatrechtlich
; es kann gleichzeitig auf das gleichbedeutende mittellateinische civilista als Quelle bezogen werden (s. Pfeifer unter ZivilistDWDS). Hauptbedeutung des Wortes ist jedoch die ebenfalls seit dem 18. Jahrhundert überlieferte Lesart ,nicht dem Militär angehörige Person‘ (1781, 1809, 1918, 2003). Ein direktes französisches oder lateinisches Vorbild gibt es hierfür offenbar nicht. Vielmehr handelt es sich um eine neolateinische Wortbildung mit dem Suffix -ist, welches häufig an deadjektivische Personenbezeichnungen lateinisch-griechischer Herkunft angefügt wird (vgl. Idealist, AktivistWGd usw.).
Im Hinblick auf die Bedeutung von Zivilist ist bemerkenswert, dass es sich um eine Zuschreibung ex negativo handelt: Es bezeichnet Personen, auf die eine bestimmte Eigenschaft – die Zugehörigkeit zum Militär – nicht zutrifft. Das Wort Zivilist bringt daher eine negative Kategorisierung zum Ausdruck. Gelegentlich wird es auch im Gegensatz zu Polizist (1998a, 2005b) und teils allgemein für Nicht-Uniformierter
verwendet (1998b).
In Zusammenhängen, in denen von Krieg und Gewalt die Rede ist, verbindet sich mit dem Wort Zivilist ein besonderer Bedeutungsaspekt. Hier steht die Normalitätserwartung im Hintergrund, dass Zivilisten von Krieg und Misshandlung verschont bleiben sollten, weil Krieg eine Angelegenheit zwischen kämpfenden Soldaten oder Heeren ist (2005c). Es handelt sich somit um eine deontische Bedeutungskomponente, die dem Wort innewohnt: Zivilisten sollen grundsätzlich unbehelligt bleiben. Äußerungen, in denen von Zivilisten als Opfern kriegerischer Gewalt die Rede ist, werden als empörend aufgefasst, weil sie gegen diese Normalitätserwartung bzw. diesen deontischen Bedeutungsaspekt verstoßen (2011, 2004).
In Zivil gehen: Weitere Substantivierungen
Während Zivilist durch reguläre Wortbildung aus dem Adjektiv zivil abgeleitet wird, entsteht das Substantiv (das) Zivil nicht-dienstliche, nicht-militärische Kleidung
auf anderem Wege (vgl. 1888, 1891, 2017, meist in der Verbindung in Zivil). Es kann sich dabei entweder um eine Kürzung aus Zivilkleidung/Zivilanzug (vgl. 1DWB 15, 1729DWDS) oder um eine Lehnübersetzung zu gleichbedeutendem französisch (le) civil handeln (vgl. 1DWB 15, 1729DWDS). Sehr wahrscheinlich nach dem Vorbild von französisch (le) civil ist das heute nicht mehr gebräuchliche (das) Zivil Bürgerstand, Angehörige des Bürgerstandes (im Gegensatz zum Militär)
gebildet (1824, 1877, 1913; zur Herkunft vgl. die Ausführungen in 1DWB 15, 1726DWDS).
Anmerkungen
1) Zum Beleg bei Luther vgl. auch 1DWB 15, 1734f. Als Bedeutung wird hier angegeben: nicht durch die kirche (die kirchenväter) verordnet und geheiligt, dem weltlich-bürgerlichen bereich angehörig
.
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
3Henzen Henzen, Walter: Deutsche Wortbildung. 3. durchgesehene und ergänzte Aufl. Tübingen 1965.
Idiotikon Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Bd. 1 ff. Basel/Frauenfeld 1881 ff. (idiotikon.ch)
MLW Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. In Gemeinschaft mit den Akademien der Wissenschaften zu Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz, Wien und der Schweizerischen Geisteswissenschaftlichen Gesellschaft hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Begr. von Paul Lehmann und Johannes Stroux. Bd. 1ff. Berlin 1967ff. (woerterbuchnetz.de)
Paul, Dt. Gr. Paul, Hermann: Deutsche Grammatik. Bd. 1–5. Halle a. d. S. 1916–1920.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
ThLL Thesaurus linguae Latinae. Editus iussu et auctoritate consilii ab academiis societatibusque diversarum nationum electi. Vol. I ff., 1900 ff. (Leipzig bis 1999, München/Leipzig bis 2006; Berlin/New York ab 2007). (badw.de)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Wörterbuch der Kaufmannssprache Schirmer, Alfred: Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache. Auf geschichtlichen Grundlagen. Neudruck der Ausgabe Strassburg 1911. Berlin/New York 1991.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu zivil, zivilisch, Zivil, Zivilist.