Wortgeschichte
Chaoten: Entstehung im universitären Kontext
Das Substantiv Chaot begegnet seit den 1970er Jahren im Deutschen und bezeichnet seither (gewaltbereite) Anhänger linker, zunächst insbesondere kommunistischer, politischer Gruppierungen (1973a; vgl. auch 2DWB
V, 1101). Das Wort ist damit deutlich jünger als seine Basis Chaos (aus griechisch cháos). Diese ist im Deutschen seit Anfang des 16. Jahrhunderts belegt und hat die Bedeutungen ungeordneter Urzustand der Welt
sowie völliges Durcheinander
. Ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert ist das Adjektiv chaotisch belegt. Im 20. Jahrhundert entsteht Chaot schließlich als Rückbildung zu chaotisch (vgl.
Pfeifer unter ChaosDWDS).
In den ersten Jahren begegnet das Wort zunächst in der Pluralform (1973b, 1973d, 1973e), später auch im Singular (1976, 1977b). Frühe Belege, in denen das Wort oft noch in Anführungszeichen gesetzt wird, legen nahe, dass Chaoten Anfang der 1970er Jahre im universitären Kontext für bestimmte studentische Gruppierungen geprägt wurde (1973a, 1973f). Dafür spricht auch, dass das Wort zu dieser Zeit auch gemeinsam mit anderen Bezeichnungen für Gruppierungen und Bewegungen, die in den 1970er Jahren in der Nachfolge der Studentenbewegung der 1960er Jahre für neue linke alternative Bewegungen entstehen, begegnet, so etwa SpontiWGd (1977b, 1978a) oder K-GruppeWGd (1975a, 1977d). Auch hier sind Verwendungen in Bezug auf das universitäre Milieu belegt (1975b). Da nicht nur K-Gruppe, sondern in den frühen Bezeugungen auch Chaoten gerade Anhänger von bzw. kommunistische Gruppierungen selbst bezeichnet, haben die beiden Wörter zu dieser Zeit semantische Überschneidungen (1977c).
Allgemeinsprachliche Verbreitung
Zu einer weiteren und auch allgemeinsprachlichen Verbreitung des Wortes könnte dann unter anderem ein Ereignis des Jahres 1973 beigetragen haben, genauer der Rathaussturm bzw. die Rathausbesetzung in Bonn am 10. April des Jahres – zumindest begegnet Chaoten in Zusammenhang mit dem Ereignis ab April 1973 in der Presse (1973c, 1973d). Möglicherweise hat der damalige Bundeskanzler Willy Brandt dazu beigetragen, jedenfalls wird ihm diese Wortverwendung im Kontext der genannten Ereignisse in Belegen zugeschrieben (1973h, 1973i). Nicht nur bei der Brandt zugerechneten Wortverwendung handelt es sich dann um negativ konnotierte Fremdzuschreibungen (1973c, 2000; vgl. allerdings auch 1973g). Zudem verbinden sich Vorstellungen von Gewaltbereitschaft mit dem Wort (1975a, 1981).
Im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte wird Chaoten in dieser Bedeutungslinie auch allgemeiner für linke bis linksextreme, oft gewaltbereite Alternativbewegungen verwendet. In diesem Zusammenhang entsteht die Kollokation linke Chaoten (1980b, 1999a, 2001). Spätestens seit den 1990er Jahren wird Chaoten auch in Zusammenhang mit den Autonomen verwendet (1999b, 2003, 2015); gelegentlich ist auch die Verbindung autonomer Chaot bezeugt (1996c, 1998a). Selten wird das Wort auf gewaltbereite Anhänger des im politischen Spektrum entgegengesetzten Rechtsradikalismus übertragen (1988, 1994a). Überwiegend bleibt Chaoten in dieser Bedeutungslinie im Übrigen auf zunächst bundesrepublikanische, später gesamtdeutsche Verhältnisse (1990a) bezogen. Nur selten begegnen Belege, in denen das Wort auch in Bezug auf andere Länder verwendet wird (1980a, 1990b).
Weitere Bedeutungsentwicklungen
Nur wenig später als in der politischen Bedeutung begegnet Chaot auch in einer unpolitischen: In dieser Bedeutungslinie bezeichnet das Wort besonders unorganisierte oder unstrukturierte Menschen (1977a, 1989, 1992, 1996a). Daneben sind auch Verwendungen bezeugt, in denen das Wort Menschen, die bewusst oder unbewusst gegen die tradierte gesellschaftliche Ordnung und ihre Regeln verstoßen, bezeichnet (1978b, 1996b). Vielleicht vor dem Hintergrund der Präsenz des Wortes nach 1973 entsteht diese zweite Bedeutungslinie im Anschluss an die Bedeutung völliges Durcheinander
des Grundwortes Chaos.
Eine jüngere Entwicklung, die wohl ab den 1990er Jahren anzusetzen ist, ist die Bezeichnung von radikalen und gewaltbereiten Fußballfans als Chaoten (1994b, 1998b, 2011). Diese Bedeutungsentwicklung schließt einerseits an die mit dem Wort bereits seit seiner Entstehung verbundenen Konnotationen der Gewalttätigkeit an (2013, 2014), entkoppelt das Wort aber zugleich von den Bedeutungsaspekten des linken bzw. linksextremen politische Spektrum.
Literatur
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Chaot.