Wortgeschichte
Spontaneismus und Sponti: Zwei Wörter der 1970er Jahre
Anfang der 1970er Jahre begegnen mit Spontaneismus und der Sozialfigur Sponti zwei neue Wörter im deutschen Sprachraum (1970c, 1977a). Das Kurzwort Sponti, das Anhänger einer linksgerichteten, undogmatischen Alternativbewegung in der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren bezeichnet, wird dabei wohl von Spontaneist gebildet. Spontaneismus wird seinerseits auf der marxistischen Ausdeutung des Wortes Spontaneität modelliert. So spielt unter anderem im Denken Rosa Luxemburgs die Spontaneität bzw. die spontane Selbstständigkeit der Arbeiterklasse eine Rolle (vgl. auch KWM 7, 1226–1227). Luxemburg gehört ihrerseits zu den ideengeschichtlichen Wurzeln der Sponti-Bewegung – 1970 erscheint bei Rowohlt unter dem Titel Schriften zur Theorie der Spontaneität eine Auswahl ihrer Texte (Luxemburg 1970).
Von Spontaneität zu Spontaneismus
Das Wort Spontaneismus als Bezeichnung für eine Richtung innerhalb des Marxismus, die auf die Spontaneität der MassenWGd setzt, scheint allerdings jüngeren Datums zu sein: Das KWM verliert im Eintrag Spontan, Spontaneität, Spontaneismus
kein Wort über die immerhin für den Eintrag mit titelgebende Wortbildung Spontaneismus (vgl. KWM 7, 1224–1228).1) Erstmals bezeugt ist das Wort wohl 1968 im Französischen (vgl. TLFi unter spontanéisme sowie 3OED unter spontaneism, n.). Im Deutschen begegnet Spontaneismus mit entsprechender Bedeutung ab 1970 (1970c, 1982b). Seltene frühere Bezeugungen treten in anderen Kontexten auf, haben eher die Bedeutung spontan sein
in einem sehr allgemeinen Sinn und scheinen den Status von Gelegenheitsbildungen zu haben (1913, 1933) – wobei allerdings auch auffällt, dass das Wort Mitte der 1960er Jahre gelegentlich im Kontext der Künste begegnet (1965a, 1965b). Auch das Adjektiv spontaneistisch in der Bedeutung auf den Spontaneismus bezogen
ist seit den 1970ern belegt (1971).
Spontaneist und Sponti
In etwa zeitgleich wird auch das Substantiv Spontaneist gebildet (1970a), das seinerseits ebenfalls im Englischen und im Französischen bezeugt ist (TLFi unter spontanéisme sowie 3OED unter spontaneism, n.). Im Deutschen handelt es sich bei Spontaneist zunächst um eine von den K-Gruppen, also linken Gruppierungen in Westdeutschland in den 1970er Jahren, geprägte abwertende Fremdbezeichnung für Gruppierungen, die Parteikonzepte ablehnen und stattdessen ein zu großes Vertrauen auf die Spontaneität der Massen setzen (vgl. Kasper 2019, 49; 1973). Spontaneist hat vor allem zu Anfang seines Auftretens um 1970 einen Anstieg der Verwendungsfrequenz, die dann schnell wieder absinkt (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Das hängt wohl auch damit zusammen, dass Anfang der 1970er Jahre Sponti (1977c) als Kurzwort aus Spontaneist gebildet wird (vgl. auch 10Paul, 941; 1978a). Sponti ist insgesamt deutlich weiter verbreitet als Spontaneist (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Als Selbstbezeichnung ist Sponti erstmals 1972 bezeugt (vgl. die entsprechenden Angaben in Kasper 2016/2017, 47 unter Rekurs auf Generaldebatte, internes Papier der Gruppe Revolutionärer Kampf
, Archiv 451 im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe assoziierte Gruppen
). Weitere Verbreitung findet das Wort allerdings erst ab Mitte der 1970er Jahre (vgl. auch Kasper 2019, 12, der die Durchsetzung des Wortes auf nicht eher als 1973/74 datiert).
Ab Mitte der 1980er Jahre wird Sponti verstärkt (1984, 1985a, 1985b), gegenwärtig vornehmlich im historischen Rückblick auf die 1970er Jahre verwendet (2013, 2008). Auch die Verwendungsfrequenz sinkt nun zunehmend – steigt dann um 2000 allerdings vorübergehend noch einmal an (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Joschka Fischer Außenmister wird – jedenfalls mehren sich Belege, in denen er als Sponti bezeichnet wird (1999a, 1999b, 2001a).
Von Establishment bis K-Gruppe: Spontis im semantischen Feld
Einmal als Selbstbezeichnung etabliert, kommt es zu einigen Komposita-Bildungen mit Sponti, von Sponti-Gruppe (1983, 1995b) über Sponti-Bewegung (1987, 2001b) bis hin zu Sponti-Sprüche (1982a, 2001e) und Sponti-Szene (1979, 2001f). Zu den Wörtern am entgegengesetzten Ende des semantischen Spektrums gehören Wörter wie EstablishmentWGd (2017), YuppieWGd (1989) oder SpießerWGd (2001d).
Daneben begegnet Sponti auch gemeinsam mit K-Gruppe (1977f, 1978c), was gewissermaßen innerhalb der linken Szene am anderen Ende des Spektrums liegt, insofern es sich hier um zwei gegensätzliche Strömungen innerhalb der Bewegungen, die aus dem Zerfall der Studentenbewegung hervorgegangen sind, handelt. Das Wort K-Gruppe ist dabei seit der ersten Hälfte der 1970er Jahre belegt und bezeichnet kommunistische Gruppierungen der 1970er Jahre (1974a, 1975b). Es ist ein Kurzwort zur Verbindung kommunistische Gruppe, die als zwar deutlich älter ist (exemplarisch 1912, 1923), aber erst ab 1970 auf – insbesondere studentische (1974b) – kommunistische Kleingruppierungen, die in der Nachfolge der Studentenbewegung der 1960er Jahre entstehen, bezogen wird (1970b, 1972). Es handelt sich dabei um eine Sammelbezeichnung für eine Reihe an Gruppierungen (1975a) – insofern begegnet das Wort nicht ausschließlich, aber doch häufig im Plural. Zu den Konnotationen gehören stärker als beim Wort Spontis eine gewisse Nähe zu Gewalt und zum Linksterrorismus der 1970er Jahre (1977d, 1977h, 1977g, 1996). Auffallend ist zudem, dass es häufiger gemeinsam mit dem Wort ChaotenWGd begegnet (1975c, 1977b, 1977e). Hier wiederum haben K-Gruppe und Spontaneismus bzw. Sponti semantische Überschneidungen (1977a, 1978b, 2001c). Vor dem Hintergrund der zunehmenden Auflösung der K-Gruppen wird auch dieses Wort verstärkt im Rückbezug auf die 1970er, bisweilen auch 1980er Jahre verwendet (1993, 1995a).
Anmerkungen
1) Ein Eintrag zu Spontaneität
ist im HKWM offenbar geplant, zum Zeitpunkt der Arbeit an diesem Artikel aber noch nicht publiziert.
Literatur
HKWM Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug. Bd. 1 ff. Hamburg 1994 ff.
Kasper 2016/2017 Kasper, Sebastian: Das Ende der Utopien. Der Wandel der Spontis in den langen 1970er-Jahren. Inaugural-Dissertation, Universität Freiburg im Wintersemester 2016/2017. (uni-freiburg.de)
Kasper 2019 Kasper, Sebastian: Spontis: eine Geschichte antiautoritärer Linker im roten Jahrzehnt. Münster 2019.
KWM Haug, Wolfgang Fritz/Labica, Georges (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Berlin u. a. 1983.
Luxemburg 1970 Luxemburg, Rosa: Schriften zur Theorie der Spontaneität. Reinbek bei Hamburg 1970.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Spontaneismus, Sponti, K-Gruppe.