Wortgeschichte
Jugendkultur: Wynekens Wortprägung im Umfeld der Jugendbewegung
Jugendkultur taucht als Kompositum bereits im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gelegentlich auf. Je nach Kontext ist die Bedeutung des Kompositums dann durchaus unterschiedlich, das Spektrum reicht von einer Frühphase in der Kulturgeschichte
(1795) bis hin zu Ausbildung der Jugend
in pädagogischen Kontexten (1820). Zu einem eigenständigen Wort mit fester Bedeutung wird Jugendkultur aber erst rund hundert Jahre später am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Wortprägung wird gemeinhin auf den Reformpädagogen Gustav Wyneken zurückgeführt; für dessen 1913 publizierten Band Schule und Jugendkultur ist das Wort sogar titelgebend. Jugendkultur bezieht sich bei ihm zunächst auf einen Lebensstil der Jugend, der sich von demjenigen der Erwachsenen unterscheidet und der Lebensphase der Jugend angemessen sei (1919b, 1919a, 1919c). Voraussetzung dafür, dass sich ein eigenständiges Konzept von Jugendkultur und damit auch ein Wort mit dieser Bedeutung ausbilden konnte, ist einerseits ein spezifisches Verständnis von Jugend als Übergangsphase zwischen Kindheit und dem Leben als Erwachsener, andererseits ein deutlich positives Verständnis dieser Phase (1919g).
Wyneken steht nicht nur für eine Reformpädagogik ein, sondern spielt wenigstens zeitweise auch eine wichtige Rolle für die Jugendbewegung der Jahrhundertwende, genauer für den Wandervogel; in diesem Umfeld entsteht das Wort Jugendkultur.
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Wenn das Wort Jugendkultur Mitte der 1910er Jahre von einem Reformpädagogen und Jugendbewegten geprägt wird, dann entsteht es zugleich in einem bestimmten diskursiven Umfeld, genauer vor dem Hintergrund der Reform- und Jugendbewegungen der Jahrhundertwende. Beide richten sich mit ihren Reformvorschlägen und Entwürfen alternativer Lebensformen gegen die bürgerliche Gesellschaft ebenso wie gegen die industrielle Moderne und ihre Begleiterscheinungen. Wenn Jugendkultur also in diesem Kontext sowohl als Konzept als auch als Wort entsteht, dann haben beide auch entsprechende Implikationen. So lässt sich beispielsweise der Synthesegedanke, der Denken und triadisches Geschichtsmodell der Lebensreformbewegung strukturiert, bis in Wynekens Vorstellung von Jugendkultur hinein verfolgen (1919e).
Zugleich ist deutlich, dass das Wort gerade nicht von der adressierten Jugend selbst, sondern von einem Pädagogen, der zu diesem Zeitpunkt immerhin schon Mitte dreißig ist, geprägt wird. Vor diesem Hintergrund ist ein entscheidender semantischer Unterschied zwischen dem Wort zur Zeit seiner Entstehung und dem jüngeren Gebrauch in der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts zu beobachten: Jugendkultur ist bei Wyneken nicht als eine autonome Subkultur der Jugendlichen zu verstehen (1919c). Vielmehr verbindet sich gerade in Wynekens Konzeption mit der Forderung nach einem eigenständigen LebensstilWGd zugleich die nach einer geistige[n] Führung
der Jugend (1919d). Bis heute stabil sind hingegen andere Bedeutungsaspekte: Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbindet sich mit dem Wort Jugendkultur eine zumindest teilweise Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen über Merkmale wie Sprache oder Kleidung (1919f, 1994a).
1933 bis 1945: Jugendführung statt Jugendkultur
Zwischen 1933 und 1945 verliert das Wort Jugendkultur an Bedeutung und Jugendführung tritt in den Vordergrund. Jugendführung ist als Wort deutlich älter als Jugendkultur, es lässt sich mit der Bedeutung Erziehung
bereits um 1800 nachweisen (vgl. exemplarisch 1779 und 1822). Noch in den 20er und frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wird Jugendführung in dieser Bedeutung etwa in religiösen Kontexten verwendet (1926, 1934a). Spätestens Mitte der 1930er Jahre wird das Wort in den NS-Wortschatz aufgenommen, wovon die Gründung der Reichsjugendführung
ebenso wie die der Akademie für Jugendführung
zeugt (1934b, 1935). Verzeichnen lässt sich zu dieser Zeit dann einerseits eine Betonung von Kontinuität ebenso wie Weiterentwicklung der Jugendbewegung; andererseits ist auch eine Distanzierung von Wort und Konzept der Jugendkultur zu beobachten (vgl. etwa Beleg 1936, in dem Jugendkultur nicht nur in Anführungszeichen gesetzt, sondern die Beschäftigung mit derselben auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg datiert wird; dass der Weltkrieg die Beschäftigung mit neue[n] Ziele[n]
hervorgerufen habe, kann in diesem Zusammenhang fast als Korrektiv einer Beschäftigung mit Jugendkultur
gelesen werden). Mit der Verschiebung von Jugendkultur hin zu einem Wort, dass die Führung
anstelle der Kultur
der Jugend betont, manifestiert sich insofern wortgeschichtlich, was seine sachgeschichtliche Entsprechung in der Gleichschaltung der Jugendbewegung hat (vgl. auch 2002).
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Dass das Wort Jugendkultur vor dem Hintergrund der Gleichschaltung der Gesellschaft an Bedeutung verliert, heißt jedoch nicht, dass es sachgeschichtlich nicht so etwas wie eine – zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gelagerte – Jugendsubkultur auch während der NS-Zeit gegeben hat (vgl. hierzu Speitkamp 1998, hier insb. in Kapitel VI Nationalsozialistische Herrschaft (1933–1945) den Abschnitt 3 Jugendprotest und Widerstand, in dem auf Resistenz in den traditionellen Milieus, Widerstand aus dem Geist der Jugendbewegung und auf JugendcliquenWGd, Jugendsubkultur und Protest eingegangen wird).
Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklung bezieht sich das Wort Jugendführung heute insbesondere in der historischen Perspektive auf die Zeit des Nationalsozialismus (2004); daneben lassen sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch gelegentliche Verwendungen mit der Bedeutung Anleitung der Jugend
etwa im Sportbereich nachweisen (1962).
Jugendkultur/Subkultur. Eine Annäherung nach 1945
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere ab den 1960er Jahren, gewinnt das Wort Jugendkultur dann wieder an Relevanz. Wesentliches Merkmal von Jugendkultur ist die Abgrenzung von der Mehrheitsbevölkerung (1982), insbesondere von den Erwachsenen (1985), etwa über äußerliche Merkmale wie den Kleidungsstil (1994a) oder Musik (1994b). Jugendkultur rückt nun zunehmend in die Nähe von SubkulturWGd (1991), was sich nicht zuletzt in der gelegentlichen Verwendung des Wortes Jugendsubkultur (1974, 2003, 2016) manifestiert. Gegenwärtig deutet sich eine Erweiterung des Referenzbereichs von Jugendkultur an: In einigen jüngeren Texten (2010) wird die Reichweite des Wortes reflektiert, das wohl zunehmend nicht mehr nur von Jugendlichen im engeren Sinn, sondern auch von sich als jugendlich geblieben verstehenden Erwachsenen getragen wird. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich eine Annäherung von Jugendkultur und Subkultur.
Literatur
Speitkamp 1998 Speitkamp, Winfried: Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1998.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Jugendkultur, Jugendführung.