Wortgeschichte
Zu den Ursprüngen des Subkulturgedankens in der Kriminologie
Das Wort Subkultur wurde, insoweit es sich auf menschliche Gesellschaften bezieht, Mitte der 1940er Jahre in der Wissenschaft geprägt, bevor es in die Alltagssprache eingegangen ist. Seine Ursprünge hat das Konzept – ohne dass das Wort selbst schon verwendet wird – bereits deutlich früher. So gilt zum einen Émile Durkheim, der unter dem Anomiebegriff das Verhalten marginalisierter Minderheiten erfasst hat, als einer der Wegbereiter des Subkulturgedankens (vgl. hierzu bereits Fritz Sack in HWPh 10, 475). Zum anderen hat der Subkulturgedanke seine Wurzeln in der Kriminologie der 1920er Jahre: In dieser Zeit sind insbesondere im Umfeld der Chicagoer Schule Studien über kriminelle Milieus sowie insbesondere Jugendgruppen durchgeführt worden. Verwendet werden dabei Wendungen wie Kultur der Armut oder kriminelle Kultur (vgl. Vaskovics 1989, 587).
Wortprägung in der Soziologie der 1940er Jahre
Mitte der 1940er Jahre wird das Wort Subkultur dann im englischsprachigen Wissenschaftsdiskurs geprägt (1947, 1946; die Wortprägung wird gemeinhin Gordon zugeschrieben [vgl. Gordon 1947], der das Wort aber seinerseits nur übernimmt). Subkultur bezieht sich nunmehr auf eine innerhalb eines Kulturbereichs bzw. einer Gesellschaft bestehende, von einer bestimmten gesellschaftlichen, ethnischen oder ähnlichen Gruppe getragene Teil- oder Gegenkultur mit eigenen Normen und Werten. Im englischsprachigen Raum wird das Subkulturkonzept seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts theoretisch ausgearbeitet. Von dort werden Konzept und Wort zeitverzögert auch in den deutschsprachigen wissenschaftlichen, genauer soziologischen, Diskurs übernommen (1964, 1969a). Dass das Wort als Bezeichnung für die zuvor noch unter Kultur der Armut bzw. kriminelle Kultur gefassten Sachverhalte eingeführt wird, zeigt noch die Wortverwendung bei Günter Albrecht (1969b), der Ende der 1960er Jahre unter dem Titel Die Subkultur der Armut
und die Entwicklungsproblematik einen Überblick über die angloamerikanische Forschung im deutschsprachigen Raum vorlegt. Ein Schwerpunkt der Subkulturforschung liegt im Bereich der JugendkulturWGd (1974, 2016a).
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Jugendkultur/Subkultur
In der weiteren Entwicklung wird die Subkultur der Jugend bzw. Jugendkultur zu einem der Schwerpunkte im Bereich soziologischer Subkulturforschung: Robert R. Bell prägt für den Bereich der Soziologie die Vorstellung von Jugend als eines einheitlichen Sozialgebildes, das es aus strukturfunktionalistischer Perspektive in das Gesamtsystem Gesellschaft
zu integrieren gelte. Das Birminghamer Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) greift diese Überlegungen Anfang der 1970er Jahre auf und entwickelt sie weiter (vgl. 3Wörterbuch der Soziologie, 522). Jugendkultur wird hier also als eine Form gesellschaftlicher Subkultur verstanden und zum Forschungsgegenstand. Von der Jugendkulturforschung gehen wiederum Impulse für die Subkulturforschung im Allgemeinen aus (vgl. zur Bedeutung des CCCS für die Entwicklung des Konzeptes von Subkultur den Beitrag von Sack in HWPh 10, 474–476).
In der Wissenschaft handelt es sich beim Wort Subkultur um eine primär analytische Kategorie (1981), die insofern zunächst ahistorisch und wertfrei ist oder sein sollte (1971b) – womit sich die soziologische Wortverwendung von einem breiteren, zum Teil auch wertenden alltagssprachlichen Wortgebrauch unterscheidet. Zugleich ist Subkultur gerade im Bereich der Soziologie, insofern das Wort lediglich als ein Sammelbegriff für Abweichungen von der dominanten Gesellschaft fungiert, nicht unumstritten (vgl. 3Wörterbuch der Soziologie, 523).
Alltagssprache: Uneinheitliche Verwendung zwischen Selbstbezeichnung und Schimpfwort
Bereits Anfang der 1960er Jahre ist das Wort Teil der Alltagssprache (1962), wird hier aber nicht einheitlich verwendet. So kann die Bedeutung von Subkultur sich darin erschöpfen, lediglich einen Teilbereich der Kultur zu adressieren (2000), sie kann aber auch solche gesellschaftlichen Gruppen meinen, die dezidiert andere Normen und Werte als die dominante Kultur vertreten, was bis hin zur Regimekritik reicht (1997, 2013). Subkultur wird hier synonym zu Gegenkultur verwendet. Zu unterscheiden gilt es darüber hinaus Eigen- (2005b) und Fremdbezeichnungen (2000), was mitunter auch mit unterschiedlichen Implikationen einhergeht. Gerade in Fremdbezeichnungen kann – muss allerdings keinesfalls – eine abwertende Haltung gegenüber dem bezeichneten gesellschaftlichen Teilbereich mitschwingen (vgl. etwa die Belege 1962, 1966, 2000, in denen Subkultur negativ besetzt ist; dahingegen die Belege 2016b und 2005a ohne negative Besetzung), die bis hin zur Verwendung des Wortes als Schimpfwort reicht, wie Rolf Schwendter bereits Anfang der 1970er Jahre konstatiert (vgl. Schwendter 1971, 12). Insbesondere in der Anfangszeit bezieht sich das Wort Subkultur schließlich bevorzugt auf linksorientierte Bewegungen, und zwar sowohl positiv als auch negativ besetzt (1971a; vgl. auch Schwendter 1971, 12).
Ökonomische Implikationen im Wirtschaftsdiskurs
Gegenüber der Soziologie zeitverzögert finden Wort und Konzept der Subkultur auch Eingang in den Wirtschaftsdiskurs. Während das Gabler Wirtschaftslexikon im Jahr 1971 noch keinen Eintrag verzeichnet, gehört Subkultur inzwischen zu den Lemmata des Print- und Online-Lexikons. Subkultur wird hier zunächst auch über (konfliktäre) Abweichungen von der Mehrheitskultur definiert (vgl. Gabler online unter Subkultur). Wenn daran anschließend darauf verwiesen wird, dass Subkulturen das Kauf- und Konsumverhalten bestimmen, so ist deutlich, dass das Konzept von Subkulturen hier an genuin (betriebs-)wirtschaftliche Überlegungen rückgebunden ist und insofern andere Implikationen als in der Soziologie oder in der Alltagssprache hat. Subkulturen sind im Bereich der Wirtschaft insofern etwa in den Bereichen Marketing und Kundenpflege von Relevanz (vgl. auch 2001).
Von Kolonien zu Kulturen und Subkulturen: Zur einer anderen Wortentwicklung in der Mikrobiologie
In der Biologie bezeichnet Subkultur eine Mikroorganismenkultur, die von einer bereits vorhandenen Kultur abstammt (1972). Hier verläuft die Entwicklung unabhängig von der soziologischen Wortentwicklung. Voraussetzung ist wohl die Übertragung des Wortes KolonieWGd auf Einzeller, die Carl Nägeli in seiner Abhandlung Gattungen einzelliger Algen physiologisch und systematisch bearbeitet 1849 vollzieht (Nägeli 1849; vgl. hierzu Brasch 2017, 34). Bakterienkolonie meint hier zunächst Ansammlung an Mikroorganismen
(1878). Vermutlich vor diesem Hintergrund wird in der Mikrobiologie dann von Kulturen gesprochen, hier in der Bedeutung einer planmäßige[n] künstl. Anzucht v. Mikroorganismen (z. B. Bakterien-K.en) u. Viren sowie von pflanzl., tier. und menschl. Zellen, Geweben od. Organismen, deren Wachstum u. Vermehrung unter kontrollierten Bedingungen […] beobachtet werden
(Lexikon der Biologie 5, 150). Im englischsprachigen Raum lässt sich diese Verwendung von Kultur mindestens bis in die 1880er Jahre zurückverfolgen (vgl. 3OED unter culture, n. I 3), aber auch im deutschsprachigen Raum bürgert sich Bakterienkultur ein. 1896 gehört der Kulturbegriff jedenfalls zur Fachterminologie: Der Atlas und Grundriss der Bakteriologie und Lehrbuch der speciellen bakteriologischen Diagnostik von K. B. Lehmann und Rudolf Neumann hat ein ganzes Kapitel zum Thema Kultur der Bakterien (Lehmann/Neumann 1896, 416–421; vgl. auch 1896, 1912). Vor diesem Hintergrund bildet sich dann die Unterform Subkultur aus; auch im Englischen ist subculture bereits seit Mitte der 1880er Jahre nachweisbar (3OED unter subculture, n. 1).
Literatur
Albrecht 1969 Albrecht, Günter: Die „Subkultur der Armut“ und die Entwicklungsproblematik. In: René König (Hrsg.): Aspekte der Entwicklungssoziologie. Köln/Opladen 1969, S. 430–471.
Brasch 2017 Brasch, Anna S.: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der „Kolonie“ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017.
Gabler online Gabler Wirtschaftslexikon Online. Das Wissen der Experten. Wiesbaden 2009 ff. (gabler.de)
Gordon 1947 Gordon, Milton M.: The Concept of the Sub-Culture and Its Application. In: Social Forces 26/1 (Oct. 1947), S. 40–42.
Green 1946 Green, Arnold W.: Analysis of Horney and Fromm. In: The American Journal of Sociology (May 1946), Bd. 51, H. 6, S. 533–540.
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
Lehmann/Neumann 1896 Lehmann, Karl B./Rudolf Otto Neumann: Atlas und Grundriss der Bakteriologie und Lehrbuch der speciellen bakteriologischen Diagnostik. Teil 2: Text. München 1896.
Lexikon der Biologie Lexikon der Biologie. In acht Bänden: Allgemeine Biologie, Planzen – Tiere. Freiburg i. Br. u. a. 1983–1987.
Nägeli 1849 Nägeli, Carl: Gattungen einzelliger Algen. Physiologisch und systematisch bearbeitet. Mit acht lithographirten Tafeln. Zürich 1849.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Schwendter 1971 Schwendter, Rolf: Theorie der Subkultur. Köln/Berlin 1971.
Vaskovics 1989 Vaskovics, L. A.: Subkulturen – ein überholtes analytisches Konzept? In: Max Haller/H.-J. Hoffmann-Nowotny/W. Zapf (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988. Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 587–599. (nbn-resolving.org)
3Wörterbuch der Soziologie Wörterbuch der Soziologie. Hrsg. von Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff/Nicole Burzan. 3., völlig überarb. Aufl. Konstanz u. a. 2014.