Wortgeschichte
Reiter an der Spitze
Das Kompositum Spitzenreiter, das sich aus dem Bestimmungswort Spitze und dem Grundwort Reiter zusammensetzt, tritt erstmals als Familienname in Österreich auf (1711). Als Appellativum ist das Wort jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegt (1868), gelegentlich auch in der Wortform Spitzreiter (1893).
Spitzenreiter wird zunächst in konkreter Bedeutung gebraucht. Es bezeichnet eine Person, die auf einem Pferd vorausreitet (vgl. auch Vorreiter). Das Wort findet in militärischen Zusammenhängen in der Lesart (vorausgeschickter) Reiter an der Spitze eines Trupps
Verwendung (1868, 1894, 1908). Daneben bezeichnet die Bildung Reiter, die bei fürstlichen Wagenfahrten oder Festzügen an der Spitze vorwegreiten (1872, 1878, 1904). Eine Häufung von Belegen im militärischen Kontext gibt es während des Ersten Weltkriegs (1914, 1915a); danach wird Spitzenreiter in konkreter Bedeutung selten gebraucht.
In der Rangliste ganz vorne
Seit den 1910er Jahren erfährt Spitzenreiter einen Bedeutungswandel. Die Position des Reiters an der Spitze von Gruppen, Paraden u. ä., die als Symbol für Führung interpretiert wird, dient als Grundlage der metaphorischen Verwendung des Worts in der Lesart Person, Gruppe, Sache, die in bestimmter Hinsicht (Leistung, Erfolg, Qualität, Quantität) eine Spitzenstellung einnimmt
(1913a, 1915b, 1929). Spitzenreiter wird nun in verschiedenen Kontexten im Zusammenhang mit Hierarchien und Ranglisten verwendet: Es kann sich beispielsweise auf Regionen, Städte oder Länder beziehen (1924, 2016b), im wirtschaftlichen Kontext auf Unternehmen oder Produkte (1969, 1977)) oder im kulturellen Bereich auf erfolgreiche Filme, Theaterstücke oder Songs, die in Hitlisten ganz vorne stehen (2001, 2007, 2012). Das Wort steht in der Verbindung absoluter Spitzenreiter (1998a, 2003, 2016a) und in antonymischer Beziehung zu Schlusslicht Schlechtester, Letzter in einer Gruppe
(1992).
Häufig wird Spitzenreiter im Kontext sportlicher Wettbewerbe in der Lesart Sportler, Team, Verein, die eine Spitzenposition (im Wettkampf, in der Liga, Tabelle) einnehmen
verwendet. Die frühesten Gebräuche lassen sich in Berichten über Automobil- und Radsportveranstaltungen seit den beginnenden 1910er Jahren nachweisen. In Analogie zum Reiter, der an vorderster Stelle reitet, bezeichnet das Wort hier den Rennfahrer, der an der Spitze des Teilnehmerfeldes fährt (1912, 1913b). Seit den 1920er Jahren ist das Wort nicht mehr nur im Zusammenhang mit Rennsportveranstaltungen gebräuchlich. Spitzenreiter findet nun vermehrt im Bereich des Fußballs Verwendung und bezeichnet hier die Mannschaft, die in der Liga an erster Stelle steht (1921, 1927, 1937). In Bezug auf andere Sportdisziplinen wird das Wort verwendet, um Athleten oder Teams zu bezeichnen, die aufgrund ihrer vorherigen Leistung voraussichtlich die erfolgreichsten in ihrer Disziplin sein werden (vgl. auch FavoritWGd). Spitzenreiter steht häufig im Kontext mit den Antonymen Schlusslicht und Underdog (1998b, 2005). Neben unangefochtener Spitzenreiter (2016c) tritt auch hier die Verbindung absoluter Spitzenreiter auf (2013, 2023; vgl. die gegensätzliche Wortverbindung absoluter Underdog).
Ausgezeichneter Reiter
Im Bereich des Reitsports hat Spitzenreiter noch eine weitere Bedeutung, die seit den 1960er Jahren bezeugt ist: Das Wort bezeichnet einen Reiter, der sich durch herausragende Fähigkeiten und Leistungen auszeichnet (1961, 1968, 1994). Streng genommen handelt es sich um eine andere Stichworteinheit, da hier nicht die Bildung als Ganzes metaphorisiert ist, sondern das Zweitelement der Wortbildung, also Reiter, die Grundbedeutung trägt. Das Erstelement Spitzen- hat hier – ausgehend von der Bedeutung höchste Qualität
– augmentative Funktion und präzisiert die Bedeutung der Bildung zu hervorragender Turnierreiter
. Die morphologische Struktur von Wortbildungen mit Spitzen- (wie auch Spitzenbier, Spitzendarsteller, Spitzenmann) werden in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedlich beschrieben: Sie werden entweder als Präfixbildungen (vgl. Duden online unter Spitzen-) oder als kompositionelle Augmentativa betrachtet (Fleischer/Barz 2012, 143).
Literatur
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Spitzenreiter.