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Zeitenwende Weltenwende

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Zeitwende bzw. Zeitenwende ist mit der Bedeutung tiefgreifende Zäsur in der (Zeit-)Geschichte, die einen ganzen Kulturraum oder die ganze Welt betrifft seit Beginn des 19. Jahrhunderts belegt und in dieser Bedeutung seither stabil. Daneben treten Verwendungen in der Bedeutung Beginn der christlichen Zeitrechnung. Seit dem 19. Jahrhundert begegnet zudem Weltwende bzw. Weltenwende in synonymer Lesart. Ab 1900 steigt die Verwendungshäufigkeit von Zeitenwende. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfährt das Wort zudem eine Bedeutungserweiterung und bezeichnet nun auch Umbruchsituationen im Allgemeinen.

Wortgeschichte

Bildung am Beginn des 19. Jahrhunderts

Das Substantiv Zeitenwende, ein Kompositum aus den deutlich älteren Wörtern Zeit und WendeWGd, ist seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts belegt (1822a), in der heute weniger verbreiteten Formvariante Zeitwende etwas früher (1814). Seither trägt das Wort zentral die Bedeutung tiefgreifende Zäsur in der (Zeit-)Geschichte, die einen ganzen Kulturraum oder die ganze Welt betrifft (1835b, 1844, 1918).

Es ist wohl kein Zufall, dass Zeitwende bzw. Zeitenwende am Beginn des 19. Jahrhunderts gebildet wird. So kann mit der entsprechenden geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung angenommen werden, dass sich eine neuartige Vorstellung von Zukunft als eines einheitlichen geschichtlichen Zeitraums, in dem Zukunft als potentiell ergebnisoffen und gestaltbar erfahrbar wird, erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ausbildet. Erst vor diesem Hintergrund werden dann, so die These, um 1800 auch Vorstellungen von plötzlichen und tiefgreifenden Brüchen innerhalb dieses Prozesses möglich.

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Auf der Grundlage der Annahme, dass Zukunftsvorstellungen kulturelle Konstruktionen (vgl. Assmann 1999, etwa 1, Assmann 2013, hier insb. die Einleitung, sowie Handbuch Kulturwissenschaften 1, 401–416), mithin historisch spezifische Denkformen sind (Hölscher 2016, 12), kann in wissensgeschichtlicher Perspektive die These aufgestellt werden, dass die Ausbildung einer neuartigen Zukunftsvorstellung um 1800 zur epistemischen Voraussetzung der beschriebenen wortgeschichtlichen Entwicklungen wird. Eine Vorstellung von Zukunft als eines einheitlichen geschichtlichen Zeitraums bilde sich, so die entsprechende geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschung1), erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts und in engem Zusammenhang mit dem neuzeitlichen Konzept der Geschichte aus (Hölscher 2016, hier 11).2) Erst in dem Moment aber, in dem Zukunft um 1800 als potentiell ergebnisoffen und gestaltbar erfahrbar wird, kann, so die These aus wissenshistorischer Perspektive, auch die Frage nach plötzlichen und tiefgreifenden Brüchen innerhalb dieses Prozesses allererst auftreten. Und erst vor diesem Hintergrund entsteht, so die These, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben anderen zeitbezogenen Wörtern wie beispielsweise dem neuen Adjektiv zukunftsfähigWGd auch das Substantiv Zeitenwende.

In der Bedeutung tiefgreifende Zäsur in der (Zeit-)Geschichte ist Zeitenwende bis in die Gegenwart hinein stabil (1881, 1927, 1948, 1979, 1999a). Daneben stehen Verwendungen in der Bedeutung Beginn der christlichen Zeitrechnung (1939), die bis heute begegnen (1997), inzwischen aber als veraltend gelten, mithin langsam außer Gebrauch kommen (vgl. etwa die Buchung in DWDS unter ZeitenwendeDWDS).

Zunehmende Verbreitung ab der Jahrhundertwende

Ab etwa 1900 steigt die Verbreitung beider Formvarianten Zeitwende und Zeitenwende zunächst langsam, ab den 1920er Jahren dann deutlicher mit einem Höhepunkt in den 1940er Jahren, bevor die Verwendungshäufigkeit vorläufig wieder sinkt (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Insgesamt sind die beiden Varianten bis Mitte des 20. Jahrhunderts etwa gleich weit verbreitet – dann aber treten sie hinsichtlich ihrer Verwendungshäufigkeit deutlich auseinander: Zeitwende ist nun erkennbar rückläufig in der Verbreitung, wohingegen die Bezeugungshäufigkeit von Zeitenwende ansteigt.

Bedeutungserweiterung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit etwa zeitgleich zur weiteren Verbreitung der Variante Zeitenwende erfährt das Wort eine Bedeutungserweiterung: Es wird nun auch allgemeiner für Umbruchsituationen verwendet (1967a, 1982a). In diesem Zusammenhang lassen sich nun vermehrt auch Wortverbindungen nachweisen, die die Art des Umbruchs spezifizieren, der nicht mehr einen gesamten Kulturraum, sondern lediglich einen größeren oder kleineren gesellschaftlichen Teilbereich umfasst. Beispiele hierfür wären stilistische Zeitwende (1956), ökonomische Zeitwende (1982b), politologische Zeitenwende (1983) sowie nicht zuletzt politische Zeitenwende (1995). Komposita mit Zeitenwende wie etwa Fußball-Zeitenwende (2000) sind dahingegen äußerst selten.

Wort des Jahres 2022

In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 zum Angriff Russlands auf die Ukraine vom 24. Februar desselben Jahres verwendet der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz mehrfach und prominent das Wort Zeitenwende (vgl. 2022a). Scholzʼ Verwendung ist damit wohl in zwei wortgeschichtlichen Entwicklungslinien einzuordnen: Zum einen verwendet er es in der seit dem 19. Jahrhundert belegten speziellen Bedeutung tiefgreifende Zäsur in der (Zeit-)Geschichte. Zum anderen mögen mindestens indirekt aber auch die steigende Verbreitung des Wortes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die infolge der Bedeutungserweiterung zu beobachtende zunehmende Bezugnahme auf politische Ereignisse im Allgemeinen (1992, 2004, 2017) im Hintergrund stehen.

Von Beginn an wird das Wort Zeitenwende im Anschluss an Scholz‘ Rede in den Medien nicht nur aufgenommen (vgl. nur 2022b, 2022c, 2022e), sondern seine Verwendung in der Regierungserklärung sowie die Relevanz und Reichweite dieser Besetzung auch explizit reflektiert:

Als Olaf Scholz vergangenen Sonntag während der Sondersitzung des Bundestages zum Krieg in der Ukraine eine Regierungserklärung hielt, arrangierte er seine Rede um einen Schlüsselbegriff. Diesen nannte er gleich im ersten Satz: Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Kurz darauf wiederholte Scholz diesen Begriff, verstärkte und untermauerte ihn: Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Bis zum Ende der Rede fiel Zeitenwende noch drei weitere Male.
Das wesentliche Mittel einer demokratischen, den Grundsätzen der Verfassung unterliegenden Politik ist Sprache. Sprache kann Wirklichkeiten abbilden und verdichten. Umgekehrt kann Sprache aber auch Wirklichkeiten stiften, eingreifen, Orientierung bieten und mitunter weitreichende Entscheidungen herbeiführen. Letzteres hatte die Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum Ziel: Die Einrichtung eines sogenannten Sondervermögens Bundeswehr mit einmalig 100 Milliarden Euro – um laut Scholz notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben zu finanzieren. [2022d]

Scholzʼ Rede wird im Übrigen auch als Zeitenwende-Rede bezeichnet (2022f, 2022g). Die prominente Besetzung des Wortes in der Regierungserklärung führt schließlich dazu, dass Zeitenwende von der Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres 2022 erklärt wird (vgl. auch die Begründung der GfdS).

Zeitenwende, Weltenwende. Synonyme

Neben Zeitenwende begegnet mit Weltwende (1843, 1860), dann auch Weltenwende (1869), seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Synonym in der Lesart tiefgreifende historische Zäsur. Diese Lesart ist bis heute stabil (1911, 1944, 2009b). Das 1DWB geht davon aus, dass eine Gelegenheitsbildung von Immermann, Weltwendung, der Bildung des Wortes Weltwende vorangegangen sei, die auf 1835 zu datieren ist (1835a; vgl. 1DWB 28, 1734–1735). Tatsächlich ist Weltwendung allerdings bereits seit den 1820er Jahren – und damit sicherlich nicht zufällig in etwa zeitgleich zu den Erstbezeugungen von Zeitwende bzw. Zeitenwende – nachweisbar (1822b).

Bis etwa 1920 sind Weltenwende und Zeitenwende in etwa gleich häufig belegt; anders als Zeitenwende steigt die Bezeugungsfrequenz von Weltenwende danach allerdings nicht an (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Die semantische Entwicklung von Weltenwende weist Parallelen zu Zeitenwende auf: Auch Weltenwende ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allgemeinerer Bedeutung bezeugt (1967b). Nicht zuletzt begegnet das Substantiv wie Zeitenwende auch (1989, 2009a) nach 1989/90 häufiger auch in Bezug auf die deutsche Wiedervereinigung und den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks (1993, 1999b; vgl. in diesem Zusammenhang auch WendezeitWGd).

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu insb. Hölscher 2016, hier v. a. die beiden Abschnitte Auf dem Weg zur Moderne und Die Periode der Entdeckung 1770–1830; daneben auch Assmann 1999, 50–53, sowie HWPh 12, 1426–1436, hier insb. 1429–1430.

2) Damit soll natürlich nicht gesagt werden, dass es zuvor keine sprachlich expliziten und im Handeln impliziten Bezugnahmen auf Zukünftiges (sic) gegeben hat, dass menschliches Denken und Handeln nicht immer in der Zeit stattfinden. Die Fähigkeit, sich selbst in die Zukunft und in die Vergangenheit hinein zu entwerfen, ist jedoch, so die These, eine historisch spezifische Denkform: Zwar gab es schon immer zukünftige Ereignisse, die die Menschen erwarteten, aber nicht immer gab es die Vorstellung von einer homogenen, allmählich verfließenden Zeit, in der sich solche Ereignisse vorausschauend ansiedeln lassen. (Hölscher 2016, 10; vgl. zu dieser Abgrenzung auch Hölscher 2016, 11–12).

Literatur

Assmann 1999 Assmann, Aleida: Zeit und Tradition: Kulturelle Strategien der Dauer. Köln 1999.

Assmann 2013 Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013.

1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)

DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)

Handbuch Kulturwissenschaften Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1–3. Stuttgart u. a. 2004.

Hölscher 2016 Hölscher, Lucian: Entdeckung der Zukunft. 2. Aufl. Göttingen 2016.

HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.

Belegauswahl

Also: Die Reformation ist die Zeitwende, aber nicht zum Dienst der Eigenmacht, sondern zunächst zum Gehorsam gegen das Evangelium.

Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur 17 (1814), Nr. 53, S. 840. (books.google.de)

Hier liegt eigentlich die Zeitenwende der Eidgenoßenschaft, und zwar die von ihrem höchsten äußern Gedeihen zum sichtbaren Verfall der Republik.

Troxler, F. B. B.: Was verloren ist, was zu gewinnen. Zwei Reden, gehalten in der Versammlung der helvetischen Gesellschaft zu Schinznach am 8. Mai 1822. [Glarus 1822], S. 47. (books.google.de)

Wie in der zunächst vergangenen Weltwendung, so auch in der nächstkünftigen sieht er diesem Zeichen vertrauend Preußens Geschick in allen Verwickelungen gloreich bewahrt.

Morgenblatt für gebildete Stände, 24. 7. 1822, Nr. 176, S. 704. (books.google.de)

Vielleicht keimte in diesen Zeiten in mir der Gedanke, meine Lebenserinnerungen aufzuschreiben, welche insofern einen eigenen Charakter haben, als fast jede meiner Lebensentwicklungen mit einer großen historischen Weltwendung zusammenfiel, und durch das Individuum daher gewißermaßen die allgemeine Geschichte hindurchging.

Immermann, Karl: Zwischen Poesie und Wirklichkeit. Tagebücher 1831–1840. Nach Handschriften unter Mitarbeit von Bodo Fehlig herausgegeben von Peter Hasubek. München 1984, S. 307.

Unverkennbar spielten die Bewegungen mit der nahenden Zeitwende zusammen, wo Napoleons Glück schwand, und die Reaktion ihr Haupt erhob.

Müller von Friedberg, Carl: Schweizerische Annalen über die Geschichte unserer Tage seit dem Julius 1830. Bd. 3. Zürich 1835, S. 257. (books.google.de)

Ist in der Komödie der Mensch als Subject zum vollständigen Meister alles dessen gemacht, was ihm sonst als der wesentliche Gehalt seines Wissens und Vollbringens gilt und schlägt diese Seligkeit und Wohligkeit des Selbstbewußtseins in der Komödie jenes „Gelächter“ auf, in welchem das Subject seinen Triumph feiert, daß es alles durch sich und in sich aufgelöst hat und über den Trümmern der Auflösung, über dem Gräuel der Verwüstung „sicher in sich dasteht“ Aesth. 533; – nun so ist diese Komödie eben die historische oder die Darstellung einer Weltwende, indem eine Form des Geistes unter- und eine neue aufgeht.

Ruge, Arnold: Die historische Komödie unserer Zeit. (Der Schluß des Aufsatzes: „Das Selbstbewußtsein des Glaubens oder die Offenbarung unserer Zeit.“ Deutsche Jahrb. 1842, Nr. 143–148). In: Arnold Ruge (Hrsg.): Anektoda zur neuesten deutschen Philosophie und Publicistik. Bd. 1. Zürich/Winterthur 1843, S. 194–205, hier S. 196. (books.google.de)

Es war jene die Zeitenwende zwischen der antiken Welt und dem Mittelalter.

Bindemann, Carl: Der heilige Augustinus. Bd. 1. Berlin 1844, S. 215. (books.google.de)

Zu verwundern ist das nicht; denn bei jeder großen Weltwende ereignet es sich, daß kannegießernde Politiker, welche ihren Blick nicht zum Gedanken erheben können, sondern, revolutionär nur in ihrer eigenen Einbildung, die Seele von der empirischen Wirklichkeit beherrscht behalten, das komische quid pro quo begehen, gerade das, womit es zu Ende geht, für den Inhalt der neuen Zeit zu nehmen.

Fichte’s politisches Vermächtnis und die neueste Gegenwart. Ein Brief von F. Lasalle. In: Ludwig Walesrode (Hrsg.): Demokratische Studien. Hamburg 1860, S. 59–96, hier S. 80. (books.google.de)

Soweit Kolping’s Worte; Worte, die seitdem ihr noch klareres Verständniß gewonnen haben, in einem Zeitpunkte, in welchem die ganze christliche Gesellschaft an der Schwelle einer großen Zukunft, einer entscheidenden Weltenwende steht, in einem Augenblicke, in welchem die Kirche als Mutter und Retterin aller Völker in einer der erhabensten Offenbarungen ihrer gotterleuchteten Weisheit und Liebe sich zeigen wird.

Kapistran. Katholisches Volksblatt 3, 4. 12. 1869, Nr. 23, S. 540. (books.google.de)

Wir stehen mitten in einer Krisis, in einer gewaltigen Zeitwende, wo die Entwickelung der ganzen Civilisation der Menschheit in andere bahnen geworfen werden soll, ähnlich wie vor 1800 Jahren.

Pesch, T.: Zur Orientierung im Culturkampf. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter. Bd. 20. Freiburg im Breisgau 1881, S. 1–11, hier S. 9. (books.google.de)

Von der Weltenwende der russischen Revolution, von dem Zusammenbruch des Zarismus sprachen prophetisch die Redner in unseren politischen Versammlungen.

Braun, Lily: Memoiren einer Sozialistin. In: Lehmstedt, Mark (Hrsg.) Deutsche Literatur von Frauen. Berlin 2001 [1911], S. 10586. [DWDS]

Das war nicht mehr eine einmalige Konstellation zufälliger, von nationalen Stimmungen, persönlichen Einwirkungen und wirtschaftlichen Tendenzen abhängiger Tatsachen, denen der Historiker durch irgendein kausales Schema politischer oder sozialer Natur den Anschein der Einheit und sachlichen Notwendigkeit aufprägt: das war der Typus einer historischen Zeitwende, die innerhalb eines großen historischen Organismus von genau abgrenzbarem Umfange einen biographisch seit Jahrhunderten vorbestimmten Platz hatte.

Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. München 1929 [1918], S. 64. [DWDS]

Es kann nicht zweifelhaft sein, so schreibt er, daß die Jahrhundertwende von 1500 auch eine Zeitenwende ist. An dieser Zeitenwende hat, wie für Below, so auch für Schmeidler, die Reformation einen ganz hervorragenden Anteil.

Jahresberichte für deutsche Geschichte (1927), S. 154. [DWDS]

Schon um das Jahr 2000 vor der Zeitwende durch Christi Geburt, also vor viertausend Jahren, waren die ersten Pferde, als „Esel des Ostens“ bewundert, bei den Kulturvölkern Mesopotamiens nachweisbar.

Hahn, Christian Diederich: Bauernweisheit unterm Mikroskop. Oldenburg i.O. 1943 [1939], S. 21. [DWDS]

Als die französische Julirevolution das Signal für eine Bewegung gab, die den Zeitgenossen geradezu als Weltwende erschien, waren sie eben siebzehnjährig.

Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Erich Trunz. Berlin 1944, S. 555. (deutschestextarchiv.de)

«Das Alte ist vergangen: siehe, alles ist neu geworden» – das war das Kulturbewußtsein der Zeitwende um 1200.

Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen 1993 [1948], S. 163. [DWDS]

In Wirklichkeit war sie nichts als eine methodisch zu wertende Rollenverteilung, die dieser rege Geist unter seinen vielseitigen Begabungen und Einsichten vornahm, eine interne Dialektik, die es ihm erleichterte, in der großen stilistischen Zeitwende nicht nur sicher zu urteilen, sondern auch für sich selber schöpferisch den richtigen Weg zu finden.

Die Zeit, 26. 7. 1956, Nr. 30. [DWDS] (zeit.de)

„Seit Contergan“ – das ist zu einer Art Zeitenwende für die pharmazeutische Industrie geworden.

Die Zeit, 7. 7. 1967, Nr. 27. [DWDS] (zeit.de)

Was aber ernstlich bedacht werden sollte, das ist die entscheidende Frage, die uns alle beunruhigt: ob wirklich heute auch auf dem Gebiet der Kunst eine Weltenwende eingesetzt hat, in der kein Weg mehr zurückführt zu dem, was noch vor wenigen Jahrzehnten, selbst noch zur Zeit der Hochblüte des Kubismus und des Expressionismus, als die unerläßliche Grundlage aller künstlerischen Hervorbringung angesehen worden ist.

Die Zeit, 8. 9. 1967, Nr. 36. [DWDS] (zeit.de)

Buch- und Notendruck waren auch im Elsaß das Anzeichen einer Zeitenwende.

Müller-Blattau, Joseph: Elsaß. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2001 [1979], S. 19941. [DWDS]

Will Vesper äußert sich in einem Artikel des ‚Angriff‘ zur Zeitwende in der Dichtung: »Die schöpferische Erneuerung der deutschen Dichtkunst.«

N. N.: Chronik deutscher Zeitgeschichte – 1933. In: o. A.: 1933. In: Overresch, Manfred/Friedrich Wilhelm Saal(Hrsg.) Deutsche Geschichte von Tag zu Tag 1918–1949. Berlin 2000 [1982], S. 5777. [DWDS]

Haben sie vor uns erkannt, daß die augenblickliche Wirtschaftsmisere keine gewöhnliche Krise ist, sondern der Beginn einer ökonomischen Zeitwende?

Die Zeit, 17. 9. 1982, Nr. 38. [DWDS] (zeit.de)

Viel Feind, viel Ehr, sagten sich die Sozialwissenschaftler und griffen ihrerseits kräftig in die Tastatur der Streitvokabeln. Und nun verschläft die Republik nach der politischen Märzwende die politologische Zeitwende zurück zur guten alten Politikwissenschaft?

Die Zeit, 18. 11. 1983, Nr. 47. [DWDS] (zeit.de)

Wer immer noch nicht wahrhaben will, daß wir an der Schwelle einer Zeitenwende stehen, dem sollten wenigstens die Gipfel-Besuche der letzten vier Wochen diese Erkenntnis vermitteln: Gorbatschow, der Chef der östlichen Supermacht, besuchte die potentiellen Gegner im Westen und wurde von allen freudig – in der Bundesrepublik sogar begeistert – begrüßt; und nun hat der Chef des westlichen Bündnisses im Parlament in Warschau eine Ansprache gehalten, in der er den bisher stets verteufelten General Jaruzelski pries.

Die Zeit, 14. 7. 1989, Nr. 29. [DWDS] (zeit.de)

Mit der Wahl Bill Clintons haben die Amerikaner ein klares Signal für eine politische Zeitenwende gegeben.

Die Zeit, 27. 11. 1992, Nr. 49. [DWDS] (zeit.de)

So dauert eine Olympiade aller Erfahrung nach knapp vier Jahre. Bei den letzten, 1987 gestarteten Spielen aber kam die Weltwende dazwischen, welche, so paradox es auch klingen mag, die Spieler (zeitlich) weiter voneinander entfernte, statt sie einander anzunähern.

Die Zeit, 23. 7. 1993, Nr. 30. [DWDS] (zeit.de)

Im Schatten der Bundestagswahl war kaum beachtet worden, daß im Saarland jene Situation eingetreten war, die jetzt nach den Urnengängen in Nordrhein-Westfalen und Bremen als politische Zeitenwende hochstilisiert wird: Mit nicht einmal drei Prozent flog die FDP aus dem Landesparlament, statt dessen schafften es die an der Saar traditionell schwachbrüstigen Grünen.

Berliner Zeitung, 27. 5. 1995. [DWDS]

Ganz nebenbei: Vergessen ist damit die ursprüngliche Lesart aus Greenwich, die Jahrtausendwende finde erst am 1. 1. 2001 statt (mathematisch korrekt, weil erst dann 2000 Jahre seit der Zeitenwende vergangen sind, es gab nämlich kein Jahr „Null“).

Berliner Zeitung, 24. 10. 1997. [DWDS]

Englische Piraten, die im Zuge der zivilisatorischen Zeitenwende nach 1800 erwerbslos wurden und aufs Holzfällen umsattelten, riefen Mutter Britannia als Kolonialmacht herbei.

Der Tagesspiegel, 8. 1. 1999. [DWDS]

So ist es ein historischer Treppenwitz, dass der politische Nicht-Planer und Nicht-Täter Kohl als der Mann der Wiedervereinigung in der Weltwende im Gedächtnis bleiben wird.

Berliner Zeitung, 11. 12. 1999. [DWDS]

Bitte kein sentimentales Angedenken, keine Gefühlsduselei nach der Fußball-Zeitenwende.

Berliner Zeitung, 13. 3. 2000. [DWDS]

Eine „politische Zeitenwende“ werde die Bundespräsidentenwahl am Sonntag einleiten, schwärmt der CSU-Chef.

Der Tagesspiegel, 22. 5. 2004. [DWDS]

Aus der großen Zeitenwende 1989 bis ’91, als die Berliner Mauer fiel, der Warschauer Pakt sich auflöste und die Sowjetunion auseinander fiel, ging die westliche Allianz triumphierend hervor: als eindeutiger Sieger des Kalten Kriegs.

Die Zeit, 31. 3. 2009, Nr. 11. [DWDS] (zeit.de)

Es war eine Weltenwende. 1989 – die Magie dieser Jahreszahl entfaltet sich erst in der historischen Distanz.

Die Zeit, 14. 10. 2009, Nr. 42. [DWDS] (zeit.de)

Damals prallten die unterschiedlichen Mentalitäten der beiden Parteien, personifiziert in ihren Führungsfiguren Angela Merkel und Guido Westerwelle, ungebremst aufeinander. Westerwelle hatte nach einem Jahrzehnt in der Opposition von einer politischen Zeitenwende geträumt.

Die Zeit, 19. 5. 2017, Nr. 21. [DWDS] (zeit.de)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. […]Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen. Die schrecklichen Bilder aus Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol zeigen die ganze Skrupellosigkeit Putins. Die himmelschreiende Ungerechtigkeit, der Schmerz der Ukrainerinnen und Ukrainer, sie gehen uns allen sehr nahe. Ich weiß genau, welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Tagen abends am Küchentisch stellen, welche Sorgen sie umtreiben angesichts der furchtbaren Nachrichten aus dem Krieg. Viele von uns haben noch die Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern im Ohr vom Krieg, und für die Jüngeren ist es kaum fassbar: Krieg in Europa. Viele von ihnen verleihen ihrem Entsetzen Ausdruck – überall im Land, auch hier in Berlin. Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. […]Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus. Ja, wir wollen und wir werden unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand sichern. Ich bin Ihnen, Frau Präsidentin, sehr dankbar, dass ich die Vorstellungen der Bundesregierung dazu heute in dieser Sondersitzung mit Ihnen teilen kann. Auch den Vorsitzenden aller demokratischen Fraktionen dieses Hauses danke ich dafür, dass sie diese Sitzung unterstützt haben. Meine Damen und Herren, mit dem Überfall auf die Ukraine will Putin nicht nur ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen. Er zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte. Er stellt sich auch ins Abseits der gesamten internationalen Staatengemeinschaft. Weltweit haben unsere Botschaften in den vergangenen Tagen gemeinsam mit Frankreich dafür geworben, die russische Aggression im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als das zu benennen, was sie ist: ein infamer Völkerrechtsbruch. Wenn man sich das Ergebnis der Sicherheitsratssitzung in New York anschaut, durchaus mit Erfolg. Die Beratungen haben gezeigt: Wir stehen keineswegs allein in unserem Einsatz für den Frieden. Wir werden ihn fortsetzen mit aller Kraft. Für das, was sie dort zustande gebracht hat, bin ich Außenministerin Baerbock sehr dankbar. Nur mit der Notbremse seines Vetos konnte Moskau – immerhin ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates – die eigene Verurteilung verhindern. Was für eine Schande! Präsident Putin redet dabei stets von unteilbarer Sicherheit. Tatsächlich aber will er gerade den Kontinent mit Waffengewalt in altbekannte Einflusssphären teilen. Das hat Folgen für die Sicherheit in Europa. Ja, dauerhaft ist Sicherheit in Europa nicht gegen Russland möglich. Auf absehbare Zeit aber gefährdet Putin diese Sicherheit. Das muss klar ausgesprochen werden. Wir nehmen die Herausforderung an, vor die die Zeit uns gestellt hat – nüchtern und entschlossen. Fünf Handlungsaufträge liegen nun vor uns. Erstens. Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen. Das haben wir auch in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren in großem Umfang getan. Aber mit dem Überfall auf die Ukraine sind wir in einer neuen Zeit. In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie, für Werte, die wir mit ihnen teilen. Als Demokratinnen und Demokraten, als Europäerinnen und Europäer stehen wir an ihrer Seite, auf der richtigen Seite der Geschichte. Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort. Wir haben sie gegeben: Wie Sie wissen, haben wir gestern entschieden, dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird. Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben. Meine Damen und Herren, unser zweiter Handlungsauftrag ist, Putin von seinem Kriegskurs abzubringen. Der Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine. Aber der Krieg wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen. Gemeinsam mit den EU-Staats- und -Regierungschefs haben wir ein Sanktionspaket von bisher unbekanntem Ausmaß verabschiedet. Wir schneiden russische Banken und Staatsunternehmen von der Finanzierung ab. Wir verhindern den Export von Zukunftstechnologien nach Russland. Wir nehmen die Oligarchen und ihre Geldanlagen in der EU ins Visier. Hinzu kommen die Strafmaßnahmen gegen Putin und Personen in seinem direkten Umfeld sowie Einschränkungen bei der Visavergabe für russische Offizielle. Und wir schließen wichtige russische Banken vom Bankenkommunikationsnetz SWIFT aus. Darauf haben wir uns gestern mit den Staats- und Regierungschefs der wirtschaftlich stärksten Demokratien und der EU verständigt. Machen wir uns nichts vor: Putin wird seinen Kurs nicht über Nacht ändern. Doch schon sehr bald wird die russische Führung spüren, welch hohen Preis sie bezahlt. Allein in der letzten Woche haben russische Börsenwerte um über 30 Prozent nachgegeben. Das zeigt: Unsere Sanktionen wirken. Und wir behalten uns weitere Sanktionen vor, ohne irgendwelche Denkverbote. Unsere Richtschnur bleibt die Frage: Was trifft die Verantwortlichen am härtesten? Die, um die es geht, und nicht das russische Volk! Denn Putin, nicht das russische Volk, hat sich für den Krieg entschieden. Deshalb gehört es deutlich ausgesprochen: Dieser Krieg ist Putins Krieg. Die Differenzierung ist mir wichtig; denn die Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg ist und bleibt ein wichtiges Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte. Und ich weiß, wie schwierig die derzeitige Situation gerade für die vielen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu ertragen ist, die in der Ukraine oder in Russland geboren sind. Darum werden wir nicht zulassen, dass dieser Konflikt zwischen Putin und der freien Welt zum Aufreißen alter Wunden und zu neuen Verwerfungen führt. Noch etwas sollten wir nicht vergessen: In vielen russischen Städten haben Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Tagen gegen Putins Krieg protestiert, haben Verhaftung und Bestrafung in Kauf genommen. Das erfordert großen Mut und große Tapferkeit. Deutschland steht heute an der Seite der Ukrainerinnen und der Ukrainer. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl gelten heute den Opfern des russischen Angriffskriegs. Genauso stehen wir an der Seite all jener in Russland, die Putins Machtapparat mutig die Stirn bieten und seinen Krieg gegen die Ukraine ablehnen. Wir wissen: Sie sind viele. Ihnen allen sage ich: Geben Sie nicht auf! Ich bin ganz sicher: Freiheit, Toleranz und Menschenrechte werden sich auch in Russland durchsetzen. Meine Damen und Herren, die dritte große Herausforderung liegt darin, zu verhindern, dass Putins Krieg auf andere Länder in Europa übergreift. Das bedeutet: Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unser Beistandspflicht in der NATO. Das habe ich auch unseren Alliierten in Mittel- und Osteuropa gesagt, die sich um ihre Sicherheit sorgen. Präsident Putin sollte unsere Entschlossenheit nicht unterschätzen, gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen. Wir meinen das sehr ernst. Mit der Aufnahme eines Landes in die NATO ist unser Wille als Bündnispartner verbunden, dieses Land zu verteidigen, und zwar so wie uns selbst. Die Bundeswehr hat ihre Unterstützung für die östlichen Bündnispartner bereits ausgeweitet und wird das weiter tun. Für dieses wichtige Signal danke ich der Bundesverteidigungsministerin. In Litauen, wo wir den Einsatzverband der NATO führen, haben wir unsere Truppe aufgestockt. Unseren Einsatz beim Air Policing in Rumänien haben wir verlängert und ausgeweitet. Wir wollen uns am Aufbau einer neuen NATO-Einheit in der Slowakei beteiligen. Unsere Marine hilft mit zusätzlichen Schiffen bei der Sicherung von Nord- und Ostsee und im Mittelmeer. Und wir sind bereit, uns mit Luftabwehrraketen auch an der Verteidigung des Luftraumes unserer Alliierten in Osteuropa zu beteiligen. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben in den vergangenen Tagen oft nur wenig Zeit gehabt, sich auf diese Einsätze vorzubereiten. Ich sage ihnen, sicher auch in Ihrem Namen: Danke! Danke für ihren wichtigen Dienst gerade in diesen Tagen. Meine Damen und Herren, angesichts der Zeitenwende, die Putins Aggression bedeutet, lautet unser Maßstab: Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan. […]Deutschland wird dazu seinen solidarischen Beitrag leisten. Das heute klar und unmissverständlich festzuhalten, reicht aber nicht aus; denn dafür braucht die Bundeswehr neue, starke Fähigkeiten. Und das ist mein viertes Anliegen, meine Damen und Herren. Wer Putins historisierende Abhandlungen liest, wer seine öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine im Fernsehen gesehen hat oder wer wie ich kürzlich persönlich mit ihm stundenlang gesprochen hat, der kann keinen Zweifel mehr haben: Putin will ein russisches Imperium errichten. Er will die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen, und dabei schreckt er nicht zurück vor militärischer Gewalt. Das sehen wir heute in der Ukraine. Wir müssen uns daher fragen: Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland, und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in der Zukunft? Klar ist: Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen. Das ist eine große nationale Kraftanstrengung. Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt. Ich habe bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor einer Woche gesagt: Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es, und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa. Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld.Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten, und ich bin Bundesfinanzminister Lindner sehr dankbar für seine Unterstützung dabei. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren. Meine Damen und Herren, ich richte mich hier an alle Fraktionen des Deutschen Bundestages: Lassen Sie uns das Sondervermögen im Grundgesetz absichern. Eines will ich hinzufügen: Wir streben dieses Ziel nicht nur an, weil wir bei unseren Freunden und Alliierten im Wort stehen, unsere Verteidigungsausgaben bis 2024 auf 2 Prozent unserer Wirtschaftsleistung zu steigern. Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit, wohl wissend, dass sich nicht alle Bedrohungen der Zukunft mit den Mitteln der Bundeswehr einhegen lassen. Deshalb brauchen wir eine starke Entwicklungszusammenarbeit. Deshalb werden wir unsere Resilienz stärken, technisch und gesellschaftlich, zum Beispiel gegen Cyberangriffe und Desinformationskampagnen, gegen Angriffe auf unsere kritische Infrastruktur und Kommunikationswege. Und wir werden technologisch auf der Höhe der Zeit bleiben. Darum ist es mir zum Beispiel so wichtig, dass wir die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit europäischen Partnern und insbesondere Frankreich hier in Europa bauen. Diese Projekte haben oberste Priorität für uns. Bis die neuen Flugzeuge einsatzbereit sind, werden wir den Eurofighter gemeinsam weiterentwickeln.Gut ist auch, dass die Verträge zur Eurodrohne in dieser Woche endlich unterzeichnet werden konnten. Auch die Anschaffung der bewaffneten Heron-Drohne aus Israel treiben wir voran. Für die nukleare Teilhabe werden wir rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen. Der Eurofighter soll zu Electronic Warfare befähigt werden. Das Kampfflugzeug F‑35 kommt als Trägerflugzeug in Betracht.Und schließlich, meine Damen und Herren, werden wir mehr tun, um eine sichere Energieversorgung unseres Landes zu gewährleisten. Eine wichtige Maßnahme dazu hat die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht. Und wir werden umsteuern – umsteuern, um unsere Importabhängigkeit von einzelnen Energielieferanten zu überwinden. Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen haben uns doch gezeigt: Eine verantwortungsvolle, vorausschauende Energiepolitik ist nicht nur entscheidend für unsere Wirtschaft und unser Klima, sondern entscheidend auch für unsere Sicherheit. Deshalb gilt: Je schneller wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben, desto besser. Und wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen als Industrieland bis 2045 CO2-neutral werden. Mit diesem Ziel vor Augen werden wir wichtige Entscheidungen treffen müssen, etwa eine Kohle- und Gasreserve aufzubauen. Wir haben beschlossen, die Speichermenge an Erdgas über sogenannte Long Term Options um 2 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Zudem werden wir rückgekoppelt mit der EU zusätzliches Erdgas auf den Weltmärkten erwerben. Schließlich haben wir die Entscheidung getroffen, zwei Flüssiggasterminals, LNG-Terminals, in Brunsbüttel und Wilhelmshaven schnell zu bauen. Bundeswirtschaftsminister Habeck möchte ich für seinen Einsatz dabei ganz ausdrücklich danken. Das, was nun kurzfristig notwendig ist, lässt sich mit dem verbinden, was langfristig ohnehin gebraucht wird für den Erfolg der Transformation. Ein LNG-Terminal, in dem wir heute Gas ankommen lassen, kann morgen auch Grünen Wasserstoff aufnehmen. Und natürlich behalten wir bei all dem die hohen Energiepreise im Blick. Putins Krieg hat sie zuletzt noch weiter steigen lassen. Deshalb haben wir in dieser Woche ein Entlastungspaket vereinbart: mit der Abschaffung der EEG-Umlage noch in diesem Jahr, einer Erhöhung der Pendlerpauschale, einem Heizkostenzuschuss für Geringverdiener, Zuschüssen für Familien und steuerlichen Entlastungen. Die Bundesregierung wird das schnell auf den Weg bringen.Unsere Botschaft ist klar: Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in dieser Lage nicht allein. Meine Damen und Herren, die Zeitenwende trifft nicht nur unser Land; sie trifft ganz Europa. […]Und auch darin stecken Herausforderung und Chance zugleich. Die Herausforderung besteht darin, die Souveränität der Europäischen Union nachhaltig und dauerhaft zu stärken. Die Chance liegt darin, dass wir die Geschlossenheit wahren, die wir in den letzten Tagen unter Beweis gestellt haben, Stichwort „Sanktionspaket“. Für Deutschland und für alle anderen Mitgliedsländer der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land in Brüssel herausholen kann, sondern zu fragen: Was ist die beste Entscheidung für die Union? Europa ist unser Handlungsrahmen. Nur wenn wir das begreifen, werden wir vor den Herausforderungen unserer Zeit bestehen. Damit bin ich beim fünften und letzten Punkt. Putins Krieg bedeutet eine Zäsur, auch für unsere Außenpolitik. So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein, dieser Anspruch bleibt. Nicht naiv zu sein, das bedeutet aber auch, kein Reden um des Redens willen. Für echten Dialog braucht es die Bereitschaft dazu auf beiden Seiten. Daran mangelt es aufseiten Putins ganz offensichtlich, und das nicht erst in den letzten Tagen und Wochen. Was heißt das für die Zukunft? Wir werden uns Gesprächen mit Russland nicht verweigern. Auch in dieser extremen Lage ist es die Aufgabe der Diplomatie, Gesprächskanäle offenzuhalten. Alles andere halte ich für unverantwortlich. Meine Damen und Herren, wir wissen, wofür wir einstehen, auch angesichts unserer eigenen Geschichte. Wir stehen ein für den Frieden in Europa. Wir werden uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik. Wir werden uns immer starkmachen für die friedliche Lösung von Konflikten. Und wir werden nicht ruhen, bis der Frieden in Europa gesichert ist. Dabei stehen wir nicht allein, sondern zusammen mit unseren Freunden und Partnern in Europa und weltweit. Unsere größte Stärke sind unsere Bündnisse und Allianzen. Ihnen verdanken wir das große Glück, das unser Land seit über 30 Jahren genießt: in einem vereinten Land zu leben, in Wohlstand und Frieden mit unseren Nachbarn. Wenn wir wollen, dass diese letzten 30 Jahre keine historische Ausnahme bleiben, dann müssen wir alles tun für den Zusammenhalt der Europäischen Union, für die Stärke der NATO, für noch engere Beziehungen zu unseren Freunden, Partnern und Gleichgesinnten weltweit. Ich bin voller Zuversicht, dass uns das gelingt. Denn selten waren wir und unsere Partner so entschlossen und so geschlossen. Uns eint in diesen Tagen: Wir wissen um die Stärke freier Demokratien. Wir wissen: Was von einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens getragen wird, das hat Bestand, auch in dieser Zeitenwende und darüber hinaus. […]Deshalb danke ich Ihnen und allen Fraktionen dieses Hauses, die den russischen Überfall auf die Ukraine entschieden als das verurteilt haben, was er ist: ein durch nichts zu rechtfertigender Angriff auf ein unabhängiges Land, auf die Friedensordnung in Europa und in der Welt. Der heutige Entschließungsantrag bringt das klar zum Ausdruck. Ich danke allen, die in diesen Tagen Zeichen setzen gegen Putins Krieg und die sich hier in Berlin und anderswo zu friedlichen Kundgebungen versammeln. Und ich danke allen, die in diesen Zeiten mit uns einstehen für ein freies und offenes, gerechtes und friedliches Europa. Wir werden es verteidigen.

Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022. (bundesregierung.de)

Wenige Tage, nachdem die Ampel-Koalition eine Zeitenwende und eine radikale Abkehr von ihrer bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik verkündet hat, zeigt sich die Bevölkerung zufrieden mit der Regierung.

Die Zeit (online), 3. 3. 2022. (zeit.de)

Der Ukraine-Krieg markiert eine Zeitenwende, auch in der Flüchtlingspolitik.

Salecker, Nils: Die EU zieht den Krisen-Joker. zdf.de, 3. 3.2022. (zdf.de)

Als Olaf Scholz vergangenen Sonntag während der Sondersitzung des Bundestages zum Krieg in der Ukraine eine Regierungserklärung hielt, arrangierte er seine Rede um einen Schlüsselbegriff. Diesen nannte er gleich im ersten Satz: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ Kurz darauf wiederholte Scholz diesen Begriff, verstärkte und untermauerte ihn: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Bis zum Ende der Rede fiel „Zeitenwende“ noch drei weitere Male.

Das wesentliche Mittel einer demokratischen, den Grundsätzen der Verfassung unterliegenden Politik ist Sprache. Sprache kann Wirklichkeiten abbilden und verdichten. Umgekehrt kann Sprache aber auch Wirklichkeiten stiften, eingreifen, Orientierung bieten und mitunter weitreichende Entscheidungen herbeiführen. Letzteres hatte die Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum Ziel: Die Einrichtung eines sogenannten „Sondervermögens Bundeswehr“ mit einmalig 100 Milliarden Euro – um laut Scholz „notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben“ zu finanzieren.

Die Zeit (online), 6. 3. 2022. (zeit.de)

Kanzler Scholz verspricht im Parlament, weitere Waffen in die Ukraine zu liefern und die Energie-Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Doch die Zeitenwende dauert – und die Ungeduld wächst mit den Herausforderungen.

Die Zeitenwende, die zu lange dauert. Tagesschau.de, 6. 4. 2022. (tagesschau.de)

Die Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz wird in die Geschichte eingehen.

Der Spiegel (online), 27. 4. 2022. (spiegel.de)

Mit seiner Zeitenwende-Rede hat Kanzler Olaf Scholz und die Ampel-Koalition ihr Füllhorn über die Bundeswehr ausgeschüttet.

Henken, Lühr: Zeitenwende: Aufrüstung und Militarisierung und Waffenexporte. Statement beim Runden Tisch Friedensbewegung am 9. September 2022. (die-linke.de)