Wortgeschichte
Die Kleinen und die Großen
Die Adjektive klein und groß – sog. Dimensionsadjektive – werden mindestens seit frühneuhochdeutscher Zeit auch zur Bezeichnung gesellschaftlicher Gegensätze gebraucht: groß bzw. die Großen sind die Mächtigen und Privilegierten, d. h. in der feudalen Gesellschaft typischerweise die Adligen (s. 1DWB
9, 480 f.). Als klein bzw. die Kleinen werden aber offenbar nicht diejenigen bezeichnet, die ganz am anderen Ende der Skala stehen, sondern eher die normalen
Leute, also diejenigen, die nicht über Macht, übermäßigen Reichtum und besonderen Status verfügen – ohne dass sie in jedem Fall als arm und unterdrückt zu gelten hätten (zu den Bezeugungen des Adjektivs bzw. seiner Substantivierung vor 1800 (s. 1DWB 11, 1097).
Der kleine Mann als kollektive Standesbezeichung
Die Verbindung die kleinen Leute ist im Deutschen Textarchiv zuerst für 1589 bezeugt (hier als Gegensatz zu gewaltige leute). Die Verbindung der kleine Mann als Ausdruck der sozialen Zugehörigkeit kommt wohl später auf; der erste eindeutige Beleg – allerdings im Plural die kleinen Männer – stammt von 1809, und zwar aus einer Schrift des konservativen Staatstheoretikers Adam Müller (in diesem Sinne möglicherweise aber auch schon 1778). Hier werden die kleinen Männer mit leicht kritischem Unterton als diejenigen bestimmt, die gerade jetzt auf der Bühne stehen
, die also im Gefolge der französischen Revolution einen Zuwachs an politischem Einfluss erfahren haben. In der Publizistik der Zeit um 1848 erscheint der kleine Mann nicht als Akteur wie noch bei Müller; er wird vielmehr deutlich als Opfer von Ausbeutung und Willkür durch die feudalen Herrscher dargestellt (1849a, 1849b, 1849c, vgl. später auch 1863, 1870, 1928). Hier ist die Verbindung übrigens überwiegend auf die einfache Landbevölkerung bezogen, nicht auf die Arbeiterschaft bzw. die Unterschicht in den Städten (vgl. auch 1854 mit Bezug auf die Zustände im alten Rom). Die Darstellung des kleinen Mannes als Opfer von Unterdrückung bzw. als eines der Hilfe und Zuwendung Bedürftigen ist dabei keine Besonderheit linker
Sozialkritik, sondern findet sich bei Autoren unterschiedlichster Couleur, so etwa bei dem national-liberalen Historiker Heinrich von Treitschke (1879a), bei Bertha von Suttner (1902) ebenso wie bei anderen ideologisch nicht immer klar einzuordnenden Autoren (1890, 1901). Den Charakter eines Schlagworts, das fest mit einer bestimmten politischen Richtung verknüpft ist, erhält die Verbindung somit nie.
Fokusverschiebung: der kleine Mann als Inbegriff gesellschaftlicher Normalität
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschiebt sich der semantische Fokus: Kleiner Mann wird nun zunehmend auch in der Bedeutung einfacher, normaler Mann, Durchschnittsbürger
verwendet (1898, 1903, 1906). Der für den Gebrauch des 19. Jahrhunderts dominierende Gegensatz zwischen dem kleinen Mann und den Herrschenden tritt hier tendenziell in den Hintergrund. Dieser Übergang lässt sich als Metonymie beschreiben: In einer durch starke Ungleichheit gekennzeichneten Gesellschaft wie der des 19. Jahrhunderts bilden die sozial Unterprivilegierten – die Kleinen
– gegenüber den wenigen Privilegierten die Mehrheit und sind insofern als Normalfall
, als durchschnittliche Repräsentanten einer Gesellschaft zu beschreiben – der Bedeutungsaspekt unterprivilegiert
ist daher eng verbunden mit dem Bedeutungsaspekt normal, in der Mehrheit
. Im Zuge des metonymischen Wandels wird nun der zweite Aspekt gewissermaßen in der Vordergrund gerückt. Der kleine Mann erscheint dementsprechend auch als Synonym zu der Mann aus dem Volke (1910).
Beide Bedeutungen – Angehöriger der Unterschicht
sowie Durschnittsbürger
– bleiben freilich überwiegend eng aufeinander bezogen. Dies wird etwa an der Hauptfigur in Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? (1932) deutlich – ein kleiner Angestellter aus einfachen Verhältnissen. Dieser kleine Mann ist als durchschnittlicher Repräsentant der Gesellschaft angelegt; gleichzeitig wird der soziale Status der Figur als beständig gefährdet beschrieben, vor allem durch die prekären Umstände der Weltwirtschaftskrise.
Geschlechterfragen
Die Verbindung der kleine Mann funktioniert semantisch gewissermaßen pars pro toto: Ein fiktives Individuum steht für eine ganze Gruppe ähnlicher Referenten. Wenn nun kleiner Mann für Angehöriger der Unterschicht
bzw. Normalbürger
steht, stellt sich die Frage, wie es um die Referenten weiblichen Geschlechts bestellt ist. Ob sie mitgemeint
sind oder ob es tatsächlich ausschließlich um Männer geht (etwa als Familienoberhäupter im herkömmlichen Sinn), ist für die historischen Belege schwer zu entscheiden. In einigen Fällen gibt es jedoch offenbar das Bedürfnis, den Geschlechterbezug zu klären, in dem die Verbindung der kleine Mann durch das analoge die kleine Frau (oder auch die kleine Hausfrau) ergänzt wird, damit der geschlechterübergreifende Bezug unmissverständlich zum Ausdruck kommt (1906, 1997b). Möglicherweise dient auch das Setzen von Anführungszeichen oder der häufige Zusatz der sogenannte kleine Mann als Zeichen für den uneigentlichen, geschlechtsübergreifenden Bezug von Mann.
Idiomatische Erweiterung I: der kleine Mann auf der Straße
Die Verwendungsweise einfacher, normaler Mann, Bürger
hält sich bis in die Gegenwart (z. B. 1974). Für die Mitte des 20. Jahrhunderts ist dann eine Erweiterung der Verbindung belegt: Neben dem erwähnten kleinen Mann aus dem Volke ist nun auch vom kleinen Mann auf der Straße die Rede (1957, 1961). An der Bedeutung der Verbindung ändert sich durch den Zusatz auf der Straße allerdings kaum etwas: In den Belegen ist der Normalbürger
gemeint, wobei auch hier oft ein Gegensatz zu den Herrschenden konstruiert wird (1957; vgl. auch NormalverbraucherWGd). Die Verbindung stellt das Ergebnis einer Kreuzung zweier semantisch übereinstimmender Wortverbindungen dar: der kleine Mann und der Mann auf der StraßeWGd werden kombiniert zu der kleine Mann auf der Straße.
Idiomatische Erweiterung II: Der Hund ist das Pferd des kleinen Mannes
Der kleine Mann hat in eine weitere komplexe Wortverbindung Eingang gefunden, nämlich in Fügungen des Typs Die Ziege ist die Kuh des kleinen Mannes. Verbindungen dieser Art lassen sich ab ca. 1918 belegen (1918; möglicherweise aber schon 1907). Die Bedeutung dieser Konstruktion lässt sich wie folgt umschreiben: Ein X (z. B. ein Hund) ist die für den Normalbürger bestimmte Entsprechung eines höherwertigen, nur für wenige bestimmten Y (z. B. ein Pferd). Die beiden Leerstellen – hier angegeben durch X und Y – sind im Prinzip frei besetzbar. Es kann sich um ganz unterschiedliche Wortpaare handeln, z. B. Ziege und Kuh, Sparkasse und Bank (1952), Angeln und Jagd (1994), Hund und Pferd (2001 ) oder auch um Eigennamen wie Puccini und Verdi (1931). Für die Besetzung der Leerstellen sind allerdings zwei Eigenschaften zentral: (1) Beide Substantive gehören zum selben Wortfeld und (2) beide stehen in einer Abstufungsrelation, wobei das erste Substantiv als in irgendeiner Weise schwächer zu gelten hat bzw. im Vergleich zum ersten Element weniger wert ist als das zweite – eine Kuh gibt mehr Milch als eine Ziege, eine Bank tätigt größere Geschäfte als eine Sparkasse usw.
Allerdings ist insofern ein semantischer Wandel der Fügung festzustellen, als diese auch in der Bedeutung in einfacherer, günstigerer Ausführung von etwas
vorkommen kann, ohne dass hier unbedingt ein Bezug zum Normalbürger vorliegt. Diese Bedeutungsvariante bezieht sich offenbar auf technische Entwicklungen, z. B. wenn von der chemischen Waffen als der Atombombe des kleinen Mannes die Rede ist, weil diese billiger herzustellen ist (1997a; vgl. auch die älteren Beispiele 1949, 1996). Hier liegt eine metonymische Verschiebung vor: Die Bedeutungsaspekte für den Normalbürger
und vergleichsweise einfach in der Ausführung
korrespondieren eng miteinander, und im Zuge des Wandels wird der zweite Aspekt fokussiert.
Die kleinen Leute als teil-synonymer Ausdruck
Die Verbindung die kleinen Leute ist, wie der kleine Mann, ebenfalls ein häufiger Ausdruck zur Kennzeichnung einer Zugehörigkeit zu den unteren sozialen Schichten; die kleinen Leute ist in dieser Verwendung spätestens im auslaufenden 16. Jahrhundert (1589) zum ersten Mal bezeugt und bis in die Gegenwart hin präsent.
Die kleinen Leute könnte als Plural zu der kleine Mann aufgefasst werden. Dies greift aber zu kurz: In der kleine Mann steht Mann nicht für eine Einzelperson, sondern ist als Kollektivum zu verstehen – und ein Plural zu einem Kollektivum ist unnötig. Vor allem aber stimmen die beiden Verbindungen im Hinblick auf ihre Semantik nicht vollkommen überrein, jedenfalls weniger, als vielleicht zu erwarten wäre. Die Verbindung die kleinen Leute steht zwar, wie der kleine Mann, für die unteren Schichten, die Nicht-Privilegierten einer Gesellschaft. Die kleinen Leute werden dementsprechend auch häufig als Leidtragende von Benachteiligung und Ausbeutung beschrieben (z. B. 1845, 1900), und in der Formel wir kleinen Leute kommt dies durchaus auch als Selbstbeschreibung zum Ausdruck (1922, 1933). Im Gegensatz zu der kleine Mann ist die Bedeutung Durchschnittsbürger
hier aber bei weitem nicht so ausgeprägt, trotz einiger Belege, die durchaus in diesem Sinne zu lesen sind (z. B. 1946).
Europäische Parallelen
Der Gebrauch des Dimensionsadjektivs klein zur sozialen Unterscheidung ist nicht allein eine Erscheinung des Deutschen, sondern mindestens auch im Englischen und Französischen verbreitet. So kennt das Englische ebenfalls die Fügung the little man, und zwar mit einem Gebrauchsspektrum, das dem seines deutschen Pendants genau entspricht: [The type of] a man of little wealth or status, an undistinguished and ordinary man; the
(3OED unter little man 4 a). Daneben findet man auch little people) mit der Bedeutungsangabe man in the street
people of little wealth or status; the poor; ordinary or undistinguished people
(Bed. 2). Das Französische wäre hier mit den Verbindungen les petites gens, petit peuple zu nennen (TLFi unter petit). Ein Entlehnungszusammenhang ist hier aber wohl kaum anzunehmen: Die Übertragung von körperlicher Größe auf den sozialen Rang ist wohl zu naheliegend, als dass sie eines Anstoßes aus einer benachbarten Sprache bedurft hätte.
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu kleiner Mann, kleine Leute.