Wortgeschichte
Der Mann auf der Straße und sein gesunder Menschenverstand
Zu den Wortverbindungen, die Durchschnittsbürger
bezeichnen, gehört neben Otto NormalverbraucherWGd und der kleine MannWGd bzw. die kleinen LeuteWGd auch die Verbindung der Mann auf der Straße. Sie ist ab den 1920er Jahren bezeugt (1921, 1922, 1930) und wird auch synonym mit Masse des Volks verwendet (1922).1)
In den einschlägigen Belegen wird der Mann auf der Straße häufig in einen Gegensatz gebracht zu Experten und ihrem Wissen (1927, 1930; in den Belegen 1929 und 1955 explizit im Gegensatz zu den Intellektuellen bzw. Professoren). Es geht also offenbar weniger um die Thematisierung von Machtverhältnissen wie dies tendenziell bei der kleine MannWGd der Fall ist; vielmehr wird gewissermaßen der gesunde Menschenverstand
des Durchschnittsbürgers hervorgehoben, der bestimmte Dinge klar zu erfassen oder gerade nicht zu erfassen vermag und der ggf. auch griffige Formulierungen findet (1999).
Zur Motivation der Verbindung
Die Motivation der Verbindung liegt nicht unmittelbar auf der Hand: Was hat auf der Straße mit dem Bedeutungsaspekt normal, durchschnittlich
zu tun? Die Straße steht zunächst metonymisch für Öffentlichkeit
– auf der Straße, d. h. außerhalb des privaten Bereichs, den Haus und Wohnung bieten, treffen die Menschen aufeinander und kommunizieren miteinander (vgl. 1DWB 19, 900–901 unter Straße. Die Straße ist freilich auch die Domäne, die typischerweise den einfachen Menschen zugeordnet wird. Privilegierte – der Adel, die Begüterten – nehmen am Leben auf der Straße als öffentlichem Raum nicht teil, sie sondern sich vielmehr ab (in ihren Schlössern, Häusern, Studierstuben). Die Möglichkeit, sich räumlich von anderen zu distanzieren, das Verfügen über separate, private Bereiche, ist jedenfalls als Privileg zu betrachten, das einer Mehrheit nicht oder nur bedingt zugänglich war.
Europäische Parallelen
Wie bei der kleine MannWGd handelt es sich auch bei der Mann auf der Straße um eine Verbindung, für die es Entsprechungen außerhalb des Deutschen gibt. Für das Französische ist hier l’homme de la rue zu nennen (TLFi unter homme, für das Englische the man in (on) the street (3OED unter street P 5). In beiden Fällen ist, wie im Deutschen, der Durchschnittsbürger
gemeint, vor allem im Gegensatz zum Experten. Ob diese parallelen Verbindungen (die ggf. auch noch in weiteren europäischen Sprachen zu finden sind) unabhängig voneinander entstanden sind oder ob eine jeweils Vorbild für die anderen gewesen sein könnte, bliebt unklar. In jedem Fall ist die englische Verbindung laut ³OED schon für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu belegen, während die deutsche (und nach Auskunft des TLFi) wohl auch die französische Verbindung erst im 20. Jahrhundert greifbar werden.
Anmerkungen
1) Zur Verbindung Der kleine Mann auf der Straße, in der der kleine Mann und der Mann auf der Straße gekreuzt sind, s. die Ausführungen unter kleiner MannWGd.
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Mann auf der Straße.