Wortgeschichte
Von Indien nach Europa
Die Verbindung ziviler Ungehorsam stellt eine Lehnübersetzung zu englisch civil disobedience dar. In deutschsprachigen Texten wird der Ausdruck zuerst in der Berichterstattung über den von Mahatma Gandhi angeführten gewaltfreien Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft greifbar (1922). Bis ca. 1960 wird er in Zusammenhang mit dem Dekolonisierungsprozess weiterhin in Bezug auf (ehemalige) kolonisierte Gebiete wie etwa Indien oder die Staaten Afrikas verwendet (1939, 1957, 1958, 1959). In der Folge löst sich die Verbindung allmählich aus den ursprünglichen Zusammenhängen; sie wird dann in breiterer Anwendung etwa für Aktionen gegen die atomare Aufrüstung in England (1961), für einzelne Widerstandshandlungen im Rahmen des Nordirlandkonflikts (1971a), für den Widerstand gegen das syrische Baath-Regime (1980) sowie allgemein für Kriegsdienstverweigerung als Form pazifistischen Widerstands gebraucht (1971b, 1981a). Während die Verbindung 1968 noch als in Deutschland nicht heimisch gilt, sind seit den 1970er Jahren zunehmend Bezeugungen greifbar, in denen auch Sachverhalte im deutschsprachigen Raum thematisiert werden (1971b, 1977, ggf. auch 1969). Ziviler Ungehorsam hat sich somit – rund fünfzig Jahre nach dem ersten Auftreten und damit vergleichsweise spät – von einem linguistischen Exotismus zu einem geläufigen Ausdruck des Deutschen entwickelt. Nennenswerte Verbreitung findet die Verbindung allerdings erst seit den 1980er Jahren, hier vor allem im Rahmen der Anti-Atom-Bewegung (1981b, 1994) sowie der Friedensbewegung (1981a, 1983a, 1983b; vgl. auch Laker 1986, 98–109 und Braune 2017, S. 28–31).
Auch im Zusammenhang mit der Wendezeit in der DDR werden entsprechende Protestformen thematisiert und diskutiert (1992). Mit seiner zunehmenden Verbreitung im Deutschen und dem Wechsel des Bezugsrahmens von der Dekolonisierung hin zu den politischen Auseinandersetzungen im Rechtsstaat ist auch ein semantischer Wandel verbunden: Steht zunächst der gewaltfreie Widerstand gegen ein ausbeuterisches Kolonialregime im Vordergrund des Gebrauchs, so wird der Ausdruck nunmehr auf den Widerstand allgemein bezogen: Er kann nun sowohl Proteste gegen koloniale und diktatorische Verhältnisse als auch Proteste gegen politische Entscheidungen in Demokratien bezeichnen. Damit hat eine Bedeutungserweiterung des Ausdrucks stattgefunden.
Schon seit den 1980er Jahren wird dieser vermehrte Gebrauch von einer intensiv geführten Debatte über Legitimität und Grenzen der so bezeichneten Protestformen in einem Rechtsstaat begleitet (1983c, 1983d, 1998). Auch die Rechtswissenschaft und die Rechtsphilosophie befassen sich dementsprechend ab den 1980er Jahren intensiver mit den juristischen und ethischen Fragen, die Widerstandsaktionen dieser Art aufwerfen (so prominent Habermas 1983). Hier wird auch auf den deutlich älteren englischsprachigen Forschungsdiskurs zurückgegriffen, der die Frage der civil disobedience bereits im Zusammenhang mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und den Protesten gegen den Vietnam-Krieg intensiv diskutiert hatte (vgl. Laker 1986, 11; Braune 2017, 14).
Civil disobedience und Satyagraha bei Thoreau und Gandhi
Das englische civil disobedience, das Grundlage für die Lehnübersetzung ins Deutsche ist, hat eine bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Wortgeschichte, in der mehrere Stränge zusammenlaufen (s. 3OED unter civil). Der Ausdruck steht zunächst, und zwar mit deutlich pejorativem Einschlag, für eine Rebellion des Volkes gegen die Obrigkeit. Erst 1866 findet sich civil disobedience erstmals mit positiver Wertung, und zwar im Sinne einer gewaltlosen Gehorsamsverweigerung gegenüber staatlichen Anordnungen, hier speziell als Weigerung, einem durch das Unrecht der Sklaverei kompromittierten Staat Steuern zu zahlen (Laker 1986, 24). Autor des betreffenden Textes, der zuerst 1849 unter dem Titel Resistance to Civil Government
erschien, ist der amerikanische Schriftsteller H. D. Thoreau. Der dann später im englischen Sprachraum breit rezipierte Ausdruck civil disobedience stammt indes nicht von Thoreau selbst, sondern wird erst 1866 in einer postumen Werkausgabe eingefügt (vgl. Laker 1986, S. 21 sowie 3OED unter civil).
Für die Verbreitung des Wortes im Englischen und dann auch seine Übertragung ins Deutsche spielt die Berichterstattung über den von Gandhi angeführten Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien eine zentrale Rolle. So gehen mehrere Eigenschaften des Konzepts direkt auf Gandhis Verständnis von civil disobedience zurück. Kennzeichnend für sein Konzept sind (nach Laker 1986, 46–47) vor allem die unbedingte Gewaltlosigkeit des Protestes sowie der klar erkennbare Unrechtscharakter der Vorschriften und Gesetze, gegen die protestiert wird bzw. die im Zuge des Protestes verletzt werden (Civil disobedience … becomes a sacred duty when the State has become lawless
, zitiert nach Laker 1986, 43). Eine wichtige Funktion erfüllt auch die Bereitschaft der Protestierenden, die Strafe für den Verstoß zu akzeptieren und durch Leidensbereitschaft sowohl die Berechtigung des Anliegens als auch die Aufrichtigkeit des Protestes zu bezeugen (s. Laker 1986, 46).
Die civil disobedience im Sinne Gandhis entspricht partiell dem von Gandhi entwickelten Konzept des Satyagraha, das wörtlich als Bestehen auf Wahrheit
oder Suche nach Wahrheit
wiedergegeben werden kann. Gleichwohl ist Satyagraha als umfassendes Modell menschlicher Lebensführung zu begreifen, zu dem sich civil disobedience lediglich als Teilaspekt unterordnet (vgl. Laker 1986, 46 sowie den Eintrag Satyagraha in der Britannica). Gandhi hat somit das englische civil disobedience durchaus als Ausdruck für bestimmte Widerstandsformen akzeptiert, hat die Verbindung, die letztlich eine Fremdbezeichnung darstellt, gleichzeitig aber dadurch relativiert, dass er ihr mit dem Begriff Satyagraha eine Eigenbezeichnung entgegengestellt hat.
Die Verbindung und ihre Komponenten
Die Verbindung ziviler Ungehorsam zeigt eine Reihe von semantischen Besonderheiten. So weicht das die Verbindung tragende Substantiv UngehorsamDWDS in mehrfacher Hinsicht von dessen sonst üblicher Bedeutung ab: In Kombination mit zivil wird Ungehorsam positiv bewertet, was für Bildungen auf Un- unüblich ist. Diese fügungsinterne Bedeutungsverbesserung wies übrigens schon die englische Entlehnungsgrundlage auf. Ferner bezeichnet Ungehorsam in der Verbindung mit zivil nicht so sehr eine Eigenschaft, eine Haltung oder einen persönlichen Charakterzug als vielmehr konkrete Handlungen, so etwa eine Blockade, einen Sitzstreik oder auch eine Baumbesetzung (1991, 2018, 2004). Damit hat sich der Fokus der Bedeutung im Zuge einer metonymischen Verschiebung von einer Eigenschaft auf Handlungen verlagert, die aus einer solchen Eigenschaft erwachsen.
Nicht nur das Substantiv Ungehorsam, sondern auch das Adjektiv zivilWGd zeigt fügungsinterne semantische Besonderheiten, da auch dessen Bedeutung nicht ohne weiteres mit einer der Lesarten des für sich stehenden Wortes in Einklang zu bringen ist. Die gegenwartssprachliche Hauptbedeutung von zivil ist nicht-militärisch
. Die Bedeutung von ziviler Ungehorsam wäre indes nur unzureichend als nicht-militärischer Widerstand
wiedergegeben – die Gewaltfreiheit des zivilen Ungehorsams als nicht-militärisch
zu bezeichnen, ist unangebracht, denn selbstverständlich ist mit militärischen Mitteln praktizierter Widerstand etwa gegen Windräder oder Atomkraftwerke keine ernstzunehmende Alternative. Das Adjektiv in ziviler Ungehorsam ist somit semantisch nicht an wendungsexterne Gebräuche angebunden. Dies schließt nicht aus, dass Sprecherinnen und Sprecher assoziative Verbindungen der Bedeutungen von zivil herstellen und den Mehrwortausdruck auf dieser Weise zu deuten suchen.
Für diese Deutungen kann auch etymologisches Wissen herangezogen werden, indem etwa eine Verbindung mit englisch civil und vor allem mit lateinisch cīvīlis bürgerlich
hergestellt wird. Dies ist auch in den Rechtswissenschaften der Fall, wenn etwa Laker 1986, 134 feststellt: Das Wort zivil bringt […] die staatsbürgerliche Dimension zivilen Ungehorsams zum Ausdruck
. Letztlich stellt dies einen Versuch dar, eine aus der Gegenwartssprache heraus unverständliche Fügung mit Hilfe von historischem Sprachwissen durchsichtiger zu machen.
Literatur
Braune 2017 Braune, Andreas: Zur Einführung. Definitionen, Rechtfertigungen und Funktionen des zivilen Ungehorsams. In: Ders. (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy. Stuttgart 2017, S. 9–38.
Britannica Encyclopedia Britannica. (britannica.com)
Habermas 1983 Habermas, Jürgen: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. In: Peter Glotz (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt a. M., S. 29–53.
Laker 1986 Laker, Thomas: Ziviler Ungehorsam. Geschichte – Begriff – Rechtfertigung. Baden-Baden 1986.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu ziviler Ungehorsam.