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Nomenklatur / Nomenklatura

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Das im 16. Jahrhundert aus lateinisch nōmenclātūra Namenverzeichnis ins Deutsche übernommene Nomenklatur entwickelt über die Zeit eine Reihe von semantisch eng verzahnten Lesarten: Wortliste, Verzeichnis von Termini, wissenschaftliche Klassifikation sowie Klassifikation von Waren. In den 1960er Jahren wird Nomenklatura neu aus dem gleichlautenden russischen Wort übernommen, um ein bestimmtes System der Besetzung von Funktionen im sozialistischen Staat zu bezeichnen. Nomenklatura sowie Nomenklatur werden allerdings auch abwertend gebraucht, wenn die undemokratischen Herrschaftsstrukturen sozialistischer Staaten herausgestellt werden sollen.

Wortgeschichte

Nomenklatur zwischen Verzeichnis und Klassifikation

Nomenklatur wird im 16. Jahrhundert aus lateinisch nōmenclātūra Namenverzeichnis ins Deutsche entlehnt (vgl. Pfeifer unter NomenklaturDWDS mit Angaben zur weiteren Herkunft). In der Bedeutung Wortliste tritt es zuerst bei Johann Fischart auf (1575), hier in wortspielerischer Umformung als Namenklatur. Ab dem 17. Jahrhundert wird der Ausdruck dann vor allem in der Lesart Verzeichnis wissenschaftlicher Termini verwendet, wobei die Grenze zwischen terminologischer Benennung und benannter Sache gelegentlich verschwimmt. Es ist demnach oft nicht unterscheidbar, ob von einer Liste von Termini oder von Dingen die Rede ist (1672, 1798, 1914, 2023). Da eine Aufzählung von Dingen bzw. Bezeichnungen auch strukturierende Elemente enthalten kann, entwickelt sich wohl von hier ausgehend per Metonymie die Bedeutung wissenschaftliche Klassifikation (1837).

Bei den jüngeren Gebräuchen steht vor allem der Aspekt der Festlegung im Vordergrund, welcher typischerweise mit Klassifikationen verbunden ist: Die in einer Liste bzw. Klassifikation enthaltenen Elemente sind nicht beliebig, sondern festgeschrieben, bilden also eine geschlossene Klasse. Dies kommt besonders in der Verwendung (vertraglich, amtlich, gesetzlich) festgelegtes Verzeichnis von Waren, Produkten u. ä. zum Tragen (1956, 1960). Der Aspekt der Festlegung ist dann auch Grundlage für weitere metonymische Verschiebungen. So wird Nomenklatur u. a. in der Bedeutung Sprachregelung (1950, 1962, 1966) oder auch festgelegte einzelne Benennung (1922) gebraucht.

Nomenklatura: Neuentlehnung aus dem Russischen

Das lateinische nōmenclātūra hat weite Verbreitung in den Sprachen Europas gefunden und dort jeweils ein ähnlich differenziertes Bedeutungsspektrum wie im Deutschen ausgebildet (vgl. neben den Erläuterungen im 3OED zu nomenclature auch GDLI 11, 520, 1DHLF 1428 sowie TLFi unter nomenclature). Um 1960 herum ist dann das aus russisch nomenklatúra ins Deutsche entlehnte Nomenklatura bezeugt, das ebenfalls auf dieser breiten europäischen Tradition fußt.1) Das Wort wird überwiegend in Bezug auf Verhältnisse in der Sowjetunion bzw. in sozialistischen Ländern angewandt (1961, 1975). Es steht für Gesamtheit der Positionen und Funktionen im Staat, über deren Besetzung die Partei entscheidet (1970, 1976, 1988, vgl. 1985b) und ist über den Bedeutungsaspekt der Festlegung bzw. Normierung – hier von Ämtern – an den älteren Gebrauch angebunden. In dieser Verwendung wird es überwiegend neutral-beschreibend gebraucht.

Für Nomenklatur ist festzuhalten, dass das Wort auch in Quellen aus der DDR sehr häufig in der Bedeutung normiertes Verzeichnis (von Gütern, Waren u. ä. ) belegt ist (vgl. 1951, 1956, 1985a). Diese ältere Bedeutung des Wortes, die mittelbar noch aus der frühneuhochdeutschen Entlehnungsschicht stammt, hat sich somit auch hier sehr stabil gehalten.

Bedeutungsverschlechterung und Bedeutungsverallgemeinerung

Sowohl Nomenklatur als auch vor allem Nomenklatura werden ab ca. 1960 auch als Stigmawörter verwendet, wenn das Herrschaftssystem sozialistischer Länder negativ charakterisiert werden soll. Die Bedeutung ist hier zu umschreiben als: (mit Privilegien ausgestattete) herrschende Schicht in einem sozialistischen Staat (1961, 1975, 1986, 1989; vgl. auch den Beleg 1971 mit Bezug auf westdeutsche Kommunisten).

Nach dem Untergang der DDR bzw. des sog. Ostblocks wird Nomenklatur gelegentlich auch weiterverwendet, dann im Sinne von herrschende Klasse in einer Diktatur (2011, 2022). Diese Verwendung ist als Ergebnis einer Bedeutungserweiterung zu beschreiben.

Anmerkungen

1) Zur russischen Vorlage s. auch die Informationen unter nomenklatura im 3OED.

Literatur

2DFWB Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völlig neu erarbeitet im Institut für Deutsche Sprache von Gerhard Strauß u. a. Bd. 1 ff. Berlin/New York 1995 ff. (owid.de)

1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.

GDLI Battaglia, Salvatore: Grande dizionario della lingua italiana. Vol. 1–21. Turin 1971–2002. (gdli.it)

3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)

Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)

TLFi Trésor de la langue française informatisé (Trésor de la langue française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)

Belegauswahl

Nachgehends lehrt er ihne eine schöne Namenclatur und sprachserklärung, Slemslicida ein Hafenreff, Bracus Pruch, Vilwundus Hackbanck, Vilhelmus Strosack.

Fischart, Johann: Geschichtklitterung (Gargantua). Düsseldorf 1963 [zuerst 1575], o . S. [DWDS]

Ich muß bekennen / daß mich von der Schreibung eines vollständigen Lexici und Dictionarii theils die Langwierigkeit deß Wercks […]/ in deme ich gesinnet entweder etwas vollkommenes oder gar nichts an Tag zu geben/ theils der Zeit-Mangel/ dieweil ich der würcklichen information meiner Herren Scholarium, von welchen ich/ ohne andere Bestallung/ lebe/ abwarten müssen/ in etwas abgehalten. Endlich/ in Bedencken/ daß in der Sprach-Lehre/ dem Lexico eine Nomenclatur vorhergehen muß/ hab ich denen Liebhabern zu Ehren diese vollständige Nomenclatur […](welche der Menge nach noch wol ein Dictionarium heissen möchte) verfertigt […]/ wessen Methodum Lehr-Ordnung/ Ziel und Gebrauch besser zu verstehen/ fasse folgende Anordnungen zu Gemüth.

Krämer, Matthias: Allgemeiner Schau-Platz/ auf welchem vermittelst einer kurtzen Frag-Ordnung vorgestellet wird die Teutsche und Italiänische Benennung aller Haupt-Dinge der Welt. Nürnberg 1672, Bl. )( iiij v. (deutschestextarchiv.de)

Die Kenntniß der Sternbilder iſt ein angenehmer und nothwendiger, aber in Abſicht auf den Umfang ein unbetraͤchtlicher Theil der Sternkunde. Sie enthaͤlt bloß die Nomenclatur der Himmelskoͤrper, da die Aſtronomie derſelben Bewegungen, Geſetze, Groͤßen, Entfernungen rc. unterſucht.

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Erster Theil von A bis Epo. Leipzig 1798, S. 136. (deutschestextarchiv.de)

Der Chimborazo ist, nach der Nomenclatur von Gustav Rose, ein Augitporphyr, eine Art Dolerit. […]Auch fehlen ihm Obsidian und Bimstein. Hornblende ist nur ausnahmsweise und sehr sparsam (in zwei Stücken) erkannt worden. Der Chimborazo ist also […], wie Leopold von Buch’s und Elie de Beaumont’s neueste Bestimmungen lehren, der Gebirgsart des Aetna analog.

Humboldt, Alexander von: Ueber zwei Versuche den Chimborazo zu besteigen. In: Jahrbuch für 1837. Stuttgart/Tübingen 1837, S. 176–206, hier 205. (deutschestextarchiv.de)

Die Zusammenstellung dieser auf den einzelnen Atollen entweder in leblosen Gegenständen, Vögeln oder Fischen verkörperten Wesen, die ich hier geben will, mag auf den ersten Blick als eine wertlose Nomenklatur angesehen werden.

Erdland, August: Die Marshallinsulaner: Leben und Sitte, Sinn und Religion eines Südsee-Volkes. Münster 1914, o. S. [DWDS]

Wir wollen uns nicht mit der Behauptung eines Naturereignisses zufrieden geben, und wenn wir in die Gesichtsflächen des Kadetten Ludendorff und des Kanzleisekretärs Michaelis sehen, von Wilhelm zu schweigen, dann erscheint uns die Nomenklatur ‚kosmisches Ereignis‘ einigermaßen barock.

Tucholsky, Kurt: Das Felderlebnis. In: Ders.: Werke, Briefe, Materialien. Berlin 2000 [1922], S. 2760. [DWDS]

Die Spruchkammern haben sich immer viel darauf zugute gehalten, daß die von ihnen ausgesprochenen Urteile keine Strafen, sondern „Sühnen“ darstellten. In der Nomenklatur der Entnazifizierung heißt es auch nicht Verhaftung, sondern „Festhaltung“, nicht Urteil, sondern „Spruch“, nicht Angeklagter, sondern „Betroffener“.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 4. 1950, S. 2.

In den Jahren des Fünfjahrplanes wurde in den Maschinenbauzweigen die Nomenklatur der hergestellten Produktion von Grund auf erneuert.

Neues Deutschland, 19. 4. 1951. [DWDS]

In der Nomenklatur (Namensverzeichnis) für Spirituosen, die als Anlage zu den ministeriellen Begriffsbestimmungen herausgegeben wurden, sind als Fruchtsaftliköre folgende Sorten aufgezählt:

Kölling, Alfred: Fachbuch für Kellner. Leipzig 1962 [zuerst 1956], S. 201. [DWDS]

Nummer der Brüsseler Nomenklatur […] Kapitel 1 Lebende Tiere

Archiv der Gegenwart 30, 29. 2. 1960, S. 8251. [DWDS]

In die „Nomenklatura“ aufgenommen zu sein, bedeutet daher, zur herrschenden Schicht zu gehören und für wichtige Funktionen ausersehen zu sein.

Die Zeit, 19. 5. 1961, Nr. 21. [DWDS] (zeit.de)

Daß die Nomenklaturen links-rechts nicht mehr stimmen, weiß man längst.

Die Zeit, 2. 2.1962, Nr. 05. [DWDS] (zeit.de)

Zwischen „Deutschland“ und „Ostdeutschland“– das ist die offiziell ausgehandelte Nomenklatur – wurde dabei kein Unterschied gemacht.

Die Zeit, 1. 4. 1966, Nr. 14. [DWDS] (zeit.de)

Das ZK der KPTsch bevollmächtigte das Präsidium des ZK der KPTsch, auch weiterhin in notwendigen Fällen Kaderveränderungen vorzunehmen, die der Nomenklatur des ZK der Partei unterliegen.

Neues Deutschland, 29. 1. 1970. [DWDS]

Mit einem aus der Nomenklatur gespeisten Sendungsbewußtsein sollte dem Arbeiterbezirk Kreuzberg in seinem Dunkel politischer Apathie partielle Erleuchtung zuteil werden.

N. N. [Autorenkollektiv am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin]: Sozialistische Projektarbeit im Berliner Schülerladen Rote Freiheit. Frankfurt a. M. 1971, S. 423. [DWDS]

Rund um Moskau dehnt sich ein Ring von luxuriösen Sommerhäusern, „Datschas“, die von undurchdringlichen hohen Drahtzäunen abgeschirmt sind. Das ist die wichtigste Bastion der triumphierenden Nomenklatura, ein Symbol ihrer Macht und ihres Wohlstandes.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 10. 1975, S. 6.

Die Bestätigung der Sekretäre erfolgt entsprechend der Nomenklatur.

Neues Deutschland, 16. 1. 1976. [DWDS]

Weitere Nomenklaturen dienen der […] Abrechnung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten, z. B. die Nomenklatur der Abschreibungssätze, die Leistungsnomenklatur für bautechnische Projektierungen, die Nomenklaturen der Wissenschaftszweige und der Arbeitsstufen in Wissenschaft und Technik sowie die Nomenklatur der Preiskoordinierungsstellen.

Zimmermann, Hartmut (Hrsg.): DDR-Handbuch. Bd. 2. M-Z. Köln 1985, S. 1000. [DWDS]

1. Die Nomenklatur. Eines der wesentlichen Instrumente der K. [Kaderpolitik] ist die Nomenklatur. Sie ist ein Verzeichnis von Positionen und Funktionen auf allen gesellschaftlichen Gebieten, über deren Besetzung die SED entweder direkt entscheidet oder für die sie verbindliche Modalitäten festlegt und sich eine Kontrolle vorbehält.

Zimmermann, Hartmut (Hrsg.): DDR-Handbuch. Bd. 1. A-L. Köln 1985, S. 698. [DWDS]

6. 4. 1986

Thomas ist zurück von einer vierzehntägigen Reise aus der Sowjetunion. Er war nur in Moskau. […] Man hat mit dem Abbau von Privilegien begonnen, und zwar von Oben. Das spezielle Krankenhaus wie die speziellen Läden für Politbüromitglieder etc. sind abgeschafft. Die gesamte Nomenklatur mittlerer und oberer Kategorie geht jetzt ins Kreml-Krankenhaus.

Kuczynski, Jürgen: Tagebuch. Berlin 1987, S. 8. (deutschestextarchiv.de)

Das formale, auf der Nomenklatur beruhende Herangehen an die Auswahl und den Einsatz der Kader ist überlebt.

Neues Deutschland, 6. 7. 1988. [DWDS]

[…]Köpfe wie der des widerborstigen Tapezierers Kurt HAGER, der sich jetzt als Wendehals und Reformer spreizt, obwohl er, der Kulturkommissar HONECKERs, die Hauptschuld daran trägt, daß das geistige Leben in der DDR plattgewalzt, die Künstler und Literaten zum Verstummen gebracht oder in den Westen vertrieben wurden… Und, natürlich, viele Betonköpfe müssen rollen in den niedrigeren Rängen der Nomenklatur überall in der DDR.

Archiv der Gegenwart 59, 18. 10. 1989, S. 33880. [DWDS]

Zudem sieht es Reisebeschränkungen für die libysche Nomenklatur vor, deren ausländische Konten zudem eingefroren wurden.

Braunschweiger Zeitung, 21. 3. 2011.

Nicht zufällig wurde im Westen Russland schon vor dem Kriegsausbruch despektierlich als „Tankstelle mit einer Armee“ bezeichnet. Die Schwäche der Demokratie und der Rechtsordnung erlaubten die Aneignung eines nicht geringen Teils des Reichtums durch eine Nomenklatura, die ihre Privilegien mit Zähnen und Klauen verteidigt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung (online), 9. 10. 2022. (faz.net)

Die Nomenklatur sexueller Identitäten […], an der viele Gesellschaften inzwischen schon eine Weile arbeiten, sieht sich auch mit den Fragen konfrontiert, die […]bei Waltz unter dem Begriff der Ordnung verhandelt werden. Lange Zeit galt es als gewiss, dass mit der Geburt die sexuelle Identität feststehe, auch das besiegelte der Jungen- oder Mädchenname. Nun ist diese Gewissheit als Ideologie begriffen.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25. 6. 2023, Nr. 25, S. 35.