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Establishment

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Als kritische Bezeichnung für die auf Erhalt des Status quo bedachte herrschende Schicht in Politik und Gesellschaft gelangt Establishment um 1960 aus dem Englischen ins Deutsche. In den politischen Auseinandersetzungen um 1968 wird es zum Schlagwort der Protestbewegung; es wird hier auf die bürgerliche Gesellschaft als Ganze übertragen, von der sich die Protestierenden distanzieren. Wie schon im Englischen kann das Wort seit Beginn der Übernahme aber auch auf die tonangebenden Gruppen innerhalb einzelner gesellschaftlicher Felder (Medizin, Kunst, Literatur u. a.) bezogen werden.

Wortgeschichte

Die Machtelite im Hintergrund

Establishment tritt um 1960 zuerst in deutschen Texten auf (1959a, 1959b, 1961). Entlehnungsgrundlage ist ein Modewort in der englischen und amerikanischen politischen Literatur, wie es in einem frühen deutschen Beleg heißt (1962a). Die Bedeutung dieses englischen Modeworts lässt sich umschreiben als soziale Gruppe, die entweder allgemein oder auf einem bestimmten Gebiet bzw. innerhalb einer bestimmten Institution Macht ausübt (nach 3OED unter establishment 8 b); die Machtausübung durch das establishmentengl., so führt das ³OED weiter aus, vollzieht sich nicht nur unmittelbar durch Herrschaft, sondern beruht vor allem auf eher weichen Faktoren: auf einem stillschweigenden Einvernehmen zwischen den Mächtigen, einer gemeinsamen Sprache sowie der Überzeugung, dass der Status quo gut für die eigene Gruppe und deshalb zu erhalten sei (vgl. auch den deutschen Beleg 1962b. Das establishment ist deshalb grundsätzlich konservativ.1)

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Im Englischen selbst ist das Wort wesentlich älter und umfasst eine große Vielfalt von Bedeutungen (s. 3OED unter establishment). Die Prägung der hier einschlägigen Verwendung hat der englisch-amerikanische Journalist Henry Fairlie für sich in Anspruch genommen. Im ³OED wird hierfür als locus classicus eine Passage Fairlies aus dem Spectator (1955) angeführt: By the Establishment I do not mean only the centres of official power—though they are certainly part of it—but rather the whole matrix of official and social relations within which power is exercised. Nach Ausweis des ³OED sind vergleichbare Wortgebräuche aber schon wesentlich früher bezeugt (ab 1923), wenn auch nur sporadisch; Fairlie ist deshalb wohl nicht als der eigentliche Schöpfer dieser Wortprägung anzusehen.

In dem bereits erwähnten Beleg (1962a) heißt es noch, dass für das englische Wort kein genaues deutsches Äquivalent vorhanden sei. Auch in den wohl frühesten Belegen (1959a, 1959b) ist es noch lediglich auf englische Verhältnisse bezogen (im Beleg 1961 übrigens als Synonym zu geistige Elite, s. EliteWGd); in den Belegen ab 1963 scheint sich dann aber sehr rasch eine Anwendung des Wortes auf Gegebenheiten im deutschsprachigen Raum durchzusetzen: Es ist z. B. vom bundesrepublikanischen Establishment (1963a) bzw. vom Establishment der österreichischen Provinz (1963b) die Rede. (Das Wort ist hier bezeichnenderweise in Anführungszeichen gesetzt, woraus man schließen kann, dass noch das Bedürfnis besteht, seinen Gebrauch als fremd oder ungewöhnlich zu markieren.) Establishment ist hier Sammelbezeichnung für alle Gruppierungen, die gemeinsam die Machelite eines Staates bilden und die entscheidenden Schlüsselpositionen innerhalb der Gesellschaft besetzen. Im Einzelnen sind dies etwa die führenden Geschäftsleute, die Großagrarier, die Bundesheer-Garnisonen, die Kirche (1963b mit Bezug auf Österreich, vgl. auch 1964b). Zentrale semantische Merkmale sind auch hier (ähnlich wie schon im Englischen): Das Establishment ist konservativ bis reaktionär, und es agiert im Verborgenen, wodurch es eine unheimliche Unangreifbarkeit gewinnt. Indem sich das Wort auf ein im Hintergrund agierendes, aber umso einflussreicheres Netzwerk bezieht, kommt ein Unterton zur Geltung, den man aus heutiger Perspektive als verschwörungstheoretisch bezeichnen könnte (vgl. auch VerschwörungstheorieWGd).

Das Wort enthält damit auch eine deutliche Wertung: Dass es in einer Gesellschaft ein Establishment gibt, wird in den Belegen stets als problematischer Zustand beschrieben. In diesem Punkt unterscheidet sich Establishment übrigens von EliteWGd, das zwar einen vergleichbaren Bezug hat, das jedoch nicht auf die kritische Lesart festgelegt ist. Bei Establishment handelt es sich somit um ein Wort, mit dem Gesellschaftskritik zum Ausdruck gebracht wird.

Personifikationen: das Establishment als Akteur

Wie an den genannten Belegen (1963b) und (1964b) deutlich wird, fasst das Wort stark unterschiedliche Interessengruppen und Institutionen zu einer kohärenten Einheit zusammen. Das Establishment, so heterogen es auch sein mag, kann daher auch als bewusst und intentional handelnder Akteur konzeptualisiert werden: Es ist den rechten Kameradschaften gegenüber freundlich gesinnt (1963b), es gibt sich liberal (1964a). In Ansätzen liegt hier somit eine Personifikation vor.

Schlagwort der 1968er-Bewegung

Mitte der 1960er Jahre deutet sich eine Übertragung an, die sich dann vor allem im Rahmen der Protestbewegungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre voll entfaltet: Establishment steht nun nicht mehr nur für die im Hintergrund agierende Machtelite, sondern für die gesamte bürgerliche Gesellschaft und deren Institutionen, welche von dieser Elite – so die Behauptung – manipuliert werden (1967b, 1970).2) Diese neue Verwendung kommt auch schon – im Reim und mit ironischer Färbung – in dem als Slogan der Kommune I kolportierten Spruch zum Tragen: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment (1968). Dieses Establishment ist somit Gegenstand deutlich artikulierter Ablehnung seitens der Protestbewegungen, die diesem eigene, alternativeWGd Lebensentwürfe entgegenstellen. In den semantischen Kämpfen der 1968er Jahre erhält Establishment damit Schlagwortcharakter.

Die hier angesprochene Bedeutungserweiterung und der sich entwickelnde Schlagwortgebrauch mag auch eine Erklärung dafür sein, dass Establishment in den DWDS-Zeitungskorpora um 1970 einen deutlichen Frequenzhöhepunkt erreicht (s. Abb. 1).

Trotz der signifikanten Erweiterung des Bezeichnungsspektrums, das nun nicht allein die Machtelite, sondern in diffuser Weise die gesamte Gesellschaft jenseits der eigenen Bezugsgruppe, ja die gesamte Gesellschaftsordnung umfasst, bleibt die bereits angesprochene Möglichkeit der Personifikation erhalten: Establishment kann auch in dieser Lesart einen bewusst und intentional handelnden, als Person konzipierten Akteur beschreiben: Das Establishment antwortet der APO (so in einem Buchtitel 1968), es fühlt sich bedroht und übt Gewalt aus (1967a), und man kann es auch herausfordern (1970).

Mit dem Verschwinden der Protestbewegungen ab Mitte der 1970er Jahre geht dieser Schlagwortgebrauch wieder zurück (wie auch die Häufigkeit des gesamten Wortgebrauchs ab 1975 zunächst rückläufig ist, s. Abb. 1). In seiner angestammten Bedeutung herrschende Schicht, Machtelite bleibt Establishment allerdings bis in die Gegenwart erhalten. In der auf den Zeitungskorpora beruhenden Frequenzkurve zeigt sich ab 2012 dann übrigens auch wieder ein Anstieg der Vorkommenshäufigkeit.

Machteliten in kleineren Gruppen und Feldern

Establishment wird seit den 1960er Jahren nicht nur auf die herrschende Schicht in einer Gesellschaft bzw. die bürgerliche Gesellschaft als Ganze bezogen, sondern auch im Hinblick auf kleinere soziale Gruppen bzw. spezifischere Handlungsfelder gebraucht. Damit entfernt sich der Wortgebrauch zumindest teilweise von der großen Sphäre der Politik. Hier ist dann etwa vom literarischen, wissenschaftlichen, historischen oder medizinischen Establishment die Rede (1966, 1999b, 2000). Die Bedeutung ist hier also Gruppe, die in einem bestimmten Feld, innerhalb einer Institution über die Macht, die Deutungshoheit verfügt und diese Macht, Deutungshoheit gegenüber Nicht-Zugehörigen verteidigt. Zu dieser Art von Establishment sind somit alle zu rechnen, die auf einem bestimmten Feld Karriere gemacht haben, wichtige Positionen besetzen und deshalb dazugehören. Neben dem Aspekt der Macht ist hier in der Tat auch der der Deutungshoheit wichtig: Das medizinische Establishment z. B. legt nicht nur fest, wer dazugehört und wer nicht, es bestimmt gleichzeitig auch, welche Standards im jeweiligen Feld gelten.

Anmerkungen

1) Zur frühen Entlehnungsgeschichte vgl. auch Anglizismen-Wb., 440, 2DFWB unter Establishment sowie ferner 2DWB 7, 2409, sämtliche der genannten Wörterbücher bieten Belege ab 1962.

2) Zur Verwendung des Wortes Ende der 1960er Jahre, vor allem zur Synonymie mit Gesellschaft vgl. den Artikel Establishment im Projekt Protestdiskurs 1967/1968.

Literatur

Anglizismen-Wb. Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945, begründet von Broder Carstensen, fortgeführt von Ulrich Busse. Bd. 1–3. Berlin/New York 1993–1996.

2DFWB Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völlig neu erarbeitet im Institut für Deutsche Sprache von Gerhard Strauß u. a. Bd. 1 ff. Berlin/New York 1995 ff. (owid.de)

2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)

3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)

Belegauswahl

In seinem Artikel bekämpft Fairlie den Mythos von der Unabhängigkeit der BBC. Er benutzt dazu die von ihm selbst aufgestellte Theorie des „Establishment“. Nach dieser Theorie wird die englische Öffentlichkeit von einer Verschwörung beherrscht, die nach Fairlie „keine Wurzeln im nationalen Leben hat und über keine tiefsitzenden nationalen Empfindungen verfügt“.

Den Begriff „Establishment“ leitet Fairlie von der „Established Church“ ab, der von Heinrich VIII. […](1491 bis 1547) etablierten englischen Staatskirche, die seitdem eher für ihre Gefügigkeit gegenüber der jeweiligen weltlichen Macht als für theologische Profilierung bekannt ist.

Der Spiegel 42, 14. 10. 1959, S. 64. (spiegel.de)

Diese Gratulation [in einer Rezension in der Zeitschrift „News Chronicle“] bedeutete, daß die ungreifbare Gruppe von Persönlichkeiten, die Englands öffentliches Leben bestimmen – das sogenannte Establishment –, ein neues Kapitel der Londoner Theatergeschichte anerkannt hatte.

Der Spiegel 11, 11. 3. 1959, S. 54.

Der Wohlfahrtsstaat […], die „affluent society“, gibt Harry Brown die Chance, zur Universität zu gehen, zur geistigen Elite zu gehören und ins establishment hineinzuwachsen – das heißt also, zu den maßgebenden Leuten zu gehören, wozu allerdings eine Voraussetzung gehört: nämlich, die Werte zu akzeptieren, die hier gelten.

Die Zeit, 6. 1. 1961, Nr. 02. [DWDS] (zeit.de)

Es gibt für das Wort establishment – übrigens neuerdings ein Modewort in der englischen und amerikanischen politischen Literatur – kein genaues deutsches Äquivalent.

Die Zeit, 3. 8. 1962, Nr. 31. [aufgerufen am 1962. ]

Die Legende vom „Establishment“, einer geheimen Machtelite der High Society.

Anglizismen-Wb. 1, 440 (Welt, 1. 12. 1962, S. 1).

In Wahrheit verleiht solche Bescheidung der Böllschen Kritik am bundesrepublikanischen „Establishment“ eine Glaubwürdigkeit und Integrität, mit der es kein kulturkritisch gebildeter Generationsgenosse Bölls aufnehmen kann.

Die Zeit, 7. 6. 1963, Nr. 23. [DWDS] (zeit.de)

Im ganzen gesehen, ist das „Establishment“ der österreichischen Provinz – die führenden Geschäftsleute, die Großagrarier, die Bundesheer-Garnisonen, die Kirche – den Kameradschaftsbünden aber jedenfalls eher freundlich gesinnt.

Die Zeit, 8. 11. 1963, Nr. 45. [DWDS] (zeit.de)

Notorisch zu unattraktiv, um die geistige Elite für die Mitarbeit im öffentlichen Wesen gewinnen zu können, gibt sich das bundesdeutsche „establishment[…]trotz all seinen gelegentlichen Fehlgriffen alles in allem doch viel zu liberal, als daß es zu mehr als zu halbherzig-rhetorischen Angriffen herausfordern könnte.

Der Spiegel 49, 1. 4. 1964, S. 24.

Etwas weiter erklärt Gehlen genau, wogegen die Literatur-Linke […](warum eigentlich nicht Linksliteraten?) eingestellt sei: „von Grund aus gegen das Bestehende, gegen den Staat, gegen die Gerichte und gegen die Justiz, gegen das große Eigentum, gegen die Kirche, gegen das Heer, gegen das sogenannte Establishment, das heißt gegen alles, was in der harten Welt der Geschäfte sich abmühen muß, einschließlich der Parteikader aller Parteien.“

Die Zeit, 16. 10. 1964, Nr. 42. [DWDS] (zeit.de)

Sind die Beziehungen zwischen Autor, Verleger und Leser durch ein literarisches Establishment manipulierbar?

Die Zeit, 30. 9. 1966, Nr. 40. [DWDS] (zeit.de)

Fühlt sich das Establishment jedoch bedroht, wird sublime zu manifester Gewalt.

Die Zeit, 7. 7.1967, Nr. 27. [DWDS] (zeit.de)

Da hausen sie denn in […]unbeschreiblichen, hohen und eiskalten Mannschaftsstuben, malen Bilder, husten, lieben sich in Hängematten, schlucken LSD, sind gegen Bonn und Berlin und das ganze Establishment: eine Anarchistenwelt, wie in Petersburg 1905.

Die Zeit, 4. 8. 1967, Nr. 31. [DWDS] (zeit.de)

Slogan der West-Berliner Kommune I: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“.

Winkler, Hans Joachim/Helmut Bilstein: Das Establishment antwortet der APO: eine Dokumentation. Opladen 1968, [S. 158]. (books.google.de)

Im Osten von Denver haben Hippies ein Haus und nennen es » Provo « und wollen so andeuten, daß sie das Establishment herausfordern.

Johnson, Uwe: Jahrestage, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1970, S. 335. [DWDS]

Professor Fritz Machlup […]wird heute, am 15. Dezember, fünfundsiebzig Jahre alt. 1902 in Wiener Neustadt geboren? wurde […]er, der Nationalökonom, vom berühmten Wien der zwanziger Jahre geprägt, – nicht vom Wien der Cafe-Häuser, sondern vom Wien der geistig regen […], meist kleinen informellen Gruppen, die zugleich in scharfem Gegensatz zum wissenschaftlichen Establishment der Lehrstühle standen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 12. 1977, S. 12.

Die Reaktion auf Luthers Thesen war ein wilder Pamphletenkrieg mit den üblichen Drohungen des Establishments.

Schwanitz, Dietrich: Bildung, Frankfurt a. M. 1999, S. 109. [DWDS]

Robin Williams verkörpert in dieser Komödie einen Arzt, der gegen das medizinische Establishment rebelliert und an die heilende Wirkung des Humors glaubt.

St. Galler Tagblatt, 9. 4. 1999. [IDS]

Irving hatte es mehr als dreißig Jahre lang allzu leicht mit dem historischen Establishment.

Die Zeit, 20. 4. 2000, Nr. 17. [DWDS] (zeit.de)