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Soziabilität · Soziabilisierung

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Sowohl Soziabilität als auch Soziabilisierung sind Wortbildungen zum älteren soziabel. Soziabilität begegnet bereits im 19. Jahrhundert gelegentlich und kann seither sowohl Geselligkeit als auch Fähigkeit, sich der Gesellschaft anzupassen bedeuten. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts findet das Wort Eingang in die Fachsprachen der Psychologie und der Soziologie. Soziabilisierung ist dahingegen von Anbeginn ein Wort der Fachsprachen. Stärker als das auf die Bedeutung Fähigkeit zur Anpassung an die Gesellschaft ausgerichtete Soziabilität betont der Ausdruck Soziabilisierung, der sich auf die erste Phase der Sozialisation bezieht, das Prozesshafte.

Wortgeschichte

SoziabelSoziabilitätSoziabilisierung

Die beiden Wörter Soziabilität und Soziabilisierung sind Wortbildungen zum älteren soziabelWGd, das im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert mit der Bedeutung gesellig, umgänglich bezeugt ist (1691) und in jüngerer Zeit und insbesondere in der Soziologie auch fähig, willig, sich in die Gesellschaft einzupassen (2005b) bedeuten kann. Etymologisch lassen sich alle drei Wörter auf das lateinische sociābilis vereinbar, gesellig-verträglich zurückführen (vgl. 1DFWB 4, 287–288).

Soziablilität: Von der Alltagssprache in die Fachsprache

Soziabilität ist seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bezeugt (1828, 1860) und hat seither die Bedeutungen Kontaktfreudigkeit, Geselligkeit, Umgänglichkeit (1846b), es wird bereits früh aber auch schon in Bezug auf die Fähigkeit und den Willen des Menschen, sich in die Gesellschaft einzugliedern, verwendet (1846a). Ausgehend von solchen Verwendungen wird das Wort seit der Jahrhundertwende in verschiedene Fachsprachen übernommen, so insbesondere in die der Psychologie (1934, 2005a) sowie der Soziologie (1903, 1999), in der Soziabilität nunmehr Fähigkeit, sich der Gesellschaft anzupassen bedeutet (vgl. 1DFWB 4, 288). Daneben steht im 19. Jahrhundert noch die heute veraltete Bedeutung Vereinbarkeit, Passung (1871).

Während des gesamten 19. Jahrhunderts ist die Bezeugungsfrequenz von Soziabilität insgesamt gering, erst seit der Jahrhundertwende begegnet das Wort deutlich häufiger. Auffallend ist darüber hinaus, dass Soziabilität sowohl gegenüber dem älteren soziabel als auch gegenüber dem erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägten Soziabilisierung eine deutlich höhere Bezeugungsfrequenz hat (vgl. die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).

Soziabilisierung: Ein Wort der Fachsprache

Neben Soziabilität tritt als weitere Wortbildung Soziabilisierung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz sporadisch bezeugt (1939), findet Soziabilisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann etwas weitere Verbreitung (1969a, 2002). Anders als Soziabilität ist Soziabilisierung von Beginn an ein fachsprachliches Wort. Das Deutsche Fremdwörterbuch vermerkt für Soziabilisierung 1978 jedenfalls in neuester Zeit […] fachsprachl. in der Soziologie verwendete[s] Substantiv […] als Bezeichnung für die erste Phase der Sozialisation (1DFWB 4, 288; 1969a, 2009). Man wird wohl ergänzen müssen: Soziabilisierung ist ein Konzept, das gerade im Übergangsbereich von Soziologie und Psychologie zu verorten ist; das Wort Soziabilität wird insofern auch in beiden Fachsprachen verwendet (1969b).

Die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers bestätigt im Übrigen einen Anstieg der Bezeugungsfrequenz seit den 1950er Jahren mit einem deutlichen Höhepunkt in den 1970er Jahren, zeigt danach abgesehen von einem kleineren Anstieg in den 2000er Jahren aber auch einen Rückgang der Bezeugungsfrequenz.

SoziabilisierungSoziabilität. Bestimmung eines Verhältnisses

Gegenüber Soziabilität als Fähigkeit zur Anpassung an die Gesellschaft wird mit Soziabilisierung über die Endung -ierung gerade das Prozesshafte betont, mithin gerade die Entwicklung hin zur Fähigkeit, sich in die Gesellschaft einzugliedern. Anders formuliert: Die Soziabilisierung führt zur Soziabilität des Menschen.

Literatur

1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)

Belegauswahl

Woraus man denn den Schluß zu faſſen hat/ daß/ wenn es wohl um ihm ſtehen ſolle/ er ſociabel, oder geſellig ſeyn/ das iſt mit ſeines gleichen in Geſellſchafft treten/ und ſich dergeſtalt gegen dieſelben verhalten muͤſſe/ damit ſie keine probable Urſache bekommen/ ihm etwas Leides zu thun/ ſondern vielmehr jederzeit ſein Beſtes ſuchen/ und befoͤrdern moͤgen.

Pufendorf, Samuel von: Einleitung zur Sitten- und Stats-Lehre. Oder Kurtze Vorstellung der Schuldigen Gebühr aller Menschen/ und insonderheit der Bürgerlichen Stats-Verwandten/ nach Anleitung Derer Natürlichen Rechte. Hrsg. von Immanuel Weber. Leipzig 1691, S. 78. (deutschestextarchiv.de)

Mehreres, bei Bildung des heiligen Bundes, verdient besonders bemerkt zu werden. So ist Frankreich nur erst nach einer gewissen Quarantaine, der Garantie seiner moralischen Gesundheit, der Zutritt zugestanden worden. Nach denselben Grundsätzen gehört England nur zur Hälfte in diese Allianz, und, so zu sagen, unter der alleinigen materiellen Beziehung seiner Politik. Es befindet sich ausser ihr, sobald die Rede von den Grundsätzen der Soziabilität ist, wie man das in den Angelegenheiten Spaniens und Amerika’s bemerkt hat. Preussen selbst befindet sich nur im zweiten Range.

de Pradt: Kritik. Die bewaffnete Vermittelung zur Pazifikation Griechenlands. In: Malten (Hrsg.): Bibliothek der Neuesten Weltkunde. Erster Theil. Aarau 1828, S. 190–198, hier S. 191. (books.google.de)

Allein wir leugnen geradezu, daß der Mensch seiner Natur nach ein reinsoziales Wesen, daß das Streben nach einer abgeschlossenen und abgesonderten Persönlichkeit eine bloße Entartung der menschlichen Natur sei. Vielmehr glauben wir, daß Beides nothwendig zusammengehört und sich gegenseitig ergänzt, eben so gut wie das Ganze und die Theile, wie die Einheit und die Vielheit. Der Egoismus gemildert durch die Soziabilität, durch das Streben nach Gemeinschaft, dieses Letztere aber geschützt gegen Zerfahrenheit und Haltlosigkeit durch den natürlichen Trieb nach einem festen Stütz- und Anknüpfepunkte der Einzelexistenz und Einzelthätigkeit – Dies ist das rechte Maß, die rechte Mitte des menschlichen Lebens und Handelns.

Biedermann, Karl: Sozialistische Bestrebungen in Deutschland. Dritter Artikel. In: Ders. (Hrsg.): Unsre Gegenwart und Zukunft. Vierter Band. Leipzig 1846, S. 268–332, hier S. 328. (books.google.de)

Dieser Mann ist kein andrer, als ich, obgleich allein und gern einsam lebe, bin ich nichts, destoweniger soziabel und der Sympathie fähig geblieben.

So ist es auch mit vielen Andern. Ein unvertilgbarer, untrübbarer Schatz von Soziabilität schlummert dort in den Tiefen.

Michelet, J.: Das Volk. Deutsch von P. Str. Nordhausen 1846, S. 198. (books.google.de)

Sie [die Franzosen] sind kein Volk der starken und eigensinnigen Individualität, sie sind die Race der Soziabilität, berufen, Großes durch Einheit, durch Harmonie der Massen zu erzielen. In ihren ersten Revolutionsakten wie in ihren Angriffskriegen sind sie bewundernswürdig.

Grün, Karl: Die jüngste Literatur-Bewegung in Frankreich. In: Ludwig Walesrode (Hrsg.): Demokratische Studien. Hamburg 1860, S. 343–376, hier S. 353. (books.google.de)

Die Sociabilität endlich der Männer- mit den Frauenstimmen, also die heterogene vokale Phonetik, dehnt diese anschauliche Bürgschaft der Willens-Identität auf das Verhältniß der beiden Geschlechter zu einander aus, wie verschieden auch in beiden die Richtung und der Ausdruck des Willens sei, und wie stark auch sowohl die nothwendigen wie auch die rein conventionellen Schranken seien, die zwischen Mann und Weib aufgerichtet sind: der Chorgesang vereinigt sie zu reiner und harmloser „Freude“ – ich meine hier noch nicht: an der Kunst, sondern an einander, und von ihm läßt sich im philosophischen Sinne einer menschlich wünschenswerthen Befreiung von diesen conventionellen Schranken sagen:

„Deine Zauber binden wieder,

Was die Mode streng getheilt“ -

aber auch in Betreff der nothwendigen Schranken zwischen Geschlecht und Geschlecht, der natürlich entstehenden zwischen Angehörigen verschiedenen Alters, Geschlechts und Naturells ist der bloße Umstand, daß sie als Stimmencharaktere alle sich sociabel mit einander erweisen, eine anschaulich eindringliche Erinnerung daran, für Sänger und Zuhörer, daß wir immer Alle zu der einen großen Menschenfamilie gehören und derselbe ewige Wille uns trägt, und zwar eine Erinnerung der Art, daß sie nicht leicht im Sinne wilder Promiscuität mißverstanden werden kann, und so darf es wiederum von dem gemischten Chorgesang heißen:

„Alle Menschen werden Brüder,

Wo Dein sanfter Flügel weilt.“

Fuchs, Carl: Präliminarien zu einer Kritik der Tonkunst. Leipzig 1871, S. 55. (books.google.de)

Der Grad und die Art der Soziabilität sind nirgends und niemals gleich.

Eisler, Rudolf: Soziologie. Die Lehre von der Entstehung und Entwickelung der menschlichen Gesellschaft. Leipzig 1903, S. 59. (books.google.de)

Die Soziabilität als geistiger Text der Kinderkollektive: Beim Studium zurückgebliebener Kinder war die Frage, wie weit sind die Kinder einer Gemeinschaft fähig, wie weit beeinflussen sie diese und werden durch sie beeinflußt, zu beantworten.

Klemperer: Rezension zu: Schneersohn, F.: Sociability of abnormal children and social child psychology. (Sociability as a mental text of child groups.) Investigations at the children’s hospiutal, Randall’s Island, N.Y. In: Zeitschrift für Kinderforschung 42 (1934) (Referate), S. 180–182, hier S. 181.

Verf. beschäftigt sich mit dem Problem der Verwahrlosung und kommt zum Schlusse einer aufschlußreichen Abhandlung, die reich ist an Eigenerfahrung und treffenden Fassungen, zur Aufstellung folgenden psychologischen Schemas für das dissoziale Verhalten von Jugendlichen: 1. Gelegenheitsdelikt. 2. Erziehungsmängel: a) Liebesverwahrlosung, b) ungenügende Pflege, c) ungenügende Soziabilisierung ( – primäre pädagogische Verwahrlosung), d) ungenügende Normierung, e) abweichende Normierung, f) ungenügende Persönlichkeitsentwicklung in unvollständiger Familie.

Zeitschrift für Kinderforschung 47 (1939), S. 251–252.

Der Sozialisationsprozeß beginnt im Säuglingsalter, mit der „zweiten, sozio-kulturellen Geburt“, und führt zunächst zur Begründung eines „Urvertrauens“ und „sozialen Optimismus“, der Grundlage der Bereitschaft zu sozialer Interaktion ist („Soziabilisierung“).

Winter, Gerd: Sozialer Wandel durch Rechtsnormen erörtert an der sozialen Stellung unehelicher Kinder. Berlin 1969, S. 19.

Es gibt insbesondere in der Psychologie eine Fülle von Einteilungen des Sozialisationsprozesses. Hier soll im wesentlichen Claessens gefolgt werden, der einen gewissen Konsensus der soziologischen Ansätze wiedergibt. Zur Soziabilisierung s. Claessens S. 77 ff.

Winter, Gerd: Sozialer Wandel durch Rechtsnormen erörtert an der sozialen Stellung unehelicher Kinder. Berlin 1969, S. 19.

In der soziologischen Anthropologie werden insbesondere zwei Eigenschaften des Menschen in den Mittelpunkt der Bedingungen menschlicher Existenz gerückt: erstend die Fähigkeit zur Aufnahme und zum Erhalt von sozialen Beziehungen. Diese Eigenschaft wird mit Soziabilität bezeichnet.

Esser, Hartmut: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/New York 1999, S. 161.

Soziabilisierung meint die Weckung der ersten menschlichen Regungen im neugeborenen Menschen, die ihn zu einem kommunikationsfähigen Wesen machen, das auf menschliche Regungen reagiert und damit überhaupt erst die Voraussetzungen dafür erwirbt, daß der eigentliche Sozialisationsprozeß beginnen kann.

Schwarte, Johannes: Der werdende Mensch. Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute. Wiesbaden 2002, S. 210.

Es wird außerdem angenommen, dass Emotionalität ein Kernbestandteil des Neurozentrismus und Soziabilität ein wichtiger Teilbereich der Extraversion ist.

Angleitner, Alois/Frank M. Spinath: Temperament. In: Hannelore Weber/Thomas Rammsayer (Hrsg.): Handbuch Persönlichkeitspsychologie und Differentielle Psychologie. Göttingen u. a. 2005, S. 244–250, hier S. 245.

Menschen

[…]

soziabel

a) leben in Gemeinschaft

b) halten sich an die etablierten Regeln des Zusammenlebens

c) sind ‚zivilisiert‘, verzehren nicht Ihresgleichen

Raible, Wolfgang: Grenzen des Menschseins: Inklusion und Exklusion durch Sprache. In: Justin Stagl/Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen. Wien u. a. 2005, S. 595–620, hier S. 600 [Tabelle 1: Zusammenfassung der Eigenschaften, die in dem analysierten Odyssee"-Passus den normalen Menschen und dem kyklopischen Unmenschen zugeschrieben werden].

Der Prozess der Adaption kultureller Werte bzw. der Ausbildung eines Über-Ich erfolgt nach Claessens in drei Schritten: der Soziabilisierung, der Enkulturation un der sekundären sozialen Fixierung.

Schmidt, Uwe/Marie-Theres Moritz: Familiensoziologie. Bielefeld 2009, S. 105.