Wortgeschichte
Sozialisch: Ein fast unbekanntes Wort
Kaum jemand wird heutzutage wohl noch das Wort sozialisch verwenden – und doch gehört es zum (historischen) Wortschatz des Deutschen. Schon die Erstbearbeitung des Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm bucht sozialisch Anfang des 20. Jahrhunderts als ungewöhnlich (bezw. veraltet) für sozial
(vgl. 1DWB 16, 1826) und das Deutsche Fremdwörterbuch verweist darauf, dass sozialWGd im 19. Jahrhundert vereinzelt auch in der Form sozialisch bezeugt sei (1DFWB 4, 288–293). Besonders weite Verbreitung scheint das Wort denn auch nicht gehabt zu haben. Und doch gab und gibt es das Wort – noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es zwar nur selten aber doch bezeugt.
Sozialisch zwischen sozial, sozialdemokratisch und sozialistisch im 19. Jahrhundert
Erstmals bezeugt ist sozialisch bereits Ende des 18. Jahrhunderts, zunächst mit der Bedeutung sozial
(1777) – und damit zu einer Zeit, in der sozial über das gleichbedeutende französische social aus dem lateinischen sociālis ins Deutsche entlehnt wird (vgl. sozialWGd sowie 1DFWB 4, 288–293). Vermutlich handelt es sich hier um eine Spontanbildung, jedenfalls scheint erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Anzahl der Belege ein wenig anzusteigen (1845, 1853, 1874). Sozialisch kann zum einen mit der Bedeutung sozial
im heutigen Verständnis verwendet werden (1853, 1894, 1897). Zum anderen tritt das Wort in Bezug auf politische Haltungen auf, hier dann in der Bedeutung sozialdemokratisch bzw. sozialistisch
(1850, 1876, 1892, 1922). Hier ist zu berücksichtigen, dass sozial und sozialistisch ihrerseits im 19. Jahrhundert wohl mindestens noch eine ähnliche Bedeutung haben und erst im 20. Jahrhundert endgültig auseinander treten (so zumindest nachzulesen bei Zimmermann 1948, 181). Bisweilen begegnet sozialisch mit dieser Bedeutung im 19. Jahrhundert im Übrigen in politisch motivierten Versdichtungen auf (1871, 1876); hier mag die Metrik ihren Anteil an der Bevorzugung von sozialisch gegenüber sozialistisch, sozialdemokratisch oder sozial gehabt haben.
Von sozialischer Erziehung und sozialischem Realismus. Verwendungen im 20. Jahrhundert
Im 20. Jahrhundert wird sozialisch kaum mehr im Sinne eines breit gefassten Verständnisses von sozial
verwendet; wenn es synonymisch für sozial verwandt wird, dann im Sinne eines sozialistischen Wortverständnisses (1922). Möglicherweise von hier aus wird sozialisch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vereinzelt auch als verknappte Form für sozialistisch gebraucht (1948, 1962), so insbesondere auch in der Wortverbindung sozialischer Realismus (1992), wobei hier nicht immer ganz klar ist, ob es sich tatsächlich um den Gebrauch des Worte sozialisch oder lediglich um einen Druckfehler handelt (1969). In das in der DDR erarbeitete Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG) schafft es sozialisch jedenfalls nicht und auch in den Einträgen zu sozialistisch und Sozialismus findet es keine Erwähnung.
Literatur
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.
Zimmermann 1948 Zimmermann, Waldemar: Das „Soziale“ im geschichtlichen Sinn- und Begriffswandel. In: L. H. Ad. Geck/Jürgen von Kempinski/Hanna Meuter: Studien zur Soziologie. Festgabe für Leopold von Wiese. Bd. 1. Mainz 1948, S. 173–191.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu sozialisch.