Wortgeschichte
Von unsozial und antisozial zu asozial: Antonyme zu sozial
Asozial entsteht als Adjektiv Ende des 19. Jahrhunderts – und damit über 100 Jahre nach sozialWGd. Gleichwohl ist asozial nicht das erste im weiteren Sinn als Antonym zu sozial zu verstehende Wort: Seit dem 19. Jahrhundert sind unsozialWGd und antisozialWGd bezeugt (1831; 1818). Asozial wird zunächst in recht unterschiedlichen Kontexten und mit recht unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Das Spektrum reicht in den ersten Jahren von vollständig außerhalb jeglicher menschlichen Gesellschaft stehend
(1899) über außerhalb der Gesellschaft, im privaten
(1905) bis hin zu am Rande der Gesellschaft stehend
(1909). Insgesamt scheint die Bedeutung zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt zu sein. Noch in den 1910er Jahren scheint das Wort, das nun sukzessive eine genauer zu bestimmende Bedeutung erhält, soweit offen zu sein, dass Max Weber es vergleichbar apolitisch verwenden kann (1920).
Verknüpfung mit sozial randständigen Personengruppen: Der Asozialitätsdiskurs der Weimarer Republik
Ab den 1910er Jahren wird das Wort mit gesellschaftlich randständigen Personengruppen verknüpft, so insbesondere mit Prostituierten (1912b), Alkoholikern (1912c), geistig erkrankten Menschen (1909) und Kriminellen (1912d). Über diese Verknüpfung wird asozial nun zu einer negativ konnotierten Fremdzuschreibung, die sich zugleich unmittelbar mit den Topoi Unproduktivität
und Arbeitsscheu
verbindet (1912b). Das Wort tritt zudem besonders im Kontext der Fürsorge auf (1912d). Diese semantische Entwicklung stellt zugleich die Weichen für die weitere semantische Transformation des Wortes asozial im Verlauf des 20. Jahrhunderts.
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Die mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln dieses Diskurses der Weimarer Republik sind dabei wohl in der Frühzeit der protestantischen Arbeitsethik
(Weber) und ihrem Arbeitsethos zu suchen (vgl.
Korzilius 2005, 697). Dieses Erbe zeigt sich bis in Formulierungen hinein wie [d]as Verlangen der meisten asozial veranlagten Naturen nach einem angenehmen Leben kann sich nur durch das Verbrechen Befriedigung verschaffen
(1912a) oder dem Verbrechen verfielen, wenn sie nicht auf diesem Wege einen bequemen und mühelosen Erwerb fänden
(1912b).
Bereits in den 1920er Jahren verbindet sich das Wort darüber hinaus mit dem Rassenhygienediskurs:
Das zweite Gesetz soll die Möglichkeit geben, das sogenannte Berufsverbrechertum, das sich aus erblich schwer belasteten, asozialen (gesellschaftsfeindlichen) Elementen zusammensetzt, nach Möglichkeit durch Kastration gänzlich aussterben zu lassen. [1927]
Spätestens jetzt kann asozial über am Rande, außerhalb der Gesellschaft stehend
hinaus auch gegen die Gesellschaft gerichtet, gesellschaftsfeindlich
bedeuten.
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Die Grundidee der Rassenhygiene lässt sich bis ins Kaiserreich zurückverfolgen. Während der Weimarer Zeit entwickelte sie sich jedoch zu einer sozial-politischen Bewegung mit wissenschaftlichem Anspruch; minderwertige Ballastexistenzen
sollen in der Auffassung der Zeit keinesfalls durch aufwändige, aber sinnlose Sozialleistungen künstlich hochgepäppelt werden, während gleichzeitig vollwertige Arbeitskräfte hungerten (vgl.
Ayaß 1995, 13). Eine weitere rassenhygienische Argumentationslinie beschwor die unkontrollierte Vermehrung minderwertiger
und asozialer
Bevölkerungsgruppen herauf (vgl.
Ayaß 1995, 13). Vor dem Hintergrund dieses Diskurses war die Ausgrenzung und Verfolgung von Asozialen
bis 1938 eng mit der Forderung nach Erlass eines Bewahrungsgesetzes verbunden; Verwahrung
bzw. später verharmlosend Bewahrung
fungierten dabei als termini technici für geschlossene Fürsorge
(vgl.
Ayaß 1995, 14).
Von asozial zu gemeinschaftsunfähig. NS-Sprachgebrauch
Bereits zu Zeiten der Weimarer Republik hatte die Fremdzuschreibung asozial damit die Funktion der diskursiven Ausgrenzung ganzer Personengruppen. Diese Entwicklung setzt sich während des Nationalsozialismus zunächst fort; zugleich wird sie spätestens ab 1933 weltanschaulich eingehegt:
Im sozial-politischen Denken des Nationalsozialismus galt der arbeitsscheueAsozialeals Antityp des für die Volksgemeinschaft wertvollen, produktiven Volksgenossen.Asozialegalten jedoch nicht als fremdrassig wie Juden undZigeuner. DieAsozialenundMinderwertigenbildeten in der rassenhygienischen Theorie den gefährlichen Feind im Innern des Volkskörpers.Asozialwurde als negative Ausgrenzung aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft definiert. [Ayaß 1995, 105]
Semantisch schlägt sich dies in der Bedeutungsverschiebung hin zu gemeinschaftsunfähig
im Verlauf der 30er Jahre nieder (1942a, 1942b). Das Wort wird in diesen Jahren an den weltanschaulich aufgeladenen Gemeinschafts-, genauer Volksgemeinschaftsbegriff rückgebunden. Asozial ist, wer gemeinschaftsunfähig
ist, sprich wer zwar nicht rassisch
ausgegrenzt, aber gleichwohl nicht Teil der Volksgemeinschaft
ist (1940). Diese semantische Entwicklung kulminiert in den 1930er Jahren in der Prägung der Wörter gemeinschaftsfremd und gemeinschaftsunfähig als Synonyme für asozial (1942a; vgl. hierzu auch Ayaß 1995, 105 und Schmitz-Berning 2000, 263).
Auch wenn asozial zu Zeiten des Nationalsozialismus weltanschaulich aufgeladen wird und hierüber eine neue Bedeutung erhält, so bleibt das Wort doch zugleich semantisch offen: Letztlich bleibt bis zuletzt ungeklärt, wer als asozial
oder gemeinschaftsunfähig
zu gelten hatte (vgl.
[Wissenschaftliche Dienste] 2016, 5). Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die häufigste Art, Asozialität
zu erläutern, diejenige war, Beispiele anzuführen (vgl.
Scherer 1990, 54). Das hat auch sachhistorische Gründe: Mit der diskursiven Ausgrenzung von asozialen Elementen
verbindet sich die systematische Verfolgung ungewollter Personengruppen; die Wortverbindung asoziales Verhalten kann so zu einer Tatbestandsbeschreibung werden, die Verfolgung legitimiert (1943). Die semantische Offenheit der Wörter asozial und Asozialität ermöglicht den Machthabern damit, flexibel auf Störfaktoren des politischen und wirtschaftlichen Systems zu reagieren
(Scherer 1990, 56).
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Die staatliche Verfolgung beginnt bereits mit der ‚Bettelrazzia‘ von 1933 (vgl.
Ayaß 1995, 20–41). Die Jahre danach sind vor allem durch die auf kommunaler Ebene zu verortenden Internierungen von Asozialen
in Arbeitslagern geprägt – eine Praxis, die ihren Ursprung ebenfalls bereits zu Zeiten der Weimarer Republik hat (vgl.
Ayaß 1995, 41–67 und 138). Mit dem Erlass über die Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei vom 14. Dezember 1937 wird erstmals eine reichseinheitliche Regelung der gegen Berufsverbrecher
bereits seit 1933 angewandten polizeilichen Vorbeugungshaft geschaffen; zugleich wird die Vorbeugungshaft auf Asoziale
ausgedehnt (vgl.
Ayaß 1995, 139). Dieser Erlass bildet die wichtigste Grundlage für die Verschleppung von Asozialen
in die Konzentrationslager. 1938 folgt die Aktion Arbeitsscheu Reich
, die für das Vorgehen gegen Asoziale
einen Höhe- und Wendepunkt darstellt: Nie zuvor initiierte man im Nationalsozialismus einen derart konzentrierten Angriff gegen subproletarische Schichten. Über 10 000 Menschen verschwanden innerhalb weniger Wochen in den Konzentrationslagern. Die große Bettelrazzia vom September 1933 hatte zwar weit mehr Menschen erfaßt; diese kamen jedoch in der Mehrzahl spätestens nach sechs Wochen wieder frei. Die zwischen dieser Bettelrazzia und der Aktion ‚Arbeitsscheu Reich‘ immer wieder durchgeführten regionalen Razzien erreichten bei weitem nicht deren Größenordnung und Effizienz.
(Ayaß 1995, 158) Asoziale
waren in Konzentrationslagern eine eigene Häftlingskategorie und wurden mit einem schwarzen Winkel auf ihrer Arbeitskleidung gekennzeichnet. Grundlegend neu ist im Nationalsozialismus damit zwar nicht die Definition der Asozialen
oder ihre Diskriminierung, wohl aber das radikal-terroristische Vorgehen gegen diese Personengruppen (vgl.
Ayaß 1995, 223).
Kontinuität und Wandel. Asozial in DDR und BRD
Nach 1945/1949 lässt sich in der Verwendung des Wortes asozial zunächst eine vielleicht überraschende Kontinuität beobachten – und zwar sowohl in der Bundesrepublik (1954) als auch in der DDR (1960): Die mit dem Begriff ‚asozial‘ verbundenen negativen sozialbiologischen Merkmale (die weit reichende Sanktionsmaßnahmen rechtfertigten) waren fester Bestandteil des sozialpolitischen Diskurses nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch noch lange nach 1945.
([Wissenschaftliche Dienste] 2016, 4).
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Die Kontinuität des Diskurses und der Semantik des Asozialen
hat im Übrigen dazu geführt, dass das überharte Vorgehen gegenüber Asozialen im Dritten Reich nach 1945 nicht als typisch nationalsozialistisches Unrecht angesehen wurde, obwohl es hauptsächlich auf der biologischen Lehre von erbkranken Sippen beruhte: KZ-Insassen aus der Gruppe der Asozialen wurden nicht als
(Korzilius 2005, 699) Infolge dessen ist Mitgliedern der Opfer des Faschismus
anerkannt, ebensowenig Zwangssterilisierte nach dem GzVeN (außer wenn diese Maßnahmen offensichtlich zur politischen Verfolgung gedient hatte).Asozialen
-Opfergruppen der Status als NS-Opfer über Jahrzehnte weder in der DDR noch in der Bundesrepublik zuerkannt worden. Das hat zur Folge, dass es eine zielgerichtete Entschädigung dieser Gruppe bislang nicht gegeben hat (vgl.
[Wissenschaftliche Dienste] 2016, 20).
Vor diesem Hintergrund haben 2018 einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Petition zur Anerkennung von Asozialen und Berufsverbrechern als Opfer des Nationalsozialismus gestartet. Am 13. Februar 2020 hat der Deutsche Bundestag einen Antrag von CDU/CSU und SPD mit dem Titel Anerkennung der von den Nationalsozialisten als ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ Verfolgten angenommen (vgl. auch die Homepage des Bundestages).
Zu den Kontinuitäten in der Semantik des Wortes asozial und im Asozialitätsdiskurs zählt auch, dass sich in der DDR mit der Fremdzuschreibung asozial erneut nicht nur eine diskursive Ausgrenzung von Personengruppen verbindet, sondern auch, dass die Zuschreibung von Asozialität
neuerlich zu einem politischen Herrschaftsinstrument, nun des SED-Regimes, wird. Das manifestiert sich insbesondere im sogenannten Asozialitätsparagraphen
im Strafrecht der DDR. Seit 1968 enthält das Strafgesetzbuch der DDR den § 249 Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten, dessen Inhalt (Topos des Arbeitsscheuen
, Prostitution [1968]) erkennbar in der Tradition des Asozialitätsdiskurses der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht. Auf der Grundlage des § 249 StGB steigt nicht nur die Anzahl der Verurteilten in den 1970er Jahren explosionsartig an (vgl.
Korzilius 2005, 706), vor allem zeigt sich im Laufe der Jahre eine Ausweitung auf neue Personengruppen, so insbesondere auf unangepasste Jugendliche sowie Ausreisewillige (vgl.
Korzilius 2005, 706). Das hat Rückwirkungen auf die semantische Kontur des Wortes asozial in der DDR und markiert zugleich den semantischen Wandel gegenüber der nationalsozialistischen Bedeutung gemeinschaftsunfähig
: Als asozial bezeichnet wird, wer sich dem Sozialismus wesensfremd
verhalte (2001a, vgl.
Lindenberger 2005, 238). § 249 StGB (DDR) wurde erst im Zuge der Wiedervereinigung aufgehoben.
Auch im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland wirkt der Asozialitätsdiskurs im Rahmen der durch die Nationalsozialisten eingeführten, nach 1945 beibehaltenen und erst Mitte der 1950er Jahre aufgehobenen Möglichkeit der unbefristeten Unterbringung in einem Arbeitshaus zunächst fort (vgl.
Korzilius 2005, 710). Die semantische Entwicklung von asozial hingegen verläuft in den Jahrzehnten danach anders als in der DDR (1996a): Während asozial in der DDR bis zuletzt innerhalb eines strikten Freund-Feind-Denkens des sozialistischen Weltbildes die Funktion der diskursiven Ausgrenzung hat, ist die Wortverwendung in bundesrepublikanischen Kontexten zunehmend nicht mehr politisch oder weltanschaulich aufgeladen. Gleichwohl bleiben Bedeutungsaspekte wie obdachlos
, arbeitsscheu
und kriminell
auch weiterhin mit dem Wort verbunden (1985b, 1996c), und bis heute werden Sozialschwache als asozial bezeichnet (1996a, 1997). Nicht zuletzt werden unangepasst lebende Subkulturen wie Punks als asozial bezeichnet (1998, 2005). Asozial bleibt damit eine mehr oder weniger stark, aber doch immer negativ konnotierte Fremdzuschreibung.
Assi und assi. Neue Wörter im ausgehenden 20. Jahrhundert
Vermutlich ab den 1980er Jahren (1987) treten schließlich Assi
bzw.
Asi (2001b, 2002) und assi
bzw.
asi (2002, 2011, 2014) für Asozialer und asozial auf (vgl.
1987, wo Asi der Redaktion der Zeit offenbar noch als erklärungsbedürftig erscheint; 1999). Als Adjektiv ist daneben selten auch asig belegt (1996b, 2000). Es handelt sich um umgangssprachliche Wörter, die häufig diskriminierend sind (2001b, 2017, 2002; vgl. auch Duden online unter Assi und assi). Die Bildung des Substantivs mit dem Suffix -i entspricht einem derzeit hochproduktiven Derivationsmodell; Adjektive sind hier neben einsilbigen bzw. auf eine Silbe reduzierten Substantiven und Verben typische Basen (Fleischer/Barz 2012, 214–215). Insofern ist wohl davon auszugehen, dass sich die Personenbezeichnung Assi auf der Basis des Adjektivs assi bildet. Das Substantiv Assi ist dabei im Übrigen nicht mit dem homonymen Assi für Assistent zu verwechseln wie es beispielsweise im universitären Umfeld lange verwendet wurde (vgl.
Duden online unter Assi). Neben die Entstehung der Wörter treten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umgangssprachliche Verwendungen von asozial mit der Bedeutung unsozial
(1971, 1985a).
Literatur
Ayaß 1995 Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995.
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
Korzilius 2005 Korzilius, Sven: „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung. Köln 2005.
Lindenberger 2005 Lindenberger, Thomas: „Asoziale Lebensweise“. Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines „negativen Milieus“ in der SED-Diktatur. In: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 227–254. (jstor.org)
Scherer 1990 Scherer, Klaus: „Asoziale“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Münster 1990.
Schmitz-Berning 2000 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 2000 [Nachdruck der Ausg. Berlin/New York 1998].
[Wissenschaftliche Dienste] 2016 [Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages]: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Aktenzeichen WD 1–3000–026/16, 27. 6. 2016. (bundestag.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu asozial, Assi, assi.