Wortgeschichte
Anfänge im 19. Jahrhundert
Das Wort Verschwörungstheorie ist zuerst 1870 bezeugt. In den frühesten Belegen – dabei handelt es sich oft um juristische Texte – bedeutet es schlicht Annahme, dass es eine Verschwörung gegeben hat
(vgl. 1914, 1946). Von der heute vorherrschenden Bedeutung des Wortes, das auf eine medial sehr präsente gesamtgesellschaftliche Erscheinung verweist, sind diese Gelegenheitsbildungen noch weit entfernt. Allerdings sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch einzelne Belege zu finden, in denen bereits ein für die spätere Verwendung typischer Aspekt hervorgehoben wird, nämlich der großangelegte, nahezu weltumspannende Charakter der postulierten Verschwörung. So wird in dem Beleg 1924 die Annahme thematisiert, es gebe eine durch Moskau orchestrierte WeltverschwörungWGd, welche die kolonisierten Völker rund um den Globus gegen den Westen im Allgemeinen und gegen England im Speziellen ins Werk setzten. Im Belegtext wird diese Annahme als unwahrscheinlich zurückgewiesen, sie wird aber nicht als gänzlich unvorstellbar charakterisiert. Insofern fehlt hier noch der Aspekt des grundsätzlich Wahrheitswidrigen, ja Wahnhaften, der für die spätere Bedeutung des Wortes wesentlich ist.
Ein Schlüsseltext: Karl Poppers Falsche Propheten
Für die weitere Entwicklung des Wortes seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind vor allem zwei Faktoren als entscheidend anzusehen: ein Schlüsseltext sowie ein mediales Schlüsselereignis.
Als Schlüsseltext für die Wortgeschichte von Verschwörungstheorie kann Karl Poppers Buch Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen gelten (deutsch 1958 als zweiter Band von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, zuerst englisch 1945). Im Rahmen einer Auseinandersetzung u. a. mit der marxistischen Soziologie wird der Ausdruck Verschwörungstheorie hier erstmals im Sinne eines umfassenden Erklärungsmodells für gesellschaftliche Veränderungen verwendet.
Um meine Gedanken zu verdeutlichen, werde ich in kurzen Zügen eine Theorie beschreiben, die weit verbreitet ist, die aber das genaue Gegenteil dessen annimmt, was ich für das richtige Ziel der Sozialwissenschaften halte; ich nenne sie die Verschwörungstheorie der Gesellschaft. Diese Theorie behauptet, daß die Erklärung eines sozialen Phänomens in dem Aufweis der Menschen und Gruppen besteht, die am Eintreten dieses Phänomens ein Interesse haben (dieses Interesse ist manchmal verborgen und muß erst enthüllt werden) und die zum Zwecke seiner Herbeiführung Pläne gemacht und konspiriert haben. [Popper 1958, 119]
Als vorgebliche Verschwörer, deren Bosheit für alle Übel verantwortlich ist
, werden bei Popper im Hintergrund wirkende ElitenWGd wie etwa die Weisen von Zion, die Monopolisten, die Kapitalisten oder die Imperialisten
genannt (Popper 1958, 120). Wie an dieser Aufzählung deutlich wird, zielt Popper mit der Verbindung Verschwörungstheorie der Gesellschaft durchaus nicht nur auf sozialwissenschaftliche Modelle gesellschaftlichen Wandels (wie etwa den Marxismus), sondern nimmt auch radikale politische Positionen – und zwar sowohl extrem rechte wie extrem linke – in den Blick. Mit der Verknüpfung von Verschwörungstheorien mit politischem Extremismus ist hier bereits ein wichtiger Aspekt des gegenwärtigen Wortgebrauchs vorgeprägt.
Eine weitere Bedeutungskomponente, die sich erstmals in Poppers Text findet und den Wortgebrauch von der älteren Gelegenheitsbildung ,Annahme, dass es eine Verschwörung gegeben hat‘ deutlich absetzt, betrifft den kontrafaktischen Charakter von Verschwörungstheorien: Popper rückt Verschwörungstheorien deutlich in die Nähe der Voraufklärung und des Aberglaubens. So heißt es in dem Text weiter, dass es sich hier um ein typisches Ergebnis der Säkularisierung eines religiösen Aberglaubens
handle, bei dem es nun statt der Götter unheilvolle Druckgruppen
sind, deren Bosheit für alle Übel verantwortlich ist
(Popper 1958, 120).
Poppers Begriffsbestimmung ist aber noch in weiterer Hinsicht prägend: Zuerst tritt das Wort mit dem Genitivattribut der Gesellschaft auf. Auf diese Weise wird hervorgehoben, dass es bei einer Verschwörungstheorie um weitgespannte, auf das Ganze einer Gesellschaft zielende Vorstellungen geht und nicht so sehr um spezifische Erklärungsmodelle zu einzelnen Lebensbereichen oder Problemfeldern (auch wenn dies durchaus vorkommen kann). Dieser umfassende Bezug – in dem sich durchaus ein quasi- bzw. pseudoreligiöser Zug im Sinne Poppers erkennen lässt – ist zu einem so wichtigen Bestandteil des Wortes geworden, dass auf dieses oder ein vergleichbares Attribut im weiteren Sprachgebrauch verzichtet wird.
Der Ausdruck conspiracy theoryengl., der in der Originalfassung von Poppers Buch steht, findet sich laut 3OED bereits in einem Beleg vom Beginn des 20. Jahrhunderts, hier allerdings auch in der Bedeutung Annahme, dass es eine Verschwörung gegeben hat
(vgl. conspiracyengl.). Die Bildung kann also auch im Englischen bereits auf eine gewisse Tradition zurückblicken; ihre spezifischere Prägung erhält sie allerdings erst durch Popper.
Der Kennedy-Mord als Schlüsselereignis
Das Wort Verschwörungstheorie bleibt zunächst selten (1957 in der Verbindung Verschwörungstheorie der Geschichte, die wohl eine Analogiebildung zu Poppers Verschwörungstheorie der Gesellschaft darstellt; vgl. auch 1960). Erst seit Mitte der 1960er Jahre ist das Wort zunehmend in der Presse vertreten. Als wesentlicher Faktor dafür ist wohl vor allem die Berichterstattung über die Aufklärung des Mordes an John F. Kennedy anzusehen. Im Rahmen verschiedener Untersuchungen (durch die sog. Warren-Kommission sowie im sog. Garrison-Prozess)1) ging es vor allem um die Frage, ob für den Kennedy-Mord ein Einzeltäter oder eine größere Verschwörung verantwortlich zu machen ist. In diesem Kontext findet sich dann naheliegenderweise auch das Wort Verschwörungstheorie (1964, 1967a, 1967b, vgl. 1978a).
Was die wortgeschichtlichen Traditionslinien betrifft, ist für die deutschsprachigen Zeitungsbelege der 1960er Jahre übrigens kaum davon auszugehen, dass den Autoren der Ursprung des Wortes in der Popper’schen Begriffsbestimmung präsent war. Wegen der Bezugnahme auf Sachverhalte und Vorgänge in den USA liegt hier wohl schlicht eine neuerliche Lehnübersetzung der englischen Verbindung vor.
Abb. 1: Wortverlaufskurve „Verschwörungstheorie“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Laut der DWDS-Wortverlaufskurve (vgl. Abb. 1) nimmt die Bezeugung des Wortes nach einer vergleichsweise geringen Vorkommenshäufigkeit in den 1970er Jahren ab ca. 1985 stetig zu. Weitere Sprünge in der Bezeugungshäufigkeit sind ab ca. 2015 sowie vor allem im Kontext der Corona-Pandemie festzustellen. Das semantische Spektrum des Wortes ist dabei relativ breit: Es können zum einen gewissermaßen weltumspannende Verschwörungstheorien damit gemeint sein, wie etwa der Glaube an eine vermeintliche Verschwörung des internationalen Großkapitals (1976) oder die antisemitische Wahnvorstellung von einer jüdischen Weltverschwörung (1984). Auf der anderen Seite finden sich aber auch Belege für das Wort, die vergleichsweise überschaubare Lebens- und Politikbereiche betreffen, etwa den Sport oder die Parteipolitik (1983, 1993, 1999a, 1999b). Von Verschwörungstheorien kann also gewissermaßen sowohl im Kleinen als auch im Großen die Rede sein.
Im Unterschied zu den Verwendungen der 1970er Jahre werden in jüngerer Zeit vor allem auch die unmittelbaren politischen und gesellschaftlichen Implikationen von Verschwörungstheorien thematisiert; so werden die konkreten Gefahren für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt oder das Gewaltpotential der Anhänger von Verschwörungstheorien angesprochen (z. B. 2020a, 2021). Auch die Rolle des Internets bzw. der sozialen Netzwerke sind Gegenstand dieser rezenteren Thematisierungen (z. B. 2018; so bereits 2003 mit Verweis auf die Terrorangriffe des 11. September 2011). In dem 2017 aufgekommenen Mehrwortausdruck alternative FaktenWGd liegt hier eine partielle semantische Entsprechung vor.
Die Personenbezeichnung Verschwörungstheoretiker
Der Ausdruck Verschwörungstheoretiker ist zuerst wohl Ende der 1970er Jahre bezeugt (vgl. 1978b) und bedeutet Person, die einer Verschwörungstheorie anhängt
. Das Zweitglied TheoretikerDWDS ist – ähnlich wie Theorie – polysem: Es hat die Bedeutungen jemand, der eine Theorie entwickelt
sowie jemand, der vorwiegend in abstrakten Gedanken und Vorstellungen lebt und sich beim Lösen praktischer Probleme als ungeeignet erweist
(auch als Gegensatz zum Praktiker). Die erste Bedeutung passt ganz offensichtlich nicht zum Zweitglied von Verschwörungstheoretiker und auch die zweite Bedeutung ist kaum einschlägig, kann man doch einen Verschwörungstheoretiker nicht als unbeholfen in praktischen Dingen
o. Ä. bezeichnen. In morphologischer Hinsicht ist die Bildung daher nicht als Kompositum aus Verschwörung und Theoretiker, sondern eher als Ableitung von Verschwörungstheorie anzusehen.
Sprachkritische Diskussionen: Verschwörungsmythos, -fantasie etc.
Dass jemand einer Verschwörungstheorie anhänge oder ein Verschwörungstheoretiker sei, wird stets von anderen gesagt; Verschwörungstheoretiker selbst wenden den deutlich abwertenden Ausdruck daher in der Regel nicht auf sich und ihre Vorstellungen an, würden sie sich doch damit implizit der Lüge überführen (von gelegentlichen trotzig-selbstironischen Bekenntnissen abgesehen).
Eine große Zahl von Sprecherinnen und Sprechern der Gegenwart empfindet die mit dem Wort Verschwörungstheorie/Verschwörungstheoretiker ausgedrückte Abwertung dennoch offenbar als nicht deutlich genug. Das liegt vor allem am Grundwort Theorie bzw. Theoretiker. Dieses wird als nicht angemessen angesehen: eine Wahnvorstellung kann keine Theorie sein (vgl. 2015a).
Um klarzumachen, dass Verschwörungstheorien nicht im Entferntesten eine wissenschaftliche Basis haben, wird in jüngster Zeit vermehrt auf Wörter wie VerschwörungsphantasieDWDS, VerschwörungsmythosDWDS, VerschwörungserzählungDWDS oder VerschwörungsideologieDWDS zurückgegriffen. Den Status von Ersatzwörtern für das als zu vage oder gar als irreführend
(2020b) empfundene Verschwörungstheorie erlangen die genannten Ausdrücke freilich erst im Zuge dieser rezenten sprachpflegerischen Bemühungen. In den Belegen vor ca. 2020 dürfte es sich indes meist um Ausdrucksvarianten zu dem bereits eingeführten Verschwörungstheorie handeln, ohne dass hier das Streben nach einer vermeintlich exakteren, besseren
Versprachlichung erkennbar wäre: So ist Verschwörungsphantasie schon bei Siegmund Freud nachzuweisen (1916), Verschwörungsmythos findet sich mindestens bereits in der 1990er Jahren (1991, 1998), und Verschwörungserzählung ist seit der Jahrtausendwende zu belegen (1999a, 2004 ). Für den Anhänger einer Verschwörungstheorie findet man gegenwärtig auch Verschwörungsgläubiger sowie Verschwörungsideologe (2015b, 2020c, 2020d).
Zur Bedeutung von Theorie
Die Kritik am Wort Verschwörungstheorie geht davon aus, dass das Element Theorie für ein wissenschaftliches Hypothesengebäude steht. Dies ist freilich nur eine Verwendungsweise des Wortes, und zwar eher eine fachliche (zu deren Genese HWPh 10, 1128–1154). In der Alltags- bzw. Allgemeinsprache kann Theorie auch im Sinne von Vermutung, Annahme über einen Gegenstand oder Sachverhalt des Alltags
gebraucht werden, z. B. Ich habe die Theorie, dass sie gar nicht mit dem Auto gefahren ist, sondern mit dem Zug (vgl. Duden-online). Mit dem Grundwort des Kompositums Verschwörungstheorie ist also durchaus nicht impliziert, dass es sich um eine wissenschaftliche Theorie handelt. Diese doppelte Bedeutung des Wortes – also einen Bezug sowohl auf ein strikt wissenschaftliches als auch ein eher alltagsbezogenes Hypothesengefüge – weist übrigens nicht nur das deutsche, sondern auch das englische Wort auf (vgl. 3OED unter theory 6 sowie TheorieDWDS).
Anmerkungen
1) Zum historischen Hintergrund vgl. die Informationen auf Wikipedia unter Attentat auf John F. Kennedy
Literatur
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Popper 1958 Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. 7. Aufl. Bern 1958.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Verschwörungstheorie, Verschwörungstheoretiker.