Wortgeschichte
Die WG als selbstgewählte Lebensgemeinschaft
In Ausdrücken wie Studenten-WG, Senioren-WG oder Beschäftigten-WG bezieht sich Wohngemeinschaft auf eine selbstgewählte, häufig zeitlich begrenzte Form des gemeinschaftlichen Lebens in einer Wohnung oder einem Haus jenseits traditioneller familiärer Wohnsituationen
. Sachhistorisch stellt diese Form des Zusammenlebens zwar keine völlig neue, in ihrer Verbreitung aber eine relativ junge Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Das Wort Wohngemeinschaft hingegen ist älter: Es ist mindestens seit dem 19. Jahrhundert bezeugt, damals allerdings noch mit anderer Bedeutung.
Zur Entstehung des Kompositums Wohngemeinschaft im Kontext von Bevölkerungsstatistik und Medizin
Einzelne Bezeugungen reichen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück (1826), es scheint sich hier aber eher um Spontanbildungen als um ein eingeführtes Wort zu handeln. Das ändert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Nun tritt Wohngemeinschaft regelmäßig auf und etabliert sich als eigenständiges Wort. Unter Arten der Wohngemeinschaften (Haushaltungen)
werden im Statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin im Jahr 1878 dann unter anderem Familien ohne Dienstboten
von Familien mit Dienstboten
unterschieden, weiterhin wird unterschieden, ob Familien Gewerbsgehilfen
haben und ob andere Personen
zum Haushalt gehören (vgl.
Statistisches Jahrbuch Berlin 1878, 4) – Wohngemeinschaft hat hier mithin die Bedeutung Haushaltung, Hausgemeinschaft
(1878a). In diesen Kontexten wird Wohngemeinschaft bisweilen von Haushalt
bzw.
Haushaltung abgegrenzt. Die nicht immer ganz klare Unterscheidung (1878b) erfolgt üblicherweise über den Aspekt der Wirtschaft: Während Haushalt
bzw.
Haushaltung über die (auch) gemeinsame Wirtschaft bestimmt wird (1900a; 1933), ist Wohngemeinschaft primär über den Aspekt des gemeinsamen Wohnens definiert.
Auffällig ist, dass das Wort zu dieser Zeit nicht nur hier, sondern offenbar allgemein insbesondere in Texten zur Bevölkerungsstatistik auftritt (vgl.
1878a, 1900b). In der breiten Bedeutung als Haushalt, Hausgemeinschaft
tritt Wohngemeinschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zudem in medizinischen Abhandlungen, in denen Fragen der Krankheitsübertragung bzw. Ansteckung abgehandelt werden, auf (1919, 1931). Noch 1950 bucht das Deutsche Wörterbuch Wohngemeinschaft mit der Bedeutung gemeinsamer haushalt
mit dem Verweis als jurid. term.: hwb. d. staatswiss.² 4, 1131
(1DWB 30, 1218). Im angeführten Handwörterbuch der Staatswissenschaft tritt Wohngemeinschaft wiederum im Kontext von Haushaltsstatistiken auf (1900b).
Wohngemeinschaft und die Semantik von Gemeinschaft
Insofern das Kompositum Wohngemeinschaft aus den Wörtern wohnen und Gemeinschaft gebildet wird, wird sein semantischer Kern auch und gerade von der Bedeutung des Wortes Gemeinschaft mitgeprägt, die ihrerseits historischen Veränderungen unterliegt. So scheint bisweilen in bevölkerungsstatistischen Wortverwendungen jene Bedeutungsdimension von Gemeinschaft durch, die für die frühe Soziologie und ihre Auseinandersetzung mit der Moderne über die Abgrenzung von Gemeinschaft
und Gesellschaft
charakteristisch ist (zu den Begriffen Gesellschaft
und Gemeinschaft
vgl. Riedel in GG 2, 801–862), etwa wenn es bei Wilhelm Winkler heißt: Die Wohngemeinschaft ist mehr eine zufällige, äußerliche, weniger eine organische, innere Gemeinschaft.
(1933) Zwar verwendet Winkler Gemeinschaft für beide hier voneinander abgegrenzten Formen menschlichen Zusammenlebens, die Formulierung erinnert jedoch stark an Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft als vermeintlich vorgängiger, vertrauter, organischer Form menschlichen Zusammenlebens von der mechanischen und ideell gebildeten Form des Zusammenlebens in der der Moderne zugeordneten Gesellschaft: Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist es gemäss, dass Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll.
(1887)
Nicht nur Formulierungen wie die Winklers verdeutlichen, wie sehr die Semantik des Wortes Wohngemeinschaft durch die Semantik des zunächst älteren und in der Bedeutung weiter gefassten Wortes Gemeinschaft mitgeprägt ist. Zu Zeiten des Nationalsozialismus wird Wohngemeinschaft – das nicht im engeren Sinn zum NS-Sprachgebrauch gehört, jedenfalls wurde es nicht in die entsprechenden Aufarbeitungen des NS-Vokabulars aufgenommen (vgl.
Berning 1964, Schmitz-Berning 2000) – in das diskursiv produzierte und weltanschaulich aufgeladene Konzept der Volksgemeinschaft
eingegliedert (1940). Sprachhistorisch bis auf Schleiermacher zurückzuführen (vgl.
Volk in 1DWB 26, 481), spielt das Wort Volksgemeinschaft im 19. Jahrhundert wohl keine herausragende Rolle; erst nach 1919 und besonders nach 1933 steigt die Verwendung signifikant an (vgl.
Schmitz-Berning 2000, 654–659). Volksgemeinschaft schließt im nationalsozialistischen Sprachgebrauch
an die antidemokratische Verwendungstradition des Ausdrucks Volksgemeinschaft an. Volksgemeinschaft bezeichnet die angestrebte Gleichschaltung nach innen, um nach außen Geschlossenheit und Schlagkraft zu gewinnen. Volksgemeinschaft meint speziell: a) die rassisch bestimmte Blutsgemeinschaft, die bereitwillig Opfer auf sich nimmt, die die Gebote der Rassenreinheit und Erbgesundheit fordern; b) die Sozialgemeinschaft solidarischer Arbeiter der Stirn und Faust, die keine Interessensgegensätze kennt und die sich insbesondere in der Betriebsgemeinschaft aus Betriebsführer und Gefolgschaft verkörpert; c) als neuer juristischer Terminus: die Rechtsgemeinschaft, von der das Recht ausgeht im Sinne des Satzes:Recht ist, was dem Volke nutzt. [Schmitz-Berning 2000, 656]
Wenn Wohngemeinschaft dann vergleichbar Worten wie Betriebsgemeinschaft unter das übergeordnete Wort Volksgemeinschaft gestellt wird, dann wird es zugleich semantisch mit den entsprechenden Implikationen besetzt. Der semantischen Einhegung des Wortes Wohngemeinschaft in die nationalsozialistische Weltanschauung entspricht sachhistorisch, dass die Wohngemeinschaft in bestimmten Kontexten gar die Implikation eines politischen Instruments in der Erziehung der Jugend erhält (1934; 1939b – die Wohngemeinschaft steht hier im thematischen Zusammenhang der Fürsorgeerziehung: 1939a).
Wohngemeinschaft alias Kommune: Wohnformen der Studenten- und Protestbewegung
Sachhistorisch sind Wohn- bzw. Lebensgemeinschaften abseits familiärer Verbindungen keine Neuheit. So hat es nicht nur immer schon Formen der Wohngemeinschaft
aus Gründen der Wohnungsnot gegeben, auch Formen freiwilligen Zusammenlebens sind deutlich älter, man denke etwa an die Landkommunen der Lebensreformbewegung oder an Künstlerkolonien. Freilich liegt diesen Formen des Zusammenlebens nicht unbedingt das Wort der Wohngemeinschaft im engeren Sinn zugrunde.
Neu sind die ab Ende der 1960er Jahre und im Kontext der Studenten- und Protestbewegungen entstandenen Kommunen, d. h. Wohngemeinschaften, die sich programmatisch als alternativWGd begreifen und deren Gründung politisch motiviert ist (1967). Zu dieser Zeit werden Wohngemeinschaft und KommuneWGd noch weitgehend synonym verwendet (1968b; 1970). Als erste und wohl bekannteste dieser Kommunengründungen kann die Kommune 1 gelten; nach ihrem Vorbild haben sich in der Nachfolge zahlreiche Kommunen und Wohngemeinschaften gebildet.
Entpolitisierung und Auseinandertreten von Kommune und Wohngemeinschaft
Steht die Entstehung von Wohngemeinschaften als Form des Zusammenlebens Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre erkennbar im größeren Kontext der Studenten- und Protestbewegung, entpolitisiert sich das Wohnen in der Wohngemeinschaft bei gleichzeitiger quantitativer Ausbreitung spätestens ab den 1990er Jahren (1995). Damit einher geht der semantische Wandel des Wortes selbst: Wohngemeinschaft ist nun nicht mehr wie noch zu Beginn weitestgehend synonym zu Kommune, sondern bezieht sich nur mehr auf eine selbstgewählte, häufig zeitlich begrenzte Form des gemeinschaftlichen Lebens in einer Wohnung oder einem Haus jenseits traditioneller familiärer Wohnsituationen
(1994b, 1992). Zugleich entwickeln sich Wohngemeinschaft und Kommune damit auseinander: Bezeichnet Kommune nun jene politisch motivierte, in der Regel linksorientierte und sich alternativ zur Mehrheitsgesellschaft begreifende Formen des Zusammenlebens wie sie für die Anfangsjahre charakteristisch waren (2004b), meint Wohngemeinschaft eben auch bzw. überwiegend unpolitische Formen des Zusammenlebens abseits familiärer Wohnsituationen, was sich nicht zuletzt in der Wortbildung Zweck-WG äußert (1994a).
Von der Studenten- bis zur Senioren-WG. Ausdifferenzierung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert
Mit der zunehmenden Verbreitung der Wohngemeinschaft als Lebensform geht zugleich eine Ausdifferenzierung einher (1995): Das Spektrum reicht heute von Studenten- über Beschäftigten- bis hin zu Senioren-WGs. Die sachhistorische Ausdifferenzierung geht mit der sprachlichen einher: Studenten-Wohngemeinschaft ist im Deutschen Referenzkorpus erstmals 1968 bezeugt (1968a), in den DWDS Referenz- und Zeitungskorpora 1973 (1973); der Erstbeleg für die Abkürzung WG datiert in Letzteren auf 1980 (1980); Senioren-Wohngemeinschaft ist ab Ende der 1970er Jahre (1979), Berufstätigen-WG ab den 2000ern (2007) bezeugt.
Allen diesen Determinativkomposita ist gemein, dass Wohngemeinschaft hier in der Bedeutung von selbstgewählte, häufig zeitlich begrenzte Form des gemeinschaftlichen Lebens in einer Wohnung oder einem Haus jenseits traditioneller familiärer Wohnsituationen
verwendet wird und die erste Einheit des Determinativkompositums genauer bestimmt, welcher Personenkreis in der Wohngemeinschaft lebt. Daneben bildet sich – ebenfalls vor dem Hintergrund sachhistorischer Entwicklungen, genauer der Einrichtung von Wohngemeinschaften für minderjährige Jugendliche, Menschen in therapeutischer Behandlung und Menschen mit Behinderung – spätestens ab den 1980er Jahren eine weitere Form der Bedeutung von Wohngemeinschaft aus, genauer pädagogisch und/oder therapeutische Hausgemeinschaften mit entsprechender Betreuung durch Fachpersonal
(1981, 2004a). Das Kompositum Jugendwohngemeinschaft ist in der Regel in dieser Bedeutung zu verstehen.
Literatur
Berning 1964 Berning, Cornelia: Vom „Abstammungsnachweis“ zum „Zuchtwart“. Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin 1964.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
GG Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1–8. Stuttgart 1972–1997.
Riedel 1975 Riedel, Manfred: Art. „Gesellschaft, Gemeinschaft“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1– 8. Stuttgart 1972–1997. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 801–862.
Schmitz-Berning 2000 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 2000 [Nachdruck der Ausg. Berlin/New York 1998].
Statistisches Jahrbuch Berlin 1878 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin. Vierter Jahrgang, hrsg. von Richard Böckh. Berlin 1878. (nbn-resolving.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Wohngemeinschaft.