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Klassengesellschaft Zweiklassengesellschaft · klassenlose Gesellschaft

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Das seit Mitte des 19. Jahrhunderts belegte Kompositum Klassengesellschaft tritt in zwei Lesarten in Erscheinung: Neben einer allgemeinen Bedeutung Gesellschaft mit unterschiedlichen Klassen ist vor allem auch eine marxistisch geprägte, stärker terminologisierte Verwendung bezeugt. In dieser Lesart steht Klassengesellschaft für eine negativ bewertete Gesellschaftsformation, in der die Arbeiterklasse durch das Kapital unterdrückt wird. Utopisches Gegenbild ist die klassenlose Gesellschaft. Seit ca. 1970 ist auch das Phrasenkompositum Zweiklassengesellschaft belegt; dieses wird vorwiegend in einem allgemeinen Sinn ungerechte Verteilung zwischen zwei Gruppen verwendet.

Wortgeschichte

Klassengesellschaft zwischen Marxismus und Allgemeinsprache

Klassengesellschaft tritt in zwei verschiedenen Lesarten auf. Zum einen hat das Wort die allgemeine Bedeutung Gesellschaft, die durch starke soziale Differenzierung gekennzeichnet ist (1855). Auf der anderen Seite steht eine spezifisch marxistische Verwendung im Sinne von Gesellschaft, die durch die Unterdrückung der Arbeiterklasse durch das Kapital geprägt ist (1871, 1874, 1877/78).1) In dieser terminologisierten Variante hat sich das Kompositum von der Motivationsbedeutung insofern semantisch gelöst, als nicht allein das Vorhandensein gesellschaftlicher Klassen, sondern vor allem die Machtverhältnisse zwischen diesen im semantischen Fokus stehen. Als Wort des Marxismus ist Klassengesellschaft damit auch ein Stigmawort: Es bezeichnet eine Gesellschaftsordnung, die abgelehnt wird und die es durch KlassenkampfWGd zu überwinden gilt.

Ziel dieses Kampfes und zugleich utopisches Gegenbild zur Klassengesellschaft ist in der marxistischen Geschichtsphilosophie die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus, die auf die Diktatur des Proletariats als einer notwendigen Zwischenphase folgt (1852, 1877/78, 1916; vgl. auch Weyand 2014, 59–61). Das Adjektiv klassenlos ist dabei überwiegend auf die Verbindung klassenlose Gesellschaft oder darauf bezogene Analogiebildungen wie klassenloses Kollektiv (1956) beschränkt; außerhalb dieser Wortkombination kommt es nur vereinzelt vor (vgl. 1856).

Bemerkenswert ist allerdings, dass das Wort Klassengesellschaft auch in jüngeren Verwendungen, die klar jenseits des sozialistischen Wortgebrauchs zu verorten sind, negativ besetzt ist; die Klassengesellschaft wird auch hier als ein ungerechter und zu vermeidender Gesellschaftszustand kritisiert (2005b, 2013). In dieser negativ-deontischen Bedeutungsnuance mag eine Nachwirkung des marxistischen Wortgebrauchs zu erkennen sein. Möglicherweise ergibt sich dieser Bedeutungsaspekt aber auch schlicht aus der verbreiteten Grundannahme, dass in einer Gesellschaft prinzipiell alle gleich sein sollten.

Zweiklassengesellschaft als verdeutlichende Bildung

Abwertend bzw. negativ-deontisch wird vor allem das Kompositum Zweiklassengesellschaft bzw. Zwei-Klassen-Gesellschaft verwendet (zuerst 1959). Historisch gesehen kann Zweiklassengesellschaft als Verdeutlichung zu dem älteren Klassengesellschaft verstanden werden, welches ja, zumindest in der marxistischen Lesart, immer schon wesentlich zwei einander gegenüberstehende Klassen – Proletariat und Bourgeoisie – vorausgesetzt hat (vgl. auch die Ausführungen zu KlassenkampfWGd). In morphologischer Hinsicht handelt es sich um ein sogenanntes Phrasenkompositum, dessen Erstglied auch in Zwei-Klassen-Medizin oder Zwei-Klassen-Recht vorkommt (1964, 1977).2)

Ungerechte Verteilung in der Zweiklassengesellschaft

Zweiklassengesellschaft steht grundsätzlich für eine Gesellschaftsform, die durch einen starken Gegensatz zwischen zwei großen gesellschaftlichen Klassen gekennzeichnet ist (1959, 1969, 1973, 2005a). Das Wort kommt aber auch in einer allgemeineren Verwendung vor, und zwar ebenfalls bereits seit der Zeit um 1970 (1969). Es ist hier nicht auf die großen sozialen Gegensätze innerhalb einer Gesellschaft bezogen, sondern kann generell für einen als ungerecht empfundenen Gegensatz zwischen zwei Gruppen stehen, von denen die eine stark privilegiert ist, während die andere unterprivilegiert bleibt. Diese Bedeutung kann als ungerechte Verteilung zwischen zwei Gruppen beschrieben werden. So ist – in sehr freier Anwendung auf unterschiedlichste Gegebenheiten – von einer Zweiklassengesellschaft unter Staaten (1969), zwischen Wohnungsbesitzern und -suchenden (1982), Informierten und Nicht-Informierten (1996), Fußballmannschaften (1994b), unterschiedlichen Gebrauchtwagentypen (2004) oder auch – in sprachspielerischer Erweiterung – von einer Zwei-Klassen-Gebiss-Gesellschaft die Rede (1994a).

Anmerkungen

1) Diese Bedeutung wird bei Pfeifer (s. KlassengesellschaftDWDS) unter Verwendung sozialistischer Begrifflichkeiten genauer definiert als: aus antagonistischen Klassen bestehende Gesellschaftsformation auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der politischen Macht in den Händen der besitzenden Klasse.

2) Bei Phrasenkomposita besteht das Erstglied aus einem Syntagma wie z. B. in Pro-Kopf-Einkommen, Zweibettzimmer oder Saure-Gurken-Zeit; zum Kompositionstyp vgl. Fleischer/Barz 2012, 65.

Literatur

Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.

Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)

Weyand 2014 Weyand, Jan: Klasse, Klassenkampf, Geschichte. In: Ingrid Artus u. a. (Hrsg.): Marx für SozialwissenschaftlerInnen. Eine Einführung. Wiesbaden 2014, S. 51–81.

Belegauswahl

Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.

Marx, Karl/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1-43. Berlin 1981-1990, Bd. 28, S. 508 (Karl Marx: Brief an Joseph Wedemeyer, 5. März 1852).

Es iſt eine Verordnung des Kaisers erwähnenswert, daß alle zum Dienſte in der Reichwehr […] beſtimmten Individuen, wenn ſie ſich diesem Berufe entziehen, als Rekruten in das Heer eingereiht werden ſollen, […]. Für die allgemeine Begeisterung für den Krieg zeugt das Strafgesetz nicht; dasſelbe kommt ſonſt nur gegen Landſtreicher, und in der Rang- und Klaſſengeſellſchaft für Kriminalverbrechen in Anwendung.

Fränkischer Kurier (Mittelfränkische Zeitung) 22, 1. 10. 1855, Nr. 274, o. S. (digitale-sammlungen.de)

Es ist der Krieg zwischen dem Norden und Süden, zwischen den Abolitionisten und Sklavenhaltern, der Baumwollen- und Zuckeraristokratie des Südens mit der stand- und klassenlos gemischten, handelnden und speculirenden Bevölkerung der ungeheuern Küste, die ihre mit Städten und Schiffsmastwäldern bedeckten Gestade der alten Welt zukehrt.

Die Gartenlaube 4 (1856), S. 404. [DWDS]

Die Freundschaft der Internationale mit der Friedens- und Freiheitsliga ist verflossenen September in die Brüche gegangen. Bebel und Liebknecht dankten für die Einladung zum Kongresse der letztgenannten, weil die „Ziele der Liga nicht zu verwirklichen sind, so lange die gegenwärtige Klassengesellschaft existiert“.

Pachtler, Georg Michael: Die internationale Arbeiterverbindung. Essen 1871, S. 131.

Der heutige Klassenstaat, der heutigen Klassengesellschaft entsprechend, hat, der Zwischenstufen nicht zu erwähnen, den feudalen Staat verdrängt, welcher der feudalen Gesellschaft entsprach, und so fort.

Liebknecht, Wilhelm/August Bebel/Adolf Hepner: Leipziger Hochverrathsprozess. Ausführlicher Bericht über die Verhandlungen des Schwurgerichts zu Leipzig in dem Prozess gegen Liebknecht. Leipzig 1874, S. 351. (books.google.de)

Und nun ermesse man die Selbstüberhebung des Herrn Dühring, der mitten aus der alten Klassengesellschaft heraus den Anspruch macht, am Vorabend einer sozialen Revolution der künftigen, klassenlosen Gesellschaft eine ewige, von der Zeit und den realen Veränderungen unabhängige Moral aufzuzwingen!

Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft. Leipzig 1878, S. 73 (zuerst 1877) (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1-43. Berlin 1981-1990, Bd. 20, S. 88). (books.google.de)

Sie setzt eine klassenlose Gesellschaft voraus, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehört hat, in der Freie und Gleiche ans innerem Antrieb arbeiten und zu arbeiten allerdings genötigt sind, weil es in der klassenlosen Gesellschaft ein Arbeitseinkommen nicht gibt.

Verhandlungen des Reichstages. Berlin 1916, S. 722. [DWDS] (digitale-sammlungen.de)

Das klassenlose Kollektiv hat zwar berechtigtes Übergewicht über seine Individuen, weil es deren Gesichter nach einer gemeinsamen Richtung wendet und es die Marschordnung nach dieser Richtung ist.

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Berlin 1956, S. 55. [DWDS]

„Die Gewerkschaften“, so klagt er, „denken und agieren immer noch im Schema der Zweiklassengesellschaft und betrachten die Arbeitnehmerschaft immer noch als die unterdrückte, entrechtete und ausgebeutete Klasse“.

Neues Deutschland, 30. 8. 1959. [DWDS]

Ich finde aber, […]Herr Kollege Dr. Luda, wir tun uns keinen Dienst, wenn wir mit ein paar allgemeinen Bemerkungen ein sehr breites Problem [bei der Unternehmensbesteuerung] zu vereinfachen suchen. Wir sollten auch nicht Ausdrücke wie „Zwei-Klassen-Recht“ gebrauchen. Hier geht es doch nicht um zwei Klassen. Hier geht es um zwei völlig differente Tatbestände […]und um eine Entwicklung, die historisch entstanden ist.

Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll Nr. 04/125 vom 30. 4. 1964, S. 6102. [DWDS] (bundestag.de)

Es ist deshalb müßig, die Zwei-Klassen-Gesellschaft – eine Kernwaffenmacht und fünf Nichtatommächte – in der Sechsergemeinschaft als Sünde wider den Partnerschaftsgeist zu beklagen und darin den Verfall von Euratom zu sehen.

Die Zeit, 9. 5. 1969. [DWDS]

Die Gewerkschaften gehen von der Vorstellung einen antagonistischen Zwei-Klassen-Gesellschaft aus, die der Ausdruck einer spätkapitalistischen Herrschaftsordnung sei.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 10. 1973, S. 23.

Wir wenden uns gegen die Einführung von Ambulatorien, gegen die Beschränkung der Arzneimittelverordnung, da diese eine Zwei-Klassen-Medizin bedeuten würde.

Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll Nr. 08/18 vom 17. 3. 1977, S. 1036. [DWDS] (bundestag.de)

Sie verwirklichen in Wirklichkeit eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, aber nicht zwischen Mietern und Vermietern, sondern zwischen Wohnungsbesitzern und Wohnungsuchenden.

Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll Nr. 09/129 vom 24. 11. 1982, S. 7934. [DWDS] (bundestag.de)

Kritiker sehen mit der High-Tech-Zahnmedizin eine Zwei-Klassen-Gebiß-Gesellschaft aufziehen.

Berliner Zeitung, 5. 11. 1994. [DWDS]

Otto hatte dem DFB vorgehalten, verantwortlich zu sein für die „fortgesetzte negative Entwicklung des deutschen Fußballs, die zu einer Zweiklassengesellschaft geführt hat“.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 8. 1994. [DWDS]

Der Wandel zur Informationsgesellschaft wird zum Teil mit Sorge betrachtet und von Ängsten vor dem "gläsernen Bürger", der "Zwei-Klassen-Gesellschaft" von Informierten und Nicht-Informierten und der zunehmenden Überfrachtung mit Informationen begleitet.

Bericht der Bundesregierung Info 2000 – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft. In: Deutscher Bundestag: Drucksache Nr. 13/4000 vom 7. 3. 1996, S. 89. [DWDS] (bundestag.de)

Diese Politik der SPD kann ich nicht mittragen, sie verletzt sozialdemokratische Werte zutiefst und vollendet die jahrelang bekämpfte Zweiklassengesellschaft.

Südkurier, 17.11.2005 [DWDS]

Das Prüfprotokoll: Der Berlingo-Bestand teilt sich in eine Zweiklassengesellschaft: in gut gepflegte Familienkutschen und ausrangierte Firmenwagen.

Berliner Zeitung, 17. 7. 2004. [DWDS]

Man sei in diesem Land wieder in der Klassengesellschaft angekommen, empörte sich der Thüringer Oppositionsführer.

Berliner Zeitung, 10. 2. 2005. [DWDS]

Es darf keine Klassengesellschaft im Netz geben!

Neumann, Bernd: Rede von Staatsminister Bernd Neumann anlässlich der CDU Media-Night, 14. 5. 2013. [DWDS] (bundesregierung.de)