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migrantisch · postmigrantisch

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Im Wortfeld rund um Migration ist ab der Wende zum 21. Jahrhundert mit migrantisch ein Adjektiv belegt, mit dem ein Bezug zu Migrantinnen und Migranten hergestellt wird. Seither bedeutet es Migrantinnen und Migranten betreffend, durch sie geprägt. Dazu ist ab Mitte der 2000er Jahre die Wortbildung postmigrantisch von der Migrationserfahrung früherer Generationen geprägt nachweisbar, die wohl aus dem Englischen entlehnt wurde.

Wortgeschichte

Das Adjektiv migrantisch

Im Wortfeld MigrationWGd gehört das Adjektiv migrantisch zu den jüngeren Wortbildungen: Seit der Wende zum 21. Jahrhundert wird mit ihm ein Bezug zu Migrantinnen und Migranten hergestellt (2002, 2007a; vgl. auch DWDS unter migrantischDWDS). Entsprechend trägt migrantisch seither die Bedeutung Migrantinnen und Migranten betreffend, durch sie geprägt (2005c, 2007a, 2014d). Migrantisch begegnet sowohl negativ (2005a, 2007b, 2010) als auch wertneutral bzw. positiv konnotiert (2005b, 2014f).

Mit der Verwendung von migrantisch wird auf diskursiver Ebene zugleich eine – vermeintliche – Differenz zu deutsch aufgemacht (2014c, 2015, 2023). Solchen Verwendungen von migrantisch liegt letztlich die Differenzkonstruktion von einem vermeintlich Eigenen und einem vermeintlich Fremden zugrunde (vgl. zu dieser diskursiven Grundfigur im Detail Busse 1997).

Die Wortbildung postmigrantisch

Darüber hinaus ist seit Mitte der 2000er Jahre die Wortbildung postmigrantisch nachweisbar (2008). Die Bildung geht wohl auf das Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße zurück. Nach Auskunft der Theaterleiterin Shermin Langhoff, auf die die Prägung offenbar zurückgeht, handelt es sich ursprünglich um einen Begriff der angloamerikanischen Literaturwissenschaft (2012). In der Tat ist postmigrant bzw. post-migrant im Englischen mindestens seit dem 20. Jahrhundert, allerdings auch in anderen als literaturwissenschaftlichen Kontexten, vereinzelt belegt (1989, 1995; das 3OED bucht das Adjektiv – noch – nicht), wenngleich es sich auch hier erst im 21. Jahrhundert weiter verbreitet (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).

Im deutschsprachigen Raum begegnet postmigrantisch zunächst insbesondere in Bezug auf das Theater (2009a, 2012) sowie den Kulturbereich (2009d, 2014a), bevor das Adjektiv auch in anderen Bereichen verwendet wird (2011b, 2014h). Das Präfix post- trägt zunächst eine zeitliche Bedeutung im Sinne von nach (2009b, 2014b). Entsprechend hat postmigrantisch die Bedeutungen von der Migrationserfahrung früherer Generationen geprägt (2011a, 2014g). Daneben impliziert das Präfix post- aber auch eine Nähe eines Postmigrantischen zu seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehenden Theorieangeboten in den Geisteswissenschaften (2009c, 2014i) wie etwa jenen des Poststrukturalismus oder des Postkolonialismus und entsprechend auch Wortbildungen wie postmodernWGd sowie postkolonialWGd (2013, 2014e). Gerade postkolonial ist ein Beispiel dafür, dass das Präfix post- in diesen Kontexten im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert nicht nur eine rein zeitliche Bedeutung, sondern auch darüber hinausgehende Bedeutungsaspekte transportieren kann – postkolonial trägt zentral auch die Bedeutung kolonialkritisch. Auch postmigrantisch begegnet mit Bedeutungsaspekten, die über eine rein zeitlich zu verstehende Lesart nachmigrantisch hinaus gehen (2014a, 2024a, 2024b). Es bleibt abzuwarten, wie sich das noch junge Adjektiv semantisch weiterentwickelt.

Literatur

Busse 1997 Busse, Dietrich: Das Eigene und das Fremde. Annotationen zu Funktion und Wirkung einer diskurssemantischen Grundfigur. In: Matthias Jung/Martin Wengeler/Karin Böke (Hrsg.): Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag. Opladen 1997, S. 17–35.

DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)

3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)

Belegauswahl

As a corollary, despite the Charter, the pending Multiculturalism Act, and highly differentiated ethnic and panethnic organizations, there are many signs that ethnicity is proving itself an epiphenomenon of several postmigrant generations rather than a basis for permanent communal differences.

Harney, Robert F.: „So Great a Heritage as Ours“: Immigration and the Survival of the Canadian Polity. In: Graubard, Stephen R. (Hrsg.): In search of Canada. New Brunswick/London 1989, S. 51–97, hier S. 90.

Through the two examples presented and our earlier comments, we hope to have underlined the distinctive modes of bilingual behaviour of speakers in migrant or post-migrant situations, and to add to the understanding of current resarch issues.

Dabène, Louise/Moore, Danièle: Bilingual speech of migrant people. In: Milroy, Lesley/Muysken, Pieter (Hrsg.): One speaker, two languages. Cross-disciplinary perspectives on code-switching. Cambridge 1995, S. 17–44, hier S. 39.

Fremd im eigenen Genre: Ein Gespräch mit Hannes Loh und Murat Güngör über den Aufstieg von HipHop in Deutschland von einer migrantisch geprägten Subkultur zum DeutschRap von heute

die tageszeitung, 11. 10. 2002, S. 16. [IDS]

So entsteht mit Sprachholperdipolter eine Distanz zu Menschen, die doch eingegliedert werden sollten. Das neueste Unwort heißt „migrantisch“. Das klingt als hätten die so bezeichneten Leute eine Krankheit.

Neue Westfälische, 31. 8. 2005. [DWDS]

Mit dem deutschsprachigen Hip-Hop etwa existiert heute die erste massenwirksame Populärkultur in Deutschland, die migrantisch geprägt ist.

Süddeutsche Zeitung, 21. 10. 2005, S. 15. [IDS]

Sarkozy, der in seiner ersten, öffentlich geäußerten Fantasie am liebsten zu einem leistungsstarken Hochdruckreiniger der schwäbischen Firma Kärcher greifen wollte, um den schwelenden Unruhen in den migrantisch geprägten Armutsvierteln Herr zu werden, greift nun also doch lieber zu den bewährten Mitteln des Rechtsstaates: einer vorübergehenden, punktuellen Einschränkung der Bürgerrechte, um die Ordnung wiederherzustellen.

die tageszeitung, 9. 11. 2005, S. 14. [IDS]

Ich betrachte das nicht als exemplarisch migrantisch, sondern als etwas, das alle angeht, die mit dem heutigen Regime der Mobilität in Berührung kommen. Migranten haben da vielleicht nur den Vorteil, dass sie auf eine Art von Genealogie zurückkucken können.

die tageszeitung, 2. 3. 2007, S. 25. [IDS]

Früher war Marxloh proletarisch und deutsch, heute, sagen manche, ist es subproletarisch und migrantisch.Viele nennen Marxloh in einem Atemzug mit Berlin-Neukölln: als Chiffre für eine deutsche Banlieu, ein Ghetto für Verlierer und Arbeitslose.

die tageszeitung, 25. 10. 2007, S. 4. [IDS]

Diese Woche habe ich zum ersten Mal das Wort „postmigrantisch“ gehört. Das Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg ist nach Renovierung wieder eröffnet worden und bietet nun ein „postmigrantisches“ Kulturprogramm an.

Berliner Morgenpost, 9. 11. 2008, S. 22. [IDS]

Sie bezeichnen Ihr Theater als „postmigrantisch“. Was ist daran migrantisch, was postmigrantisch?

die tageszeitung, 18. 4. 2009, S. 27,29. [IDS]

Den Begriff „postmigrantisch“ hab ich über die angloamerikanischen Literaturwissenschaft vor etwa zehn Jahren kennen gelernt. Es scheint mir einleuchtend, dass wir die Geschichten der zweiten und dritten Generation anders bezeichnen. Die stehen im Kontext der Migration, werden aber von denen erzählt, die selber gar nicht mehr gewandert sind. Eben postmigrantisch.

die tageszeitung, 18. 4. 2009, S. 27,29. [IDS]

Das Ballhaus Naunynstraße wird seit einigen Monaten unter der Leitung von Shermin Langhoff als Kult- und Kulturstätte geführt. Und zwar unter dem sperrigen Theorielabel „postmigrantisch“, das auf der Praxisseite mit unterschiedlichsten Inhalten zum Thema zwischen Theater, Musik, und Performance gefüllt wird.

die tageszeitung, 20. 4. 2009, S. 32. [IDS]

Der junge israelische Regisseur Michael Ronen hat sie inszeniert und mit seinem Team Orte aufgespürt, an denen ein Leben jenseits durchschnittlicher Erfahrungswelten – „postmigrantisch“ ist das Schlagwort – stattfindet. Um an solche Orte zu gelangen, muss man manchmal weit fahren.

die tageszeitung, 7. 11. 2009, S. 48. [IDS]

Ob migrantisch, muslimisch oder bildungsfern – Hintergründe wie diese werden heute häufig zur Diskriminierung benutzt, Sarrazin lässt grüßen.

Der Tagesspiegel, 9. 9. 2010. [DWDS]

Damals gewinnt sie jenes Publikum, von dem es heißt, es existiere gar nicht: mehrheimische Zuschauer, die – wie die Künstler selbst - »ihre« Geschichten sehen wollen. Langhoff prägt dafür den Begriff »postmigrantisch«, und dafür will sie nicht nur Festivals, sondern etwas Bleibendes, eine eigene Spielstätte.

Die Zeit (Online-Ausgabe), 3. 3. 2011, Nr. 9. [IDS]

„Unsere Gesellschaft hat sich verändert“, sagt Asli Kislal. „Wir leben längst in einer postmigrantischen Realität. Wien war immer eine Einwanderungsstadt. Auch das Publikum in der Josefstadt ist postmigrantisch.“

Falter, 7. 12. 2011, S. s10. [IDS]

Die Leerstelle wird jetzt von einem – zumindest für den deutschen Sprachraum – neuen Begriff besetzt: dem „postmigrantischen Theater“. Shermin Langhoff, die in Berlin das Ballhaus Naunynstraße leitet, hat das Adjektiv „postmigrantisch“ aus der angloamerikanischen Literaturwissenschaft übernommen.

Falter, 11. 1. 2012, S. 24. [IDS]

„Fatih Tag“, von und mit Fatih Çevikkollu , ist ein Tag mit Fatih in dem Land, in dem die Post abgeht: postmodern, postmigrantisch und postdemokratisch.

Berliner Morgenpost, 21. 11. 2013, S. 26. [IDS]

Als Mitgründerin des Magazins „freitext“ und Hausautorin am Berliner Maxim Gorki Theater steht sie für eine Szene junger, oft als postmigrantisch bezeichneter Kulturschaffender, die klar politisch und unverblümt gegen den Ist-Zustand anschreibt und Kategorien wie Nation, Ethnie oder Geschlecht offensiv in Frage stellt.

Süddeutsche Zeitung, 8. 1. 2014, S. 11. [IDS]

Das Adjektiv „postmigrantisch“ ist nicht schön, aber man versteht es: Es erzählt von einem Zustand nach der Migration, also wenn man schon dreißig Jahre lang irgendwo lebt oder die Mutter Migrantin war, man selber aber schon im neuen Land geboren wurde.

die tageszeitung, 22. 5. 2014, S. 17. [IDS]

Und eine lustvolle Dekonstruktion vermeintlich klarer Identitäten, ob deutsch oder migrantisch.

Berliner Morgenpost, 17. 6. 2014. [DWDS]

Das Publikum sei jedoch zu wenig migrantisch, sagt Patulova.

Wiener Zeitung, 29. 8. 2014. [DWDS]

Jetzt, in unseren Tagen, denen einerseits lauter Post-Präfixe wie postmigrantisch, postkolonialistisch und postnationalistisch vorangestellt werden, während andererseits nicht nur die rohe Gewalt, sondern auch der krude Nationalismus samt ethnischer Säuberungen überall auf der Welt wiederauferstehen, ist das natürlich ein toller Stoff.

die tageszeitung, 23. 10. 2014, S. 13. [IDS]

In den hippen, migrantisch geprägten Innenstadt-Bezirken der Metropolen wächst die Kluft zwischen dem sozialen Oben und Unten.

die tageszeitung, 22. 11. 2014, S. 10. [IDS]

Deshalb gibt es an diesem Haus ein postmigrantisch gemischtes Ensemble, deshalb werden Stoffe gewählt, die an der multikulturellen Realität nicht vorbeispielen wollen.

Neue Zürcher Zeitung, 25. 11. 2014, S. 19. [IDS]

Die Studie „Deutschland postmigrantisch“ gehört zu den größten Erhebungen auf dem Gebiet der Integrationsforschung. Insgesamt nahmen 8270 Personen teil.

Nürnberger Nachrichten, 4. 12. 2014, S. 32. [IDS]

Wir wollen mit dem Postmigrantischen aber darauf verweisen, dass es eigentlich um ganz andere Dinge geht als um Migration – nämlich um die fundamentale Aushandlung von Rechten, von Zugehörigkeit, von Teilhabe und von Positionen. Das ist das neue Deutschland. Es handelt sich und seine nationale Identität gerade postmigrantisch neu aus.

Arno Widmann: Was heißt postmigrantisch? In: Berliner Zeitung, 13. 12. 2014. [IDS]

Es wird bemängelt, dass die Geschichte der Verbrechen der Deutschen ihre eigene neue Generation – ob deutschstämmig oder migrantisch – nicht mehr erreicht.

Süddeutsche Zeitung, 18. 8. 2015, S. 2. [IDS]

Die Studie untersuchte anhand von mehreren bereits bestehenden Datenerhebungen und Folgebefragungen die „Netzwerksegregation“ – die Tendenz sozialer Gruppen, „unter sich“ zu bleiben – im Hinblick auf vier Dimensionen mit je zwei vorgegebenen Merkmalspaaren, welche die Forscher „als jeweils entgegengesetzte Pole innerhalb des Möglichkeitsraums und als besonders konfliktträchtig ausgewählt“ hatten (politisch: links/rechts und Grünen-nah/AfD-nah; sozioökonomisch: gering/hoch gebildet und arm/reich; kulturell: migrantisch/deutsch und christlich/muslimisch; regional: ländlich/großstädtisch und ostdeutsch/westdeutsch).

Segregation (Soziologie). In: Wikipedia: Die freie Enzyklopädie. 19. 11. 2023. [DWDS] (wikipedia.org)

Das Postmigrantische wird hier „weniger als ein in sich geschlossener Erklärungsansatz“ verstanden, sondern „als ein Tisch, an dem verschiedene Ansätze zusammenkommen“ können, etwa auch postkoloniale Perspektiven.

Postmigrantische Gesellschaft. In: Wikipedia: Die freie Enzyklopädie. 27. 8. 2024. [DWDS] (wikipedia.org)

Postmigrantische Gesellschaften sind für Espahangizi nicht einfach alle Gesellschaften, die durch Migrationserfahrungen geprägt sind, sondern nur solche, in denen das Streiten um Migration und Integration zu einem „zentralen Modus der Vergesellschaftung“ aufgestiegen ist.

Postmigrantische Gesellschaft. In: Wikipedia: Die freie Enzyklopädie. 27. 8. 2024. [DWDS] (wikipedia.org)