Wortgeschichte
Vom Italienischen über das Französische ins Deutsche
Kanaille ist auf italienisch canaglia Hundepack
zurückzuführen, einem mit dem pejorativen Suffix -aglia gebildeten Kollektivum zu italienisch cane Hund
(vgl. Pfeifer unter KanailleDWDS). Schon in den frühesten Bezeugungen (1673, 1682a, 1693) erscheint das Wort allerdings in der französischen Schreibung canaille, so dass es wohl nicht direkt aus dem Italienischen, sondern über das Französische ins Deutsche gelangt ist (zum Französischen TLFi unter canaille sowie 1DHLF, 347). Für die Übernahme aus dem Französischen spricht auch, dass es sich bei dem Text, aus dem der vorläufige Erstbeleg von 1673 stammt, um die Übertragung eines französischen Orginals handelt.
Negative Zuschreibungen
Im Deutschen ist das Wort – ebenso wie seine italienische bzw. französische Entlehnungsgrundlage – zunächst ein Kollektivum und bezeichnet die besitzlose, ungebildete, verachtenswerte Unterschicht
(vgl. dazu auch die Synonyme LumpengesindelWGd und (gemeiner) PöbelWGd in den Belegen 1717, 1727). Die frühen Belege lassen ein vielfältiges Panorama negativer Zuschreibungen erkennen, das freilich im Wesentlichen die seit der Antike überlieferten Stereotype weiter tradiert: Die als Canaille bezeichnete Bevölkerungsschicht ist unbedachtsam und von affecten beherrscht (1693), sie läuft zusammen, konspiriert (1733a) und muss daher im Zaum gehalten werden (1733b), sie ist zu Dieberey und Strassenrauberey sehr geneiget (1682b) und tendiert, wie das Weibervolck, zum Aberglauben (1682c). Was die Canaille ausmacht, wird auch durch die Gegensätze deutlich, in die das Wort gestellt wird: So wird sie im Beleg 1673 (hier mit Bezug auf Frankreich) von den Gelehrten und vortrefflichen Bürgern abgegrenzt, die den Hauptanteil des dritten Standes ausmachen; im Beleg 1682a stehen der Canaille, die in Rom überhand zu nehmen droht, die Wohlhabenden und Tapffern Bürger gegenüber. Überhaupt wird der als Canaille gescholtenen Personengruppe ein genereuses, wohlthaͤtiges, ehrliches Gemuͤth explizit abgesprochen (1717).
Wie an diesen negativen Charakterisierungen deutlich wird, sind sozioökonomische Eigenschaften wie Armut und mangelnder Status auf das Engste mit inneren
Defiziten wie Immoralität, geringer Intelligenz und vor allem mit fehlender Affektkontrolle verknüpft. Diesen moralischen bzw. mentalen Defiziten kommt gegenüber dem fehlenden sozialen Status teils sogar ein größeres Gewicht zu, denn das Wort kann auch von Hohen gebraucht werden, wenn diese sich eben nicht durch standesgemäße moralische Qualitäten auszeichnen (1717); es kann dementsprechend auch etwa von einer aristokratische Canaille die Rede sein (1796).
Für die frühen Belege ist allerdings festzuhalten, dass das Wort überwiegend auf Zustände in Frankreich, im alten Rom, in England bezogen ist. Zur Beschreibung der sozialen Wirklichkeit in den deutschsprachigen Ländern wird es zunächst kaum genutzt. Es kann daher für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts noch als Exotismus gelten.
Vom Kollektivum zum Schimpfwort
Von den zahlreichen negativen Zuschreibungen, die das Wort ausdrückt, ist es kein weiter Weg zu seiner Verwendung als Schimpfwort. Damit wandelt sich der Ausdruck von einer Bezeichnung für eine große soziale Gruppe zu einem Ausdruck für ein Individuum: Die Zugehörigkeit zu den unteren Klassen wird dabei – im Zuge einer metonymischen Übertragung – als persönlicher Makel gedeutet. Die ältesten Beispiele für diesen individualisierenden und zugleich stark abwertenden Gebrauch sind auf weibliche Personen bezogen: Canaille ist hier ein verächtlicher Ausdruck für Prostituierte
(1721, dementsprechend auch unzüchtige Metze als Erklärung zu Canaille in Gladovs À la mode-Lexikon von 1727; vgl. auch 1776a).
In der Anrede und somit als direkte Beschimpfung einer Person findet es sich früh dann 1737, wobei die Beleidigung hier einer männlichen Person gilt. Belege für den Schimpfwortgebrauch, der dann in erster Linie Männer adressiert, finden sich gehäuft in der Wiedergabe (fiktiver) direkter Rede, so u. a. in der derben und direkten Ausdrucksweise des sog. Sturm und Drangs (1776b, 1781, vgl. auch 1785 sowie 1897).
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve „Kanaille“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Im Gefolge der Herausbildung einer auf Einzelpersonen bezogenen Verwendung entsteht dann schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch das Bedürfnis nach einer Pluralform die Canaillen (1729, vgl. auch 1852, 1897).
Sowohl der kollektive als auch individualisierende Gebrauch hat sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten (vgl. 1924, 1925). Insgesamt geht der Wortgebrauch ab ca. 1900 aber deutlich zurück, so dass Kanaille heute allenfalls noch als bildungssprachliches Wort oder als historisches Zitat vorkommt (vgl. Abb. 1).
Literatur
1DHLF Dictionnaire historique de la langue française, par Alain Rey et al., 3. Aufl. Bd. 1–2. Paris 2000.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)