Wortgeschichte
Parallelgesellschaft: Schlagwort der Integrationsdebatte
Um die Jahrtausendwende begegnet neben LeitkulturWGd das Substantiv Parallelgesellschaft in Debatten um Multikulturalität und Integration (1998b, 2000). Vereinzelt ist das Kompositum bereits in den 1960er Jahren nachweisbar, scheint hier aber noch den Status einer Spontanbildung ohne feste semantische Kontur zu haben (1961, 1968). Ab den 1980er Jahren ist Parallelgesellschaft regelmäßig in Bezug auf die Gesellschaft belegt (1982, 1985, 1988; das Neologismenwb. datiert das Wort auf die 1990er Jahre, vgl. Neologismenwb. unter Parallelgesellschaft) und wird hier auch auf kriminelle Parallelstrukturen zum Rechtsstaat bezogen (1996). In solchen Bildungen ist die Bedeutung über das Segment Parallel- in gleichem Abstand nebeneinander herlaufend; nebeneinander (befindlich); (genau) entsprechend
motiviert (vgl. 1DFWB unter parallel).
Abb. 1: Wortverlaufskurve zu Parallelgesellschaft
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Weitere Verbreitung findet Parallelgesellschaft erst ab der Wende zum 21. Jahrhundert (vgl. Abb. 1 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Die Verwendung von Jörg Schönbohm in Zusammenhang mit Leitkultur und als Kritik an einem Multikulturalismus wird dabei zur allgemeinsprachlichen Verbreitung beigetragen haben (1998a). Parallelgesellschaft bezeichnet spätestens jetzt aus Sicht der Sprechenden Teilgesellschaften, die relativ abgeschottet innerhalb bzw. neben einer als primär angesehenen Mehrheitsgesellschaft bestehen (2019a; vgl. auch die entsprechende Buchung in Neologismenwb. unter Parallelgesellschaft). Entsprechend begegnet das Substantiv immer wieder gemeinsam mit Wörtern wie GhettoWGd oder Ghettobildung (2002a, 1999b), mit denen es zwar nicht bedeutungsgleich ist, gleichwohl in Bezug auf die Bedeutung Stadtviertel, in dem bestimmte Bevölkerungsschichten mehr oder weniger stark getrennt von anderen Bevölkerungsschichten zusammenleben
aber semantische Überschneidungen aufweist.
Parallelgesellschaft ist anders als Leitkultur in der Regel (2001a, 2001b, 2005a, 2005b), wenngleich nicht ausschließlich (2004d), negativ konnotiert. Im Vergleich zur Verbreitung von Leitkultur fällt zudem auf, dass die Bezeugungsspitze von Parallelgesellschaft zeitlich versetzt erst auf die Mitte der 2000er Jahre zu datieren ist (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Möglicherweise ist dies auch vor dem Hintergrund zeithistorischer Ereignisse wie dem 11. September 2001 oder der Ermordung des niederländischen Filmemacher Theo van Goghs 2004 zu verstehen – jedenfalls begegnet das Wort in Zusammenhang mit diesen Ereignissen (2002c, 2004a, 2004b).
Seltener ist als Ableitung zu Parallelgesellschaft im Übrigen auch das Adjektiv parallelgesellschaftlich belegt (2003). Erstbezeugungen datieren auf Anfang der 2000er Jahre (2002b). Das Wort trägt seither zentral die Bedeutung auf die Parallelgesellschaft bezogen
in all seinen dargelegten Varianten (2004c, 2008, 2010).
Breitere Verwendungen von Parallelgesellschaft
Bereits Ende der 1990er Jahre begegnen Verwendungen von Parallelgesellschaft auch abseits von Integrationsdebatten (1998c). Bezog sich das Wort also zunächst und bis heute vornehmlich auf bestimmte gesellschaftliche Teilgruppen, genauer solche, die als der eigenen Mehrheitsgesellschaft als vermeintlich fremd
gedeutet (2000) und daher als nicht zugehörig gewertet werden wie insbesondere Zugewanderte (1998b, 1999c, 2018), sind sie gleichwohl früh auch für dieser (westlichen) Mehrheitsgesellschaft als grundsätzlich zugehörig gedeutete Teilgruppen und Teilbereiche wie Christen oder Esoteriker gebraucht worden (1999a, 2019c, 2019b). Die Grenzen sind hier gleichwohl schon insofern schwer zu ziehen, als die Trennung von vermeintlich Eigenem
und vermeintlich Fremden
immer diskursiv konstruiert sind (vgl. hierzu grundlegend Busse 1997).
Literatur
Busse 1997 Busse, Dietrich: Das Eigene und das Fremde. Annotationen zu Funktion und Wirkung einer diskurssemantischen Grundfigur. In: Matthias Jung/Martin Wengeler/Karin Böke (Hrsg.): Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag. Opladen 1997, S. 17–35.
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
Neologismenwb. Leibniz-Institut für deutsche Sprache (IDS): Neologismenwörterbuch. (owid.de)
Belegauswahl
Der Spiegel, 5. 7. 1961, S. 32. [IDS]Ursprünglich hatten Berlins Fernseh-Verleger gehofft, daß die FBT – eine Parallelgesellschaft zur Frankfurter Freies Fernsehen GmbH – in Westberlin einziger Träger des Zweiten Programms sein werde und daß sie gerade aus der Werbung erhebliche Gewinne ziehen könnten, die zur Stützung einiger subventionsbedürftiger Zeitungen dienen sollten.
Die Zeit, 13. 12. 1968, S. 9. [IDS]Aber Innis wischt alle Einwände, daß eine Parallelgesellschaft nicht funktionieren könne, beiseite. Die Frage, was wohl aus dem Schmelztiegel Amerika werden solle, wenn die Minoritäten anfingen, sich zu separieren, sich aus dem Ganzen wieder herauszulösen, interessiert ihn nicht.
Werner, Adelheid: Organisierte Kriminalität – Fiktion oder Realität? In: Bundeskriminalamt Wiesbaden: Bestandsaufnahme und Perspektiven der Verbrechensbekämpfung. Arbeitstagung des Bundeskriminalamtes Wiesbaden vom 9. bis 12. November 1981. BKA-Vortragsreihe Bd. 27. Wiesbaden 1982, S. 45–58, hier S. 51.Gestatten Sie mir daher einige Worte zu der Frage, ob organisierte Kriminalität auf dem Boden der Bundesrepublik bereits eine solche Qualität erreicht hat, daß wir von einer Art Parallelgesellschaft sprechen können, wie sie sich in anderen Ländern unter den Bezeichnungen „Mafia“, „Costa Nostra“ oder „Comorra“, um nur einige Namen zu nennen, entwickelt hat.
Die Zeit, 12. 4. 1985, S. 41. [IDS]Im Jahre 1982 definierte ein Ausschuß der Innenministerkonferenz: „Unter organisierter Kriminalität ist nicht nur eine mafia-ähnliche Parallelgesellschaft im Sinne des organized crime zu verstehen, sondern ein arbeitsteiliges, bewußtes und gewolltes, auf Dauer angelegtes Zusammenwirken mehrerer Personen zur Begehung strafbarer Handlungen.“
Fijalkowski, Jürgen: Institutionalisierung politischer Beteiligungsmöglichkeiten für Ausländer. In: Wolfgang Luthardt/ Arno Waschkuhn (Hrsg.): Politik und Repräsentation Beiträge zur Theorie und zum Wandel politischer und sozialer Institutionen. Marburg 1988, S. 106–122, hier S. 113.Man kann dergleichen Koloniebildung nennen und fragen, unter welchen Bedingungen eine solche Kolonie in ein Ghetto übergeht, d. h. in einen Zustand kumulierender Negativmerkmale, durch den eine solche Separatgesellschaft in der umgebenden Gesellschaft noch weiter entfremdet und isoliert wird.
Eine solche Parallelgesellschaft kann für den der Minderheit angehörenden Einzelnen durchaus Heimat sein und ihm Brüderlichkeit und Rückhalt bieten.
Schaefer, Hans Christoph: Vorbeugung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität aus der Sicht der Staatsanwaltschaft. In: Christoph Mayerhofer/Jörg-Martin Jehle (Hrsg.): Organisierte Kriminalität. Lagebilder und Erscheinungsformen. Bekämpfung und rechtliche Bewältigung. Heidelberg 1996, S. 157–172, hier S. 159.Ich meine gleichwohl, daß die in Italien real existierende Parallelgesellschaft der Mafia mit ihrer Verzahnung und Verbindung zur Politik und der damit fast ungebremst gegebenen Einflußnahme auf Staat, Partei und Gesellschaft insgesamt bei uns kein Gegenstück findet.
Berliner Zeitung, 22. 6. 1998. [DWDS]Das wäre eine Gesellschaft beliebig neben- und nicht miteinander lebender Volksgruppen ohne allgemein anerkannte Leitkultur und Wertorientierung. Das Modell der „Multikultur“ nimmt die Aufgabe der deutschen Leitkultur zugunsten gleichrangiger Parallelgesellschaften billigend in Kauf oder strebt sie direkt an. Ihre Vorbilder sind „Kommunen“ und „freie Assoziationen“, deren sozialer und politischer Halt eben nicht in einer verfassungsmäßig gesicherten Nation liegt.
Die Zeit, 16. 7. 1998, Nr. 30, S. 37. [DWDS]Denn „Ausländer, die sich nicht integrieren lassen, müssen sich die Frage beantworten, ob sie zurückgehen wollen. Wir dürfen keine Parallelgesellschaften oder eine multikulturelle Gesellschaft entwickeln.“
Berliner Zeitung, 7. 11. 1998. [DWDS]Die Erzeugnisse einer neuen nazistischen Subkultur, der populistische Antiamerikanismus kommunistischer Duma-Abgeordneter und die Tatenlosigkeit, mit der das Entstehen einer rechten Parallelgesellschaft vom Staat geduldet wird, müssen gleichermaßen dafür herhalten, seine These von einem „großrussischen Chauvinismus“ zu belegen.
Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus. Frankfurt a. M. 1999, S. 469. [DWDS]In dieser ganzen Zeit hatte sich daher die Arbeiterbewegung als eine Art kapitalistische Parallelgesellschaft oder als Lager »außerhalb der Stadtmauern« formiert, obwohl sie ja selber nichts anderes mehr als die »abstrakte Arbeit« wollte.
Berliner Zeitung, 8. 5. 1999. [DWDS]Ghettobildungen und der Entwicklung von Parallelgesellschaften werde entgegengesteuert.
Die Zeit, 1. 7. 1999, Nr. 27, S. 14. [DWDS]Das erinnert an den Begriff der Parallelgesellschaft, der auf türkische Gemeinschaften gemünzt ist, die sich der deutschen Lebenswelt völlig entziehen.
Die Zeit, 6. 4. 2000, S. 4. [DWDS]Für uns steht die Integration ausländischer Mitbürger im Mittelpunkt, wir wollen keine Parallelgesellschaften von Deutschen und Ausländern.
Der Tagesspiegel, 18. 3. 2001. [DWDS]Um die Herausbildung von „Parallelgesellschaften“ zu verhindern, müsse die Politik mit geeigneten Integrationsstrategien entgegenwirken.
Der Tagesspiegel, 29. 9. 2001. [DWDS]Gleichzeitung müsse die soziale Integration hier lebender Ausländer gefördert und gefordert werden, um der Bildung von Parallelgesellschaften entgegen zu wirken.
Der Tagesspiegel, 11. 3. 2002. [DWDS]Sonst bestehe die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften bilden oder gar Ghettos, wie geschehen beim „Kalifat“ in Köln.
Der Tagesspiegel, 11. 5. 2002. [DWDS]Denn damit tragen wir nicht nur zum Feindbild Islam bei, sondern spielen das Spiel der Islamisten mit, deren Voraussetzung eine parallelgesellschaftliche Islam-Diaspora ist.
Der Tagesspiegel, 11. 5. 2002. [DWDS]Vor dem Hintergrund der Tragödie vom 11. September ist jedoch deutlich geworden, dass der Multi-Kulti-Kommunitarismus und der von ihm gewährte „free space" zu Parallelgesellschaften führt und somit zu einem Sicherheitsrisiko wird.
Der Tagesspiegel, 25. 7. 2003. [DWDS]Die neu zugezogenen Ehepartner finden kaum oder gar keinen Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft, wenn es in ihren Wohnvierteln bereits eine spezifische Migrantenkultur gibt oder anders gesagt: parallelgesellschaftliche Strukturen.
Der Tagesspiegel, 11. 11. 2004. [DWDS]Er begrüßt, dass Teile der muslimischen Gemeinschaft sich sofort nach dem Mordanschlag auf den Regisseur Theo van Gogh mit der niederländischen Gesellschaft solidarisch erklärt haben. Die Niederlande haben lange zugeschaut und nichts gegen die sich abzeichnende Parallelgesellschaft unternommen.
Berliner Zeitung, 20. 11. 2004. [DWDS]Angesichts der Anschläge in den Niederlanden könne die Demokratie „weder rechtsfreie Räume noch Parallelgesellschaften dulden“, heißt es im Manuskript der Laudatio auf Alt-Bundespräsident Johannes Rau (SPD), die der Kanzler am Sonnabend im Jüdischen Museum in Berlin hält.
die tageszeitung, 21. 12. 2004, S. 28. [IDS]Er: „Mir reicht ein Döner, ich esse lieber parallelgesellschaftlich.“
Der Tagesspiegel, 22. 12. 2004. [DWDS]Multikulturalität und Parallelgesellschaften: In den deutschen Städten ist das, wenn es ums Essen geht, von der Restaurantszene bis zum Supermarktangebot längst selbstverständliche Realität.
Berliner Zeitung, 14. 1. 2005. [DWDS]Das Zentrum Kreuzberg ist ein großer, grauer Wohnkomplex am Kottbusser Tor, an dem sich alle Schreckensgeschichten der Berliner Innenstadt trefflich abbilden lassen – Drogen, Armut, Verfall, die so genannte Parallelgesellschaft.
Berliner Zeitung, 8. 10. 2005. [DWDS]Wird er von Mord und Totschlag reden, von rivalisierenden Jugendbanden, von den Parallelgesellschaften arabischer Großclans, von organisierter Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Integrationsproblemen, von Zwangsheirat und Frauendiskriminierung?
Die Zeit (online), 14. 2. 2008. [IDS]Eine verdichtete deutsche Kolonie entstand zum Ausgang des 19. Jahrhunderts beispielsweise in Chicago – mit all den heute als parallelgesellschaftlich bezeichneten Strukturen zur Erhaltung nationaler Identitäten.
Protokoll der Sitzung des Parlaments Sächsischer Landtag am 18. 1. 2010. 7. Sitzung der 5. Wahlperiode 2009–2014. Plenarprotokoll. [IDS]Erstens, weil in westdeutschen Großstädten aus muslimischen Minderheiten schon längst parallelgesellschaftlich organisierte Mehrheiten geworden sind, und zweitens, weil das linkslastige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wohl kaum Zahlenmaterial präsentieren würde, das die Überfremdungsangst der Deutschen unnötig schürt und damit der sogenannten Islamophobie Vorschub leistet.
Berliner Zeitung, 27. 11. 2018, S. 13. [IDS]Politiker und Behörden wollen mit ihrem am Abend beschlossenen Fünf-Punkte-Plan die Parallelgesellschaft der Clans aufbrechen.
die tageszeitung, 19. 1. 2019. [IDS]Parallelgesellschaft suggeriert aber, dass etwas sozial abgeschlossen ist und sich nicht öffnen wird.
Falter, 11. 12. 2019, S. 25. [IDS]Einen vermittelnden Blick auf die Parallelgesellschaft der Esoterik[.]
Der Spiegel (online), 14. 12. 2019. [IDS]De Velasco weiß, wovon sie schreibt, denn sie ist einst selbst in dieser christlichen Parallelgesellschaft aufgewachsen.