Wortgeschichte
Ein europäisches Wort
Das Substantiv Nepotismus wird im 17. Jahrhundert aus italienisch
nepotismo/nipotismo
(vgl. Vocabolario della Crusca 1863 unter nipotismo
bzw. neulateinisch nepotismus päpstliche Bevorteilung von Verwandten
ins Deutsche entlehnt (1691a). Das italienische Wort ist eine Ableitung von nepote/nipoteital. Enkel, Neffe, Nichte
, das auf nepōslat. Enkel, Neffe, Vetter, Nachkomme
zurückgeht (zur Herkunft vgl. Pfeifer unter NepotismusDWDS). Das in vielen Sprachen Europas verbreitete Wort (nepotismedän., nepotismengl., népotismefrz., nepotismenl. u. a.) kann den sogenannten Europäismen zugeordnet werden.
Auf italienisch nepote/nipote bzw. lateinisch nepōs ist auch das in deutschen Texten seit dem 17. Jahrhundert – zunächst in lateinischer Flexion – nachgewiesene Substantiv Nepote zurückzuführen (1618, 1671, 1704a; heute noch historisierend 2006a). Dabei handelt es sich um die mit Ämtern versehenen päpstlichen Verwandten
, die durchaus als offizielle Funktionsträger in Erscheinung treten können und als solche einen als selbstverständlich hingenommenen Teil der Kirchenhierarchie bilden.
Päpstlicher Nepotismus: Bevorzugung von Verwandten
Die Bevorteilung von Verwandten bei der Ämtervergabe war in der Papstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit gängige Praxis (vgl. 3LThK 7, 878). Wer den Papst zum Vetter hat, wird Kardinal drückt dies sprichwörtlich aus (Vetter hier wohl in der allgemeinen Bedeutung männlicher Verwandter
; 2005; vgl. 1873a). Im Jahr 1538 wird die Begünstigung der päpstlichen Verwandten durch die offizielle Ernennung von Kardinalnepoten sogar institutionalisiert.1)
Das Wort findet sich zuerst in lateinischer Form Anfang der 1620er Jahre im Untertitel des von Kaspar Schoppe verfassten Traktats Funiculus triplex, in dem er insgesamt Kritik an der katholischen Kirche und im Besonderen an der übermäßigen Begünstigung der päpstlichen Verwandten äußert (1621; vgl. Reinhard 1975, 178).
Als besonders wirkungsvoll hat sich das 1667 erschienene Werk Il nipotismo di Roma von Gregorio Leti erwiesen, in dem die Praxis der päpstlichen Verwandtenbegünstigung kritisch dargestellt wird. Diese zunächst auf Italienisch erschienene Schrift wurde zwei Jahre später ins Lateinische, Französische und Englische übersetzt. Spätestens durch diese Veröffentlichungen findet das Wort in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Eingang u. a. ins Französische (s. TLFi unter népotisme) sowie ins Englische (s. 3OED unter nepotism, vgl. dazu auch den Leseeindruck des Londoners Samuel Pepys, den er in seinem Tagebuch 1669 festhält).
Ende des 17. Jahrhunderts zeigt sich das Wort erstmals auch in einer deutschsprachigen Flugschrift, in der der merckliche Unterscheid voriger und gegenwärtiger Päbstlichen Regierung […] sambt dem Päbstl. Nepotismo vorgestellt wird (1691a). Und in einem Bericht über den im Jahr 1691 neu gewählten Papst Innozenz XII. findet sich in der wöchentlich erscheinenden Münchener Zeitung Mercurii Relation im selben Jahr ein weiterer Textbeleg für das Lehnwort Nepotismus (1691b; vgl. auch 1693). Eine frühe Buchung von Nepotismus im Jahr 1704b im sogenannten Hübnerschen Lexicon lässt möglicherweise auf eine gewisse Gebräuchlichkeit des Ausdrucks schließen, jedoch bleibt die Beleglage bis zur Mitte des Jahrhunderts dünn (1721, 1727). Nepotismus wird in den ersten 50 Jahren nach Entlehnung, in denen sich der Ausdruck allein auf die päpstliche Praxis der Verwandtenbegünstigung bezieht, in deutschen Texten eher zurückhaltend verwendet.
Nepotismus wird profan
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erfährt das Wort Nepotismus eine Bedeutungserweiterung und wird nicht mehr nur im ursprünglichen Verwendungszusammenhang gebraucht, sondern meint nun auch allgemein jede ungerechte Begünstigung von Verwandten und Freunden
(1751 in der Form Nepotismo, 1786 in der Form Nepotism, 1792, 1795):
daher wird das Wort Nepotismus überhaupt, und zwar in einem uͤblen Sinne, von dem Beſtreben der Großen gebraucht, ihre Familien mit Zuruͤckſetzung wuͤrdiger Leute zu befoͤrdern [1809].
Mit der Bedeutungserweiterung nimmt auch die Verbreitung des Lehnworts im 19. Jahrhundert stetig zu (1812, 1815, 1840a, 1848, 1858). Besonders in der Presse finden sich wiederholt missbilligende Äußerungen über die ausufernde Verwandtenbegünstigung in Politik und Verwaltung, zum Beispiel bei der Vergabe öffentlicher Ämter (1844, 1847).
Von den schlimmere[n] Folgen des Nepotismus für das Staatswohl wird bereits 1799 geschrieben, der Staatsgelehrte Johann Ludwig Klüber spricht 1817 in seinem Werk Öffentliches Recht des teutschen Bundes sogar von Staatssünde. In Politik und Verwaltung praktizierter Nepotismus wird als dreist und schädlich bezeichnet (1852, 1901). Ähnlich wird auch heutzutage von außenstehenden Beobachtern geurteilt, nepotistische Strukturen werden beispielsweise mit Adjektiven wie schamlos (2008) und unerträglich (2016a) beschrieben.
Vetternwirtschaft macht Nepotismus Konkurrenz
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird nach einer deutschen Übersetzung des Lehnworts gesucht: Die vorgeschlagenen Wörter Neffengunst und Vetterngunst (1813) können sich nicht durchsetzen, auch das Wort Enkelwirtschaft findet keinen Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch, wird sogar als verkehrte Verdeutschung für Nepotismus verspottet (1887). Erst mit der gleichbedeutenden Lehnübertragung VetternwirtschaftWGd
gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Alternative und somit auch Konkurrenz zu Nepotismus. Die Übertragung nimmt Bezug auf die Entsprechung von lateinisch nepōs und deutsch Vetter, wobei beide Wörter in einem eher weiten Sinne als Verwandter, Nachkomme
zu verstehen sind (s. o. Nepote).
Zunächst wird Vetternwirtschaft noch zurückhaltend gebraucht, ein deutlicher Frequenzanstieg ist ab etwa 1930 festzustellen, seitdem lässt die deutsche Lehnübertragung das ältere Wort Nepotismus im Hinblick auf die Gebrauchshäufigkeit deutlich zurück, wie die DWDS-Wortverlaufskurve zeigt:
Abb. 1: Wortverlaufskurve zu „Nepotismus“ und „Vetternwirtschaft“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Ein bildungssprachliches Wort
Gegenwartssprachlich ist das Wort Nepotismus in beiden beschriebenen Verwendungszusammenhängen zu finden. Wenn es um die Beschreibung des eher eng umrissenen historischen Phänomens der päpstlichen Verwandtenbegünstigung geht, wird es historisierend gebraucht (1997, 2011a). Weitaus häufiger wird Nepotismus zweifellos im allgemeineren Sinn Begünstigung von Verwandten und Freunden
verwendet (2004, 2018, 2020).
Der Ausdruck Nepotismus wird im Unterschied zu Vetternwirtschaft gegenwärtig als bildungssprachlich wahrgenommen (s. Duden online unter Nepotismus) und dem Bildungswortschatz zugeordnet (Augst 2019, 159). Das Wort ist offenbar kein Wort der Alltagssprache und wird vermutlich von vielen Sprechern als nicht allgemeinverständlich begriffen (und daher auch häufig mit Vetternwirtschaft erklärt, z. B. 1967). In den gegenwartssprachlichen Korpora ist die Bildung Vetternwirtschaft demzufolge auch viel häufiger nachzuweisen, es ist das bei weitem geläufigere Wort. Den deutlichen Unterschied der Gebräuchlichkeit zeigt der Vergleich der beiden gleichbedeutenden Wörter im ZDL-Regionalkorpus, das Lokal- und Regionalteile deutscher Zeitungen enthält: VetternwirtschaftDWDS ist in 1.817 Belegen enthalten, dagegen ist NepotismusDWDS nur 20-mal bezeugt. Auch in Qualitätsmedien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der ZEIT ist Nepotismus deutlich seltener anzutreffen (vgl. F.A.Z Bibliotheksportal: Nepotismus 787 Nachweise, Vetternwirtschaft 3.272; Stand 10/2020).
Wortbildungen
Anfang des 19. Jahrhunderts finden sich die Adjektivbildungen nepotisch und nepotistisch in deutschen Texten. Während die kürzere Bildung nepotisch eine Ableitung mit dem heimischen Suffix -isch zur Personenbezeichnung Nepote ist, schließt sich das adjektivische Derivat nepotistisch auf die Basis mit -ismus an, also auf Nepotismus. Die unterschiedliche Wortbildung der Adjektive bringt keinen Bedeutungsunterschied mit sich, die Doppelbildungen meinen dasselbe: Nepotismus betreffend; durch Nepotismus begünstigt; von Nepotismus bestimmt
. Die Adjektivableitungen zeigen auch die in der jeweiligen Basis bereits enthaltene Abwertung.
Die Bildung nepotisch ist seit Beginn des 19. Jahrhunderts mehrfach bezeugt (1818, 1856). Sie tritt zum einen historisierend mit Bezug auf päpstliche Verwandtenbegünstigungen auf (1840b), erscheint aber überwiegend losgelöst von diesem Zusammenhang bezogen auf politische Verhältnisse (1850).
Die Bildung nepotistisch ist zwar zeitgleich in deutschen Texten zu finden (1819, 1873b), im 19. Jahrhundert aber durchaus seltener als nepotisch. Im 20. Jahrhundert verändert sich das Bild: Nepotisch ist seitdem nur noch vereinzelt anzutreffen (1911, 2014a), gebräuchlich ist fast nur noch die Adjektivbildung nepotistisch. In gegenwartssprachlichen Texten ist die Wortbildung mit Bezugnahme auf nepotistische Strukturen z. B. im Sport und natürlich in Politik und Wirtschaft vorzufinden (1998a, 2011b, 2015, 2021), beispielsweise in der Verbindung nepotistische CliqueWGd (2007).
Aktuelle Zusammensetzungen wie Nepotismusverdacht (1998b), Nepotismusvorwurf (2006b, 2014b) und die sich auf US-amerikanische Verhältnisse beziehenden Komposita Anti-Nepotismus-Gesetz (2016b) und Anti-Nepotismus-Regeln (2017) zeigen die fortwährenden kritischen Auseinandersetzungen mit dem System des Nepotismus. Ferner lässt sich feststellen, dass Nepotismus in Bezug auf die Wortbildung produktiver ist als das ansonsten viel gebräuchlichere gleichbedeutende Wort Vetternwirtschaft, was möglicherweise an der als sperrig
empfundenen Wortgestalt von Bildungen mit Vetternwirtschaft (z. B. vetternwirtschaftlich, Vetternwirtschaftsverdacht) liegen mag.
Anmerkungen
1) Vgl. die zentralen Untersuchungen von W. Reinhard zu Struktur und Funktion des frühneuzeitlichen Nepotismus, u. a. Reinhard 1975; vgl. auch Ranke 1836, EdN.
Literatur
Augst 2019 Augst, Gerhard: Der Bildungswortschatz. Darstellung und Wörterverzeichnis. Hildesheim u. a. 2019.
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
Emich 2019 Emich, Birgit: Art. „Nepotismus“. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Online zuerst: 2019. (doi.org)
F.A.Z Bibliotheksportal Das F.A.Z.-Bibliotheksportal: ein Service des Frankfurter Allgemeine Archiv. 1949–. (faz-rechte.de)
3LThK Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. Hrsg. von Walter Kasper. Sonderausgabe, durchgesehene Ausgabe der 3. Aufl. 1993–2001. Freiburg im Breisgau u. a. 2009.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Ranke 1836 Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert. 3. Bd. Berlin 1836. (deutschestextarchiv.de)
Reinhard 1975 Reinhard, Wolfgang: Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975), S. 145–185. (mgh-bibliothek.de)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Vocabolario della Crusca 1863 Vocabolario degli Accademici della Crusca. Hrsg. von der Accademia della Crusca. Ausgabe: 5. Florenz 1863–. (lessicografia.it)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Nepotismus, Nepote, nepotisch, nepotistisch.