Wortgeschichte
Insurrektion: Zwei Bedeutungslinien
Das Substantiv Insurrektion ist seit dem 17. Jahrhundert in deutschsprachigen Quellen belegt, zunächst noch in lateinischer Form (1666), ab dem 18. Jahrhundert auch in deutscher Form (1703, 1789). Es kann sowohl ungarisches Adelsaufgebot; allgemeine Mobilmachung des Adels in Ungarn zur Abwehr militärischer Angriffe auf das eigene Land
(1666) als auch Aufstand, Aufruhr
(1832b) bedeuten. Frühe Bezeugungen sind mehrheitlich der Bedeutung ungarisches Adelsaufgebot
zuzuordnen (1666, 1744a, 1824). Insgesamt bleibt die Verbreitung im deutschsprachigen Raum vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gering. Insurrektion Aufstand
verbreitet sich im Deutschen erst ab Ende des 18. Jahrhunderts weiter; nun steigt auch die Verwendungsfrequenz an (vgl. die entsprechende bedeutungsübergreifende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Die Bedeutungslinie ungarisches Adelsaufgebot
In der Bedeutung ungarisches Adelsaufgebot
ist Insurrektion seit dem 17. Jahrhundert zunächst in lateinischer Form belegt (1666). Etymologisch geht es wohl auf spätlateinisch īnsurrēctio (s. a. lateinisch īnsurgere sich erheben, sich aufrichten
) zurück. Da frühe Belege in deutschsprachigen Quellen in lateinischer Form sind, ist das Ungarische hier wohl keine vermittelnde Sprache: Zwar wird das Adelsaufgebot neben nemesi felkelés (übersetzt etwa adeliger Aufstand
) auch als inszurrekció (2022) bezeichnet, die ungarischsprachigen Quellen des Google Books Korpus verzeichnen Treffer zu inszurrekció (Stand: 5. 7. 2022) aber erst ab dem 19. Jahrhundert und damit nach der Lexikalisierung im deutschsprachigen Raum. Das Etymologische Wörterbuch des Ungarischen (Benkő 1993) bucht das Wort in den 1990er Jahren im Übrigen nicht.
Ab dem 18. Jahrhundert kann es als lexikalisiert gelten (1744a), im 19. Jahrhundert wird das Wort in den Wörterbüchern mit dieser Bedeutung gebucht, so etwa in Sanders Deutschem Wörterbuch mit der Bedeutungsangabe Heerbann in Ungarn
(1Sanders 1, 820). Gleichwohl bleibt das Wort ein Exotismus. Es bezeichnet eine Form der militärischen Organisation in Ungarn, die zugleich eine standesrechtliche Dimension hat, insofern hier Standespflichten und -privilegien wie etwa Steuerbefreiung eng miteinander verbunden sind (vgl. zum Zusammenhang von militärischen und finanziellen Privilegien in der Verfassungsgeschichte, hier insbesondere der ungarischen Goldenen Bulle, auch Balogh 1999, hier insb. 217–218). Mit Blick auf seine Semantik unterscheidet sich Insurrektion ungarisches Adelsaufgebot
damit wesentlich von der gegenwartssprachlichen Bedeutung Aufstand, Aufruhr
. So handelt es sich bei der ungarischen Insurrektion um ein Adelsaufgebot, das zum Schutz der Landesgrenzen vom Herrscher einberufen wird, und damit gerade nicht um einen Aufruhr bzw. Aufstand gegen herrschende ElitenWGd, sondern um deren Stützung gegen feindliche Angriffe.
Im Deutschen begegnet Insurrektion ungarisches Adelsaufgebot
zur Abgrenzung und genaueren Bestimmung auch in der Verbindung adelige Insurrektion (1844). Die ungarische Insurrektion wird zudem weiter differenziert, so unter anderem nach persönlicher und allgemeiner Insurrektion. Diese Differenzierungen begegnen auf sprachlicher Ebene auch in deutschsprachigen Quellen, und zwar sowohl – mutmaßlich, weil die Rechtsquellen in lateinischer Sprache verfasst sind – sowohl in lateinischer (1839) als auch in deutscher Form (1865b). Mit Blick auf das semantische Feld im Deutschen sind insbesondere das Kompositum Generalinsurrektion (1745) und die Kollokationen allgemeine (1865a) und persönliche Insurrektion (1797a, 1835) zu nennen.
Verwendungen von Insurrektion ungarisches Adelsaufgebot
sind im 19. und noch im 20. Jahrhundert bezeugt (1845, 1848b, 1903). Heute kann diese Bedeutung als veraltet gelten – gegenwartssprachliche Wörterbücher wie beispielsweise Duden online, aber auch etwa das DWDS, buchen die Bedeutung ungarisches Adelsaufgebot
oftmals gar nicht mehr (vgl. Duden online unter Insurrektion sowie DWDS unter InsurrektionDWDS).
Insurrektion Aufstand, Aufruhr
: Verbreitung im Kontext der Französischen Revolution
Einschlägige etymologische Wörterbücher des Deutschen gehen davon aus, dass Insurrektion unter Einfluss des Französischen ins Deutsche gelangt (letzteres – noch unter der Annahme einer Entlehnung ins Deutsche erst im 18. Jahrhundert – ist die These von Pfeifer, siehe ebenda unter InsurrektionDWDS sowie des 1DFWB 1, 299–300), was für die Verwendung und Verbreitung des Wortes in der Bedeutung Aufruhr
plausibel erscheint. Jedenfalls ist insurrection im Mittelfranzösischen seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts belegt, im 16. bis 18. Jahrhundert hier allerdings insgesamt eher selten. Erst ab 1748 mehren sich die Belege wieder (vgl. TLFi unter insurrection). In der Nachfolge und in erkennbarer zeitlicher Nähe zu den Ereignissen den politischen Ereignissen der Französischen Revolution steigt die – allerdings bedeutungsübergreifende – Verwendungsfrequenz deutlich (vgl. die entsprechende bedeutungsübergreifende Wortverlaufskurve zu insurrection des Google NGram Viewers). Auch im Englischen ist insurrection im Übrigen bereits seit dem 15. Jahrhundert bezeugt (vgl. 3OED unter insurrection, n.). Frühe Belege des Wortes in deutschsprachigen Quellen in der Bedeutung Aufstand
weisen zudem in Teilen Bezüge zu Frankreich (1688, 1703), seltener auch zu England (1697a) auf.
Wie im französischen Sprachraum steigt auch im deutschsprachigen Raum die – ebenfalls bedeutungsübergreifende – Verwendungsfrequenz für das Substantiv Insurrektion im ausgehenden 18. Jahrhundert erkennbar an (vgl. die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Das 1DFWB bucht für die Zeit um 1800 zahlreiche Belege mit Bezug auf die Französische Revolution sowie den Vermerk frz. insurrection, um 1790 als revolutionäres Schlagwort für die
(vgl. 1DFWB 1, 299–300; siehe daneben beispielsweis 1793a) Daneben stehen aber schon Ende des 18. Jahrhunderts auch solche Belege mit der Bedeutung Volkserhebung
aufgekommen und […] bald auch bei uns durch Berichte über die französische Revolution bekannt geworden.Aufruhr, Aufstand
, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu Frankreich oder zur Französischen Revolution stehen (1793b). Dennoch wird die weitere Verbreitung im deutschsprachigen Raum, insbesondere die Verbreitung in der neuen Bedeutung Aufstand, Aufruhr
, von den Verwendungen von französisch insurrection in entsprechender Bedeutung sowie dem Bezeugungsanstieg im französischen Sprachraum zu dieser Zeit zu verstehen sein. Auch übertragene Verwendungen begegnen im Übrigen seit Ende des 18. Jahrhunderts (1798b, 1828).
Zumindest zeitweise, auch zu dieser Zeit aber wohl nur partiell, scheint Insurrektion zudem gewisse rechtliche Konnotationen zu haben, über die das Wort von anderen Wörtern des semantischen Feldes abgegrenzt wird (1801). Campe bucht das Wort 1801 in seinem Verdeutschungswörterbuch jedenfalls mit der Bedeutung
der Aufstand, welcher sich vom Aufruhre (Rebellion) dadurch unterscheidet, daß er nicht, wie dieser, nothwendig die Begriffe der Unordnung, Unrechtmäßigkeit und Strafwürdigkeit einschließt. Es läßt sich von dem Aufstande, aber nicht von dem Aufruhre, denken, daß er gerecht sei, und sich in den Schranken der Pflichtmäßigkeit und der Mäßigung halte, wenn es gleich schwer fallen möchte, wirkliche Beispiele, bei welchen der bloße Aufstand nicht in Aufruhr ausartete, anzuführen. [1Campe Verdeutschung 2, 427]
Selten begegnet das Wort zur Bezeichnung eines älteren Rechtes auf Widerstand (1795, 1850; vgl. daneben beispielsweise auch Hirsch 2004, 155 mit einem Hinweis auf ein – unter Vorbehalten – Recht auf Widerstand bzw. Insurrektion im mittelalterlichen Staatsdenken).
Insgesamt ist die Bedeutung Aufstand, Aufruhr
für Insurrektion über die Jahrhunderte stabil (1832c, 1871, 1931). Zwar begegnet es in dieser Bedeutung selten auch noch in gegenwartssprachlichen Quellen (1978, 1994); es bezieht sich allerdings häufig auf historische Ereignisse (1972, 1986) und kann heute insgesamt als veraltet gelten. Die Bezeugungsfrequenz jedenfalls sinkt ab Ende des 19. Jahrhunderts deutlich.
Insurgent und insurgieren: Semantisches Feld
Neben Insurrektion sind mit Insurgent (1790) und insurgieren (1697b, 1848a, 1862) zwei weitere Wörter der Wortfamilie in entsprechenden Bedeutungen zum Substantiv Insurrektion belegt. Insurgent kann sowohl Aufständischer, Aufrührer
(1911) bedeuten als auch auf das ungarische Adelsaufgebot bezogen werden (1744b); ebenso kann insurgieren sowohl zum Aufstand anstacheln, einen Aufstand herbeiführen
(1853) meinen als auch in einer dem Substantiv Insurrektion ungarisches Adelsaufgebot
entsprechenden Bedeutung verwendet werden (1797b, 1798a). Das Verb ist etymologisch auf lateinisch īnsurgere sich aufrichten, sich (gegen jemanden oder etwas) erheben
zurückzuführen (vgl. Duden online unter insurgieren) und im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert belegt, zunächst wie das Substantiv Insurrektion in typographisch gekennzeichneter lateinischer, dann in deutscher Form (1697b, 1832a). Es ist insgesamt deutlich seltener bezeugt als insbesondere Insurrektion (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers, aber auch als Insurgent (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Literatur
Balogh 1999 Balogh, Elmér: The place of the Golden Bull in Hungarian constitutional history. In: De Bulla Aurea. Andreae II Regis Hungarie MCCXXII. Hrsg. von Lajos Besenyei, Gézta èrszegi und Maurizio Pedrazza Gorlero. Verona 1999, S. 203–224.
Benkő 1993 Etymologisches Wörterbuch des Ungarischen. Erarb. im Institut für Sprachwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. Loránd Benkő. Autoren Béla Büky. Bd. 1–3. Budapest 1993–1997.
1Campe Verdeutschung Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelungs Wörterbuche. In zwei Bänden. Braunschweig 1801. (sub.uni-goettingen.de)
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Hirsch 2004 Hirsch, Alfred: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
1Sanders Sanders, Daniel: Wörterbuch der Deutschen Sprache: mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Bd. 1–3. Leipzig 1860–1865. (bbaw.de)
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Insurrektion, Insurgent, insurgieren.