Wortgeschichte
Herkunft und Bezeugungen im 19. Jahrhundert
Modernismus ist im Deutschen erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts belegt (1814, 1824). Zurückzuführen ist es wohl auf spätlateinisch modernus neu
; das 3OED bucht englisch modernism mit Erstbelegen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dem Vermerk, dass es im Englischen als Ableitung von modern gebildet worden sei (vgl. 3OED unter modernism, n.). Im Deutschen wird das Wort zunächst in einer recht weit gefassten Bedeutung verwendet: Es bezieht sich im 19. Jahrhundert im Wesentlichen auf Neuerungen (1845) und ist damit im Gegensatz zum Alten gedacht (1814, 1887). Erste Buchungen in deutschen Fremdwörterbüchern datieren auf die Mitte des 19. Jahrhunderts; gebucht wird Modernismus mit der Bedeutung neuerer Geschmack, Abweichung von der alten classischen Methode
(Kaltschmidt, 468) bzw. die Neuerung, der Hang zu Neuerung, der neuere Geschmack
(9Petri II, 107). Die Kontexte, in denen das Wort im Verlauf des 19. Jahrhunderts begegnet, sind heterogen (1845, 1859, 1887, 1889). Es fällt gleichwohl auf, dass das Wort von Beginn an häufiger in theologischen Zusammenhängen verwendet wird (1824, 1825, 1873). Diese theologischen Verwendungen haben eine Vorgeschichte:
Das Wortfeldmodern[…] spielt in theologischen Auseinandersetzungen schon eine Rolle seit dem Mittelalter, in dem sich in der scholastischen Theologie die Schulrichtung dervia antiqua(geprägt von denaltenTheologen wie Albert dem Großen und Thomas von Aquin) von dervia moderna(geprägt von denneuenTheologen wie dem Nominalisten Wilhelm von Ockham) gegenüberstanden. Martin Luther nannte die Vertreter der letzteren bereitsModernisten. Im Rom der Gegenreformation bezeichnete man die Protestanten gerne alseretici moderni, die zu denklassischenHäretikern der Alten Kirche (etwa denAriantern) hinzugetreten waren und diese noch übertrafen. [Arnold 2007, 11]
Reformkatholizismus
. Bedeutungsverengung um 1900
Im 18. Jahrhundert setzten die eigentlichen Auseinandersetzungen um eine moderne Theologie
ein, zunächst vor allem im evangelischen Bereich (vgl. Arnold 2007, 11–12). Wortgeschichtlich einflussreich ist dann vor allem die Rezeption des Wortes Modernismus im Katholizismus: Dort avancierte er im Gefolge der großen ‚Ismen‘ zum Inbegriff der Häresie
(Arnold 2007, 12).
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Der belgische Nationalökonom Charles Périn nutzt 1881 in seinem Aufsatz Le modernisme dans l’église d’après les lettres inédites de La Mennais Modernismus als synthetischen Begriff für die Versöhnungstendenzen liberaler Katholiken mit den Ideen der Französischen Revolution und der Demokratie (vgl. Arnold 2007, 13). Um die Jahrhundertwende verbreitet sich in der katholischen Theologie ein Verständnis von Modernismus, unter dem nun alle modernen
Irrtümer gefasst wurden (vgl. Arnold 2007, 14). 1907 definiert Papst Pius X. in der Enzyklika Pascendi dominici gregis den Modernismus als häretisches theologisches System im Katholizismus, das eine komplexe Einheit aus rein innerweltlicher Philosophie, subjektivistischer Glaubensauffassung, rationalistischer Bibelkritik und traditionsvergessenem Reformertum darstelle
(Arnold 2007, 14–15).
In der Nachfolge erfährt Modernismus auch allgemeinsprachlich eine Bedeutungsverengung und bezeichnet nicht mehr nur Befürworter von Neuerungen innerhalb der Kirche im Allgemeinen, sondern im Kontext des sogenannten Modernismus-Streits zu Zeiten von Papst Pius X. auch Tendenzen des Reformkatholizismus im Speziellen (1908b, 1912, 1913, vgl. auch GG 4, 124). Diese Bezeichnung ist bis heute in Bezugnahme auf die Debatte um 1900 gängig (1959, 1971b). Zudem bilden sich die Komposita Modernismusstreit bzw. Modernismuskrise als Bezeichnungen für die einschlägigen Debatten aus (1971c, 1971d, 1998, 2005).
Modernismus in Literatur und Künsten
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mutmaßlich in Zusammenhang mit der Entstehung des Substantivs ModerneWGd, das Ende des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die Literatur des Naturalismus gebildet und schnell auf andere Künste und Strömungen übertragen wird, erhält auch Modernismus eine neue Bedeutung. Es kann nunmehr auch einen der im weitesten Sinn künstlerischen Moderne zuzuordnenden Stil (1930, 1948, 1949, 1994) bzw. im Plural auch dessen Stilelemente (1951, 1962b) bezeichnen. Seltener ist es auch allgemein in der Bedeutung dem modernen Geschmack angepasstes (sprachliches) Stilmittel
belegt (1962a, 1987, 2004). Modernismus kann dabei (1950), muss aber nicht (1952) abwertend verwendet werden. In besonderem Maße negativ konnotiert ist das Wort im – zumindest offiziellen – DDR-Sprachgebrauch, in dem Modernismus für eine dem kapitalistischen Westen zugeordnete und abgelehnte Kunstrichtung steht (1989). Die entsprechende Buchung von Modernismus in der Bedeutung Überbetonung alles dessen, was modern ist; Streben nach neuartigen Mitteln um jeden Preis in der spätbürgerl. Kunst
(vgl. WDG 4, 2539DWDS spiegelt dies wider.
Gesellschaftliche Bedeutung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnen schließlich Verwendungen, in denen Modernismus in einem weiten Sinn auf die gesellschaftliche Moderne bezogen wird (1966a, 1985, 1995). Auch diese semantische Entwicklung ist wohl vor dem Hintergrund des Substantivs Moderne zu verstehen. So wird Moderne ab der Jahrhundertwende gelegentlich auch für die Gesellschaft im Allgemeinen verwendet und seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt auf das (westliche) Zeitalter seit der Aufklärung und der Französischen Revolution im Besonderen bezogen.
Modernist und modernistisch. Wortbildungen
Mit Modernist und modernistisch sind zwei weitere Wörter in entsprechenden Bedeutungen belegt. Die Personenbezeichnung Modernist Anhänger, Vertreter des Modernismus
(1837, 1866, 1908a, 1973) ist zwar insgesamt selten, aber doch schon ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bezeugt. Obwohl das Wort wenig begegnet, ist es – im Gegensatz zu modernistisch – bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen mit Modernismus in Petris Fremdwörterbuch in der Bedeutung ein Bewunderer des Neuen, ein Neusüchtler
aufgenommen (9Petri II, 107). Das Adjektiv modernistisch (1886, 1891, 1966b, 1972) in der Bedeutung auf den Modernismus bezogen
ist dahingegen wohl nicht vor Ende des 19. Jahrhunderts anzusetzen. Zwar begegnet das Adjektiv von Beginn an auch in nicht-theologischen Kontexten (1886), gerade in Belegen vom Anfang des 20. Jahrhunderts überwiegen jedoch Verwendungen in Bezug auf jene Bedeutung von Modernismus, die auf den Reformkatholizismus bezogen ist (1891, 1910, 1911). Das legt die Vermutung nahe, dass die Bildung und Verbreitung des Wortes durch die Debatte um den Reformkatholizismus zumindest befördert worden ist.
Neben Modernist und modernistisch sind als Wortbildungen insbesondere Antimodernismus (1971a, 1980) sowie ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zudem PostmodernismusWGd belegt, seltener auch Hypermodernismus (1909, 2002).
Literatur
Arnold 2007 Arnold, Claus: Kleine Geschichte des Modernismus. Freiburg im Breisgau 2007.
GG Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1–8. Stuttgart 1972–1997.
Kaltschmidt Kaltschmidt, Jacob Heinrich: Neuestes und vollständigstes Fremdwörterbuch zur Erklärung aller aus fremden Sprachen entlehnten Wörter und Ausdrücke: nebst einem Anhange von Eigennamen. Leipzig 1843.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
9Petri Petri, Friedrich Erdmann: Gedrängtes Handbuch der Fremdwörter in deutscher Schrift- und Umgangssprache: zum Verstehen und Vermeiden jener, mehr oder weniger, entbehrlichen Einmischungen. Neunte, rechtmäßige, tausendfältig bereicherte Aufl. Dresden 1845.
WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Modernismus, Modernist, modernistisch.