Wortgeschichte
Von unmodisch
zu veraltet, nicht mehr zeitgemäß
Erste vereinzelte Bezeugungen des Adjektivs vormodern, eine Bildung aus dem Grundwort modernWGd und dem Präfix vor-, reichen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück (1845a, 1845b, 1870). Ihre auf Mode und Stil bezogenen Verwendungen zeigen, dass die Entstehung des neuen Adjektivs wohl vor dem Hintergrund der Bedeutung modisch, dem zeitgenössischen Geschmack entsprechend
, die modern unter Einfluss des Wortes Mode ausbildet, zu verstehen ist und vormodern zunächst wohl veraltet
bedeutet – und zwar im heute nicht mehr gängigen Sinne von unmodisch
. Wohl von hier aus ist der Eingang in die Allgemeinsprache in der weiter gefassten Bedeutung veraltet, nicht mehr zeitgemäß
zu begreifen (1886, 1965a, 2002a, 2014a). Des Weiteren sind sentimentalische Verwendungen zu verzeichnen, die aus der Perspektive der (Post-)Moderne einen vermeintlich vormodernen Zustand geradezu verklären (2016) – eine Haltung, die kulturgeschichtlich weit zurück reicht und gewissen Konjunkturzyklen unterliegt.
Auf die Epoche vor der (westlichen) Moderne bezogen
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erhält das Adjektiv vormodern ein neues semantisches Profil und ist nun, wohl im Gegensatz zu moderne Gesellschaft, in der Bedeutung auf die Epoche vor der (westlichen) Moderne bezogen
belegt (1874, 1885). Die konkrete Epoche, auf die das Adjektiv dabei rekurriert, hängt nun maßgeblich von der dem jeweiligen Sprechakt zugrundeliegenden Konzeption von Moderne
ab und lässt sich daher nicht exakt bestimmen. Das Spektrum umfasst beispielsweise die Zeit bis 1800 oder die kulturelle Moderne der Jahrhundertwende – mithin zwei sehr unterschiedliche Konzeptionen (1888, 1899, 1908, 1980a, 1986, 2000b). Gleichwohl zeigt sich insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine deutliche Tendenz, insbesondere das europäische Zeitalter vor der Französischen Revolution als vormodern zu bezeichnen (1899, n- 1977, 1995b). Verwendungen in diesem Sinn tragen dann Konnotationen der vorindustriellen und vortechnischen Wirtschafts- und Lebensweise (1982b, 2002c, 2010a), einer noch nicht funktional ausdifferenzierten Gesellschaftsordnung (1979) sowie einer gegenüber der Moderne anderen Wissensordnung (2000a, 2002b, 2009).
Vor diesem Hintergrund ist ab Ende der 1960er Jahre und damit erst gut 100 Jahre nach dem Aufkommen des Adjektivs im deutschsprachigen Raum zudem die Substantivbildung Vormoderne belegt (1968 erscheint eine Studie zu Macht und Wirkung der Rhetorik, die den Untertitel Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne trägt1), vgl. daneben 1978). Sie bezeichnet ihrerseits die Epoche vor der (westlichen) Moderne mit entsprechenden Konnotationen (1991, 2001c, 2001a). Als Vorläufer können hier wohl die bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts belegte Kollokation vormoderne Zeit (1876, 1885, 1912) sowie die ab Mitte des 20. Jahrhunderts bezeugte Kollokation vormoderne Gesellschaft (1962, 1965b) gelten; beide Kollokationen werden im Übrigen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt verwendet (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu vormodern und Vormoderne
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Dass das Substantiv nun gerade zu dieser Zeit in den Sprachhaushalt eingeht, ist wohl kein Zufall, sondern hängt sicherlich auch mit entsprechenden Diskurssträngen in den Sozial- und Geisteswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen (1981, 1995a, 1999b, 2004). Sowohl für das Adjektiv als auch für das Substantiv ist jedenfalls in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine steigende Verwendungsfrequenz zu verzeichnen (vgl. Abb. 1 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers; einschränkend ist anzumerken, dass das Bild der beiden Verlaufskurven hinsichtlich der Frage, ob das Adjektiv oder das Substantiv eine höhere Verwendungsfrequenz hat, basierend auf den unterschiedlichen Korpora keine übereinstimmenden Ergebnisse liefern).
Von nicht mehr zeitgemäß
zu rückständig
Gelegentlich begegnen in jüngerer Zeit auch gegenwartsbezogene Verwendungen in Bezug auf außereuropäische Kulturen (2010b, 2014b, 2017a); in diesen Verwendungen wird das Wort auch abwertend in der Bedeutung rückständig
gebraucht (2000c). Hier greifen die beiden Bedeutungen veraltet, nicht mehr zeitgemäß
und auf die Epoche vor der (westlichen) Moderne bezogen
ineinander. Diesen Äußerungen liegt in der Regel eine zutiefst eurozentristische Perspektive auf die europäische Moderne bzw. deren Modernisierungsprozess zugrunde, die zu Bezugspunkt und Gradmesser einer Entwicklung
bzw. eines Fortschritts
anderer Kulturen werden (vgl. dagegen allerdings auch 2017b). Diese Verwendung ist wohl auch in Zusammenhang mit der Semantik des Wortes ModernisierungWGd zu begreifen, das in der Soziologie ab etwa 1960 eine spezifische Verwendung zur Bezeichnung der Entwicklungsbemühungen in Ländern der Dritten Welt
findet (GG 4, 129). Im Kontext entsprechender Modernisierungstheorien bedeutet Modernisierung seither Prozess der Transformation, der eine Gesellschaft von der Vormoderne in die Moderne überführt
.
Vormodern und Postmodernismus
Zu verzeichnen sind nicht zuletzt Verwendungen des Adjektivs in Bezug auf Literatur und Künste, die seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder begegnen (1886, 1899, 1982a, 1990). In den ersten Bezeugungen dieser Art scheint die Dimension des Stils, die in den frühen, noch nicht sedimentierten Verwendungen des Wortes eine Rolle gespielt hat, nachzuwirken. Eine entsprechende Einordnung als vormodern ist dabei, soweit sie auf je zeitgenössische Künstler bezogen wird, zunächst überwiegend negativ konnotiert (1886, 1982a). Jüngere Belege (1980b) weisen darüber hinaus auch Bedeutungsaspekte einer Epochenschreibung auf, die Vormoderne, Moderne und PostmoderneWGd unterscheidet, hier nun spezifischer auf die Literatur- und Kunstgeschichte bezogen (1999a). Vor dem Hintergrund der nunmehr einsetzenden Beobachtungen einer Postmoderne bzw. eines PostmodernismusWGd kann vormodern im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts seine negativen Konnotationen verlieren und nun eher die Bedeutung einer früheren Epoche zuzuordnen
tragen (1998, 2001b) – hier werden mithin beide zentralen Bedeutungen des Adjektivs wirksam.
Anmerkungen
1) Dockhorn, Klaus: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Gehlen, Berlin-Zürich 1968.
Literatur
GG Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1–8. Stuttgart 1972–1997.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu vormodern, Vormoderne.