Wortgeschichte
Armenviertel: Entstehung eines Wortes in Krisenzeiten
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts treten mit Armenviertel und ElendsviertelWGd zwei neue Bezeichnungen für Wohngebiete der Mitellosen auf. Armenviertel ist gegenüber Elendsviertel das vermutlich etwas ältere Wort: Während Armenviertel bereits in den 1820er Jahren bezeugt ist (1825), datieren erste Belege für Elendsviertel erst auf die Mitte des 19. Jahrhunderts (1853). Seit seinen frühesten Bezeugungen (1825, 1828) hat Armenviertel, ein Kompositum aus Arme(r) und (Stadt-)Viertel, die Bedeutung Stadtteil, der vorwiegend von mittellosen Menschen bewohnt wird
. Damit entsteht das neue Wort in auffallender zeitlicher Nähe zur schweren gesamteuropäischen Agrarkrise 1816/1817 – vor deren Hintergrund nicht nur Armenkolonien entstanden sind (vgl. Brasch 2017, 32–33), sondern auch das Wort ArmenkolonieWGd sich im Deutschen etabliert hat (1826).
Implikationen der Armut und Mittellosigkeit
Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist die vorwiegende Implikation von Armenviertel zunächst die der Armut, der Mittellosigkeit. Das zeigt sich insbesondere in Verbindung mit dem Antonym ReichenviertelWGd (1842, 1989, auch wohlhabende Bezirke: 1877), daneben aber auch in Wörtern, die in einem weiteren antonymischen Verhältnis zu Armenviertel stehen wie VillenkolonieWGd, -viertelWGd, -gegend oder -vorort (1907, 1975, 1985, 2001) und NobelviertelWGd (2006). Armenviertel kann vor allem im 19. Jahrhundert zudem im Kontext der Armenpflege verwendet werden (1881, 1902). Das Armenviertel erscheint hier als ein Ort der Notwendigkeit einer Fürsorge.
Slums und Townships. Armenviertel als Oberbegriff für Wohngegenden Mittelloser
Armenviertel kann von Beginn an sowohl auf deutsche (1828) als auch auf ausländische Verhältnisse bezogen werden (1842). Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bleibt das Wort aber – auch wenn es Ausnahmen gibt – vorwiegend auf Städte der westlichen Industrieländer bezogen (1860, 1877, 1925). Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann Armenviertel zunehmend auch auf Wohngegenden nicht-westlicher Städte, in denen vorwiegend Mittellose leben, bezeichnen (1970a, 1970b, 1971, 1975). Armenviertel wird damit auch zu einem Oberbegriff für eine Reihe an Bezeichnungen für Wohngegenden in der ganzen Welt, in denen vorwiegend Mittellose leben, so etwa SlumWGd (2010), Favela (1994a) oder Township (2012). Jedes dieser Wörter hat selbstredend eigene Implikationen. Zugleich kann Armenviertel nach wie vor auch auf westliche Verhältnisse bezogen werden (1984, 1994b, 1994c).
Literatur
Brasch 2017 Brasch, Anna S.: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der „Kolonie“ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017.
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.