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Armenviertel

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Seit seinen frühesten Bezeugungen in den 1820er Jahren hat Armenviertel die Bedeutung Stadtteil, der vorwiegend von mittellosen Menschen bewohnt wird. Das Wort begegnet zuerst in auffallender zeitlicher Nähe zur schweren gesamteuropäischen Agrarkrise 1816/1817. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bleibt das Wort vorwiegend auf Städte der westlichen Industrieländer bezogen. Seither kann es auch Wohngegenden nicht-westlicher Städte bezeichnen, in denen vorwiegend Mittellose leben.

Wortgeschichte

Armenviertel: Entstehung eines Wortes in Krisenzeiten

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts treten mit Armenviertel und ElendsviertelWGd zwei neue Bezeichnungen für Wohngebiete der Mitellosen auf. Armenviertel ist gegenüber Elendsviertel das vermutlich etwas ältere Wort: Während Armenviertel bereits in den 1820er Jahren bezeugt ist (1825), datieren erste Belege für Elendsviertel erst auf die Mitte des 19. Jahrhunderts (1853). Seit seinen frühesten Bezeugungen (1825, 1828) hat Armenviertel, ein Kompositum aus Arme(r) und (Stadt-)Viertel, die Bedeutung Stadtteil, der vorwiegend von mittellosen Menschen bewohnt wird. Damit entsteht das neue Wort in auffallender zeitlicher Nähe zur schweren gesamteuropäischen Agrarkrise 1816/1817 – vor deren Hintergrund nicht nur Armenkolonien entstanden sind (vgl. Brasch 2017, 32–33), sondern auch das Wort ArmenkolonieWGd sich im Deutschen etabliert hat (1826).

Implikationen der Armut und Mittellosigkeit

Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist die vorwiegende Implikation von Armenviertel zunächst die der Armut, der Mittellosigkeit. Das zeigt sich insbesondere in Verbindung mit dem Antonym ReichenviertelWGd (1842, 1989, auch wohlhabende Bezirke: 1877), daneben aber auch in Wörtern, die in einem weiteren antonymischen Verhältnis zu Armenviertel stehen wie VillenkolonieWGd, -viertelWGd, -gegend oder -vorort (1907, 1975, 1985, 2001) und NobelviertelWGd (2006). Armenviertel kann vor allem im 19. Jahrhundert zudem im Kontext der Armenpflege verwendet werden (1881, 1902). Das Armenviertel erscheint hier als ein Ort der Notwendigkeit einer Fürsorge.

Slums und Townships. Armenviertel als Oberbegriff für Wohngegenden Mittelloser

Armenviertel kann von Beginn an sowohl auf deutsche (1828) als auch auf ausländische Verhältnisse bezogen werden (1842). Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bleibt das Wort aber – auch wenn es Ausnahmen gibt – vorwiegend auf Städte der westlichen Industrieländer bezogen (1860, 1877, 1925). Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann Armenviertel zunehmend auch auf Wohngegenden nicht-westlicher Städte, in denen vorwiegend Mittellose leben, bezeichnen (1970a, 1970b, 1971, 1975). Armenviertel wird damit auch zu einem Oberbegriff für eine Reihe an Bezeichnungen für Wohngegenden in der ganzen Welt, in denen vorwiegend Mittellose leben, so etwa SlumWGd (2010), Favela (1994a) oder Township (2012). Jedes dieser Wörter hat selbstredend eigene Implikationen. Zugleich kann Armenviertel nach wie vor auch auf westliche Verhältnisse bezogen werden (1984, 1994b, 1994c).

Literatur

Brasch 2017 Brasch, Anna S.: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der „Kolonie“ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017.

2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)

DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)

25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.

10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.

Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Armenviertel.

Belegauswahl

Vielmehr wurde den Geistlichen nach der Theilung noch das Armenviertel zugeschlagen, weil sie mit ihrem Viertel nicht auslangen konnten.

Helfert, Josef: Von den Einkünften, Abgaben und Verlassenschaften geistlicher Personen. Prag 1825, S. 203-204. (books.google.de)

Die administrirende Direktion der Armenkolonie Frederiksgabe, an deren Spize der verehrungswürdige Konferenzrath und Kommandeur J. D. Law[ä]tz steht, hat den 5ten Jahresbericht bekannt gemacht.

Allgemeine Zeitung für das Jahr 1826. Mit einem vollständigen Nominat- und Sach-Register. Stuttgart und Tübingen 1826, S. 54. (books.google.de)

Die Kranken, welche in das poliklinische Institut aufgenommen werden, liefert, wie schon aus dem Gesagten erhellt, das Stadt-Armenviertel, dem ich gegenwärtig als Armenarzt vorstehe, und welches besonders dazu geeignet ist, da es das grösste ist, und eine hinlängliche Anzahl sowohl von acuten als chronischen Kranken, und namentlich auch von kranken Kindern jeden Alters darbietet.

Cerutti, Ludwig: Erster Jahresbericht über das poliklinische Institut zu Leipzig. In: Zeitschrift für Natur- und Heilkunde. Fünfter Band, Dresden und Leipzig 1828, S. 326–333, hier S. 327. (books.google.de)

Es giebt ein Zahlenverzeichniss der Armen, die die verschiedenen Viertel von Paris bewohnten in den Jahren 1821, 1822, 1823; danach kann man die Arrondissements von Paris in dieser Beziehung in 3 Klassen theilen. Armenviertel, Reichenviertel und Viertel, die hauptsächlich von Begüterten bewohnt werden.

Malgaigne’s klinische Vorlesungen über die Hernien. Dritte Vorlesung. Endliche Folge der allgemeinen Prädispositionen. – aetiologie der Hernia inguinalis des Mannes. In: Ueber die Eingeweidebrüche, deren Symptome, Diagnose und Behandlung. Vorlesungen von Kirby in Dublin und von Malgaigne in Paris. Deutsch bearbeitet von F. O. Lietzau. Leipzig 1842, S. 208–219, hier S. 209. (books.google.de)

In Texas aber giebt es keine großen Städte und deshalb darf es sich rühmen, auch keine Lasterhöhlen und Elendsviertel zu besitzen.

Schrader, Ferdinand: Das Buch für Auswanderer nach den vereinigten Staaten von Nordamerika, mit besonderer Berücksichtigung von Texas, Californien, Australien, Süd-Brasilien und den Freistaaten von Mittel- und Süd-Amerika nebst Mexico. Ein unentbehrliches Hand- und Hülfsbuch – für Alle, welche auswandern wollen, oder sich für überseeische Länder interessieren. Leipzig 1853, S. 47. (books.google.de)

Hauptsächlich suchen sie die finsteren Gassen und Armenviertel auf; da machen sie die besten Geschäfte.

Esquiros, Alphons: Die Kleingewerbe London’s. 3. Leben und Treiben der Coster-mongers. In: Erheiterungen. Eine Hausbibliothek zur Unterhaltung und Belehrung für Leser aller Stände. 32. Jg. (1860), 13. Band, S. 141–144, hier S. 141. (books.google.de)

Die genannten Parochieen sind aber die eigentlichen Armenviertel von Prag; in den wohlhabenden Bezirken sinkt die Geburtsziffer unter 25 per 1000 Einwohner.

Popper, M.: Beiträge zur medizinischen Statistik von Prag. In: Vierteljahresschrift für die Praktische Heilkunde. 34. Jg. 2. Bd./134. Bd., Leipzig/Prag 1877, S. 103–120, hier S. 110. (books.google.de)

Ferner kann es sich um größere Städte handeln, in welchen jedoch die mittellose Bevökerung eine seßhaftere ist und sich nicht in ausgedehnte Armenviertel zusammengepfercht findet.

Ehrle, Franz: Beiträge zur Geschichte und Reform der Armenpflege. Freiburg im Breisgau 1881, S. 128-129. (books.google.de)

Darum, ihr lieben Brüder, helft nun laut eures Synodalbeschlusses, das selige Epiphanienlicht den Hungrigen, Kranken, Sterbenden im Armenviertel unserer Stadtmission zu bringen!

F. W. H.: Epiphanien in der Stadtmission. In: Der Lutheraner. 58. Jahrgang Nr. 1, 7. Januar 1902, S. 23-24, hier S. 24. (books.google.de)

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sonderte der Staat vom östlichen Rande des Grunewalds 400 ha ab, um darauf die bekannte Villenkolonie errichten zu lassen.

Schroeder, Wilhelm: Die Grunewaldfrage. In: Die Neue Gesellschaft, 10. 10. 1907, S. 469. [DWDS]

Man schloß um 6, u. nun machten wir einen Spaziergang durch das Armenviertel bis zum Bastille-Platz. Unendliche Armut.

Klemperer, Victor: [Tagebuch] 1925. In: ders., Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum, Berlin 2000 [zuerst 1925], S. 168. [DWDS]

Im Sommer vergangenen Jahres meldete er 85 ermordete ‚ Kommunisten ‘ im Gebiet von Port-au-Prince – ein Erfolg, den er der CIA-Mithilfe verdankt. Nach der Ermordung bekannter linksgerichteter Einwohner Cap Haitiens wurden während einer Slum-Sanierungs-Kampagne im Armenviertel von La Fosette wahllos Männer, Frauen und Kinder mit Maschinengewehren erschossen.“

N. N.: ZEITSPIEGEL. In: Die Zeit, 16. 1. 1970, Nr. 03. [DWDS] (zeit.de)

Bei dem anschließenden Besuch im Armenviertel von Manila enthielt sich der Pontifex maximus jedoch trotz des erschütternden sichtlichen Elends jeder spontanen Äußerung.

N. N.: Fernostreise ohne Fortüne. In: Die Zeit, 4. 12. 1970, Nr. 49. [DWDS] (zeit.de)

Die Bedingung der Entführer des Schweizer Botschafters Bucher, die Regierung solle im Vorortverkehr von Rio für eine Woche den Nulltarif einführen, klingt freilich nur für denjenigen seltsam, der nicht weiß, daß die Menschen aus dem Armenviertel der brasilianischen Hauptstadt ein Drittel ihres gesetzlichen Mindestlohnes für Fahrkarten ausgeben müssen.

N. N.: Kaskaden der Gewalt. In: Die Zeit, 1. 1. 1971, Nr. 01. [DWDS] (zeit.de)

In den Villengegenden gibt es im Gegensatz zu den Armenvierteln keinen Ärztemangel, sondern einen ständigen Zuzug, wie die Namensschilder an den neuen Luxusbauten zeigen.

N. N.: Die Reichen von Delhi. In: Die Zeit, 25. 4. 1975, Nr. 18. [DWDS] (zeit.de)

Ein Baulöwe in Neapel läßt Armenviertel mit Polizeischutz räumen; unterm Vorwand, die Armen vor dem Einsturz der Gebäude zu bewahren, spekuliert er mit der Massenware Wohnung zum Schaden der entwurzelten Bewohner.

N. N.: Gewalt. In: Die Zeit, 11. 5. 1984, Nr. 20. [DWDS] (zeit.de)

Die Frau im weißen Villenvorort bewohnt ein geräumiges Haus, die Kamera kann Abstand halten zu der Person, die sie beobachtet, die Frau im schwarzen Armenviertel lebt in einem bescheidenen Backsteinhaus, die Wohnung ist klein und eng, die Kamera ist gezwungen, das Familienleben aus der Nähe zu betrachten.

N. N.: Kunstkalender. In: Die Zeit, 8. 2. 1985, Nr. 07. [DWDS] (zeit.de)

Viele Waren in den Armenvierteln sind teurer als in den Supermärkten der Reichenviertel.

N. N.: Das Gift der alltäglichen Gewalt. In: Die Zeit, 10. 11. 1989, Nr. 46. [DWDS] (zeit.de)

Rio de Janeiro hat sich in den letzten Jahren immer mehr an die Gewalt gewöhnt. Die Hügel der Stadt, auf denen sich die „Favelas“ genannten Armenviertel befinden, – werden von Drogenbossen beherrscht, die oftmals untereinander im Krieg stehen.

Francisco Da Torre, Rio De Janeiro: Für Rio gehören Massaker zum Alltag. In: Berliner Zeitung, 26. 10. 1994. [DWDS]

Diana – Die britische Prinzessin hat heimlich Obdachlose In einem Londoner Armenviertel besucht.

N. N.: Leute. In: Berliner Zeitung, 11. 11. 1994. [DWDS]

Ahnlich wie rechtsradikaler Rock in Deutschland hat „GangstaRap“ seinen sozialen Hintergrund In den Armenvierteln der Großstädte, die In den USA meist von Schwarzen bevölkert werden.

Ther, Philip: Mehr als Gewalt und Kommerz. In: Berliner Zeitung, 1. 12. 1994. [DWDS]

Es sind die ganz Armen, die hier, außerhalb der Geschäfts- und Villenviertel der Millionenstadt leben.

N. N.: Gemüse und Gesundheitsposten. In: Berliner Zeitung, 18. 5. 2001. [DWDS]

Das Gespräch fand am Sitz des brasilianischen Fußballverbandes statt, in einem Nobelquartier außerhalb von Rio de Janeiro, gut bewacht, viel Glas und Edelholz, weit weg von den Armenvierteln, die so viele Fußballgötter produzieren, aber noch mehr Elend und Gewalt.

N. N.: Der Selbstverteidiger. In: Die Zeit, 8. 6. 2006, Nr. 24. [DWDS] (zeit.de)

Der Slum gilt als einer der gefährlichsten der etwa 900 Armenviertel der Stadt.

N. N.: Brasiliens Polizei stürmt mit Panzern Slum in Rio. In: Die Zeit, 26. 11. 2010 (online). [DWDS] (zeit.de)

Wenige Kilometer entfernt war eine Township entstanden, ein Armenviertel aus Wellblechhütten.

N. N.: Die Winzerin vom Kap. In: Die Zeit, 31. 5. 2012, Nr. 23. [DWDS] (zeit.de)