Wortgeschichte
Armenviertel – Elendsviertel. Zwei Wörter des 19. Jahrhunderts
Elendsviertel gehört neben ArmenviertelWGd zu jenen Wörtern, die im 19. Jahrhundert Wohngebiete bezeichnen, die von Mittellosen bewohnt werden. Während Armenviertel zumindest seit den 1820er Jahren bezeugt ist (1825), entsteht Elendsviertel erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts (1853), wird zunächst aber nur gelegentlich verwendet. Das Wort setzt sich aus Elends- und (Stadt-)Viertel zusammen. Elend bedeutet ursprünglich anderes Land
; die Fremde wird dabei als etwas Unangenehmes gedacht, als ein Ort, wohin man sich ungern begibt. Diese Bedeutung ist noch Anfang des 18. Jahrhunderts lebendig. Daneben steht die Bedeutung Unglück, Notlage
, die seit dem 18. Jahrhundert dominiert (vgl. 2DWB 7, 1225–1226 sowie 10Paul, 267–268). Im Kluge ist zudem vermerkt, dass außer Landes
oder in einem anderen Land
der Verbannte oder Vertriebene sei, was die Bedeutungsentwicklung zu unglücklich, jammervoll
erkläre (25Kluge, 241). Vor diesem Hintergrund drängt sich die These auf, dass in frühen Bezeugungen von Elendsviertel beide Bedeutungen von Elend, die räumliche, die die Implikation der Verbannung beinhalten kann, ebenso wie Unglück, Not
, zum Tragen kommen:
Um aber die Stelle zu verstehen, ist zu bemerken, dass die Aussätzigen in den moslimischen Städten in einem abgesonderten Viertel ausserhalb der Mauern wohnen […]. Ibn-al-Hatib sagt also:Wie sollte nicht der Tadel eine Stadt treffen, in welcher die Elephantiasis häufig ist, deren Elendsviertel (d. h. das von den Aussätzigen bewohnte Viertel) stark bevölkert ist, während die übrige Bevölkerung von der Gefahr der Ansteckung keine Notiz nimmt?[1862].
Das seit den 1850er Jahren bezeugte Elendsviertel und das ältere Armenviertel stehen in keinem vollständig synonymen Verhältnis: Während Armenviertel vordringlich über die finanzielle Situation der Bewohner definiert ist und Aspekte wie schlechte Wohnverhältnisse, Bildungsarmut etc. eher nachgelagert erscheinen (1842, 1848), impliziert Elendsviertel stärker die existentielle Notlage (1869) und über die ursprüngliche Bedeutung von Elend zugleich eine stärkere Abgrenzung vom Rest der Gesellschaft (1862).
Marx’ These von der Verelendung und die Verbreitung von Elendsviertel
Abb. 1: Wortverlaufskurve zu „Elendsviertel“ und „Verelendung“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Zunächst wird Elendsviertel nur gelegentlich verwendet, die Verbreitung nimmt erst ab Ende des 19. Jahrhunderts langsam, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann stärker zu (vgl. Abb. 1 sowie die Wortverlaufskurve des Google Ngram Viewers). Wenig vorher steigt auch die Bezeugungsfrequenz von VerelendungWGd – wohl vor dem Hintergrund der Marx’schen Verwendung und Bestimmung des Wortes – signifikant. Insofern ist anzunehmen, dass Karl Marx’ These von der Verelendung des Proletariats für die weitere Verbreitung des Wortes Elendsviertel (1894, 1902), das mindestens zum Teil auf im Zuge der Industrialisierung entstandene Arbeiterviertel und ihre schlechten Lebensbedingungen bezogen wird (1869, 1907), eine Rolle gespielt hat. Die Verwendung des Substantivs und Adjektivs Elend bzw. elend, im Kompositum Elendsviertel das Bestimmungswort, ist bei Marx und Engels im Übrigen nicht immer eindeutig: In der Hauptsache verwenden sie es, um die Lage der Arbeiterklasse oder der von ihrem Land vertriebenen Bauern zu charakterisieren, wobei das Wort zwei Bedeutungen, eine rein ökonomische und eine allgemeinere, eine gesellschaftliche Position charakterisierende, habe (vgl. HKWM 3, 259).
Von den Elendsvierteln der Industrialisierung zu den Wohngebieten Einkommensschwacher des 21. Jahrhunderts
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wird Elendsviertel nicht nur, aber doch vorwiegend für die Verhältnisse in westlichen Industrieländern verwendet. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden sowohl Armenviertel als auch Elendsviertel zunehmend auch mit Blick auf andere Länder und die dortigen Verhältnisse gebraucht (1970, 1975, 2017), wobei sie nach wie vor auch im Kontext europäischer und nordamerikanischer Verhältnisse begegnen (1968b, 1968a, 1990). Zugleich haben sich gegenwärtig die Wörter Armenviertel und Elendsviertel semantisch angenähert, wofür das gelegentliche Auftreten der Verbindung Armuts- und Elendsviertel
bzw. alternativ Armen- und Elendsviertel
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spricht (1968c, 1989, 2010).
Mit Blick auf Wohngebiete für Mittellose in der ganzen Welt wird Elendsviertel zu einem Oberbegriff für SlumWGd (2003), Township (1995), Favela (2013) usw.
Literatur
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
HKWM Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug. Bd. 1 ff. Hamburg 1994 ff.
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Elendsviertel.