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Armenkolonie

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Armenkolonie begegnet im Deutschen erstmals in den 1820er Jahren. Es bezieht sich auf gezielt angelegte Ansiedlungen von Mittellosen, die an geregelte Arbeit herangeführt werden sollen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich Armenkolonie zwar weiterhin nachweisen, wird nun aber vom neu gebildeten Arbeiterkolonie zunehmend abgelöst.

Wortgeschichte

Armenkolonie als Ansiedlung von Mittellosen

Seit den 1820er Jahren im Deutschen bezeugt (1825, 1826), bezieht sich Armenkolonie auf Ansiedlungen Mittelloser, die an geregelte Arbeit herangeführt werden sollen (1829, 1835). Sprachhistorische Voraussetzung für die Bildung des Kompositums Armenkolonie ist die Abkoppelung der Bedeutung Siedlung von der machtpolitischen Bedeutungsschicht des neuzeitlichen Wortes Kolonie im Verlauf des 18. Jahrhunderts (vgl. hierzu im Detail KolonieWGd).

Sachhistorisch lassen sich solche Ansiedlungen vermutlich bis ans Ende des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen – jedenfalls datiert Pierer’s Universal-Lexikon in der Mitte des 19. Jahrhunderts erste Gründungen solcher Siedlungen auf diese Zeit (vgl. 4Pierer 1, 725–726; vgl. auch Brasch 2017, 31). Der wesentliche Impuls für Koloniegründungen im größeren Stil geht jedoch erst von der – in auffallender zeitlicher Nähe zur schweren, gesamteuropäischen Agrarkrise 1816/1817 – Gründung der Armenkolonie Frederiksoord an der deutschen Grenze der Niederlande im Jahr 1818 aus (vgl. Brasch 2017, 32). Erst vor diesem Hintergrund etabliert sich wohl auch das Wort Armenkolonie im Deutschen; frühe Bezeugungen referieren auf die holländischen Siedlungen (1840).

Arbeiterkolonie statt Armenkolonie

Die Wortverlaufskurve zeigt die Ablösung von „Armenkolonie“ durch „Arbeiterkolonie“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Abb. 1: Wortverlaufskurve zu „Armenkolonie“ und „Arbeiterkolonie“

DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich Armenkolonie weiterhin nachweisen (1871), wird nun aber vom neu gebildeten ArbeiterkolonieWGd (1896), das deutlich weitere Verbreitung findet (vgl. Abb. 1), zunehmend abgelöst: Der Begriff A[rbeiterkolonie] gehört der neuern Zeit an, früher war mehr die Benennung Armenkolonie üblich. (1905) Warum Armenkolonie durch das neue Wort abgelöst wurde, ist schwer zu sagen; eine mögliche Erklärung wäre, dass es sich bei Arbeiterkolonie um einen Euphemismus handelt. Gelegentlich wird Armenkolonie auch als Synonym für ArmenviertelWGd verwendet (1882), dann ohne die Implikation der Armenfürsorge. Heute ist das Wort überwiegend auf historische Armenkolonien bezogen (1995).

Literatur

Brasch 2017 Brasch, Anna S.: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der „Kolonie“ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017.

4Pierer Pierer’s Universal–Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Vierte, umgearbeitete und stark vermehrte Aufl. Bd. 1–19. Altenburg 1857–1865. (zeno.org)

Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Armenkolonie.

Belegauswahl

In die tiefere Doktrin läßt er sich selten ein, wünscht aber überall Einrichtungen, wodurch die Arbeit geleitet, und produktiver gemacht werde, und wenn er gleich die Vortheile des größeren Grundbesitzes bey den nöthigen Vorbedingungen nicht verkennt, so will er doch nur ganz vorzüglich solche Einrichtungen ins Auge fassen, welche mit der von der Revolution her datirenden Gesetzgebung über den Grundbesitz in Frankreich im Einklange stehen; – wofür er denn vor allen von der Regierung zu gründende oder zu unterstützende agronomische Institute, wie Ackerschulen, Forstschulen, Armenkolonien, Assoziationen zu einer umfassenderen Betreibung der Landwirthschaft anerkennt, und mit besonderer Vorliebe als von Vorgängen und Beyspielen von dem Fellenbergischen Institute in der Schweiz, von einigen anderen agronomischen Instituten in Deutschland, von den neuern Armenkolonien in den Niederlanden, der Vogt’schen Armenkolonie bey Hamburg, den Bemühungen des Conte Dandolo zur Verbesserung des Seidenbaues in Nord-Italien, und von den Verbesserungen spricht, welche die in der strengsten Abtödtung lebenden Brüder von la Trappe seit ihrer Rückkehr aus England der Umgebend ihrer Abtey Meillereaie in Bretagne mitgetheilt haben.

Devby, P.: De l’Agriculutre en Europe et en Amérique, considérée et comparée dans les interêts de la France et de la Monarchie. In: Jahrbücher der Literatur. Ein und dreyßigster Band. Wien Juli, August, September 1825, S. 274–292, hier S. 275. (books.google.de)

Die administrirende Direktion der Armenkolonie Frederiksgabe, an deren Spize der verehrungswürdige Konferenzrath und Kommandeur J. D. Law[ä]tz steht, hat den 5ten Jahresbericht bekannt gemacht.

Allgemeine Zeitung für das Jahr 1826. Mit einem vollständigen Nominat- und Sach-Register. Stuttgart und Tübingen 1826, S. 54. (books.google.de)

So mußte ich dann die Kultur und Dorfanlage aufgeben, um nicht zuletzt mit Frau und Kindern selbst eine Stelle in meiner idealistischen Armenkolonie zu erbitten.

Hallberg, Freiherr von: Die Armen-Kolonie. Eine Epistel. München 1829, S. 37. (books.google.de)

Armencolonien, indem man Arme ſammt Familie auf einer Colonie ſich anſiedeln läßt, ihnen das Capital zum Betriebe verſchiedener Gewerbe gegen die Verpflichtung der Verzinſung und allmäligen Abzahlung übergibt und ſie wegen Fleiß und Sittlichkeit genau unter Aufſicht hält4

Baumstark, Eduard: Kameralistische Encyclopädie. Handbuch der Kameralwissenschaften und ihrer Literatur für Rechts- und Verwaltungs-Beamten, Landstände, Gemeinde- Räthe und Kameral-Candidaten. Heidelberg/Leipzig 1835, S. 654. (deutschestextarchiv.de)

Aus den holländischen Armencolonien meldet man, daß die Bevölkerung dort zunimmt.

N. N.: Allgemeine Zeitung. Nr. 52. 21. Februar 1840. Augsburg 1840, S. 412. (deutschestextarchiv.de)

Und die Vorstellung gipfelt in der Bitte, daß zur Errichtung einer Muster-Armenkolonie dieser Art durch den Skt. Marien-Verein eine Summe von 10,000 fl. in das Budget der laufenden XI. Finanzperiode eingestellt werden möge.

Beilage CXXVI. Bothmer, Graf von: Vortrag im zweiten Ausschusse der Kammer der Reichsräthe über: „Die Vorstellung der Frau Gräfin Victoriane von Butier-Haimhausen ‚das Armenwesen betr.‘“ In: Verhandlungen der Kammer der Reichsräthe des Königreichs Bayern in den Jahren 1871 und 1872. Fünfundzwanzigster Landtag. Amtlich bekannt gemacht. Beilagen-Band I, München 1871/1872, S. 511–517, hier S. 512. (books.google.de)

Hier ist Seven Dials, der Mittelpunkt eines der ärmsten Distrikte Londons und das seltsamste daran ist daß diese Armenkolonie hier im Westend, zwischen Oxfordstreet, Coventgarden und Piccadilly, überhaupt noch besteht.

Ompteba, Ludwig Freiher von: Charities. Freiwillige Armenpflege in London. (Schluß). In: Preußische Jahrbücher. Herausgegeben von Heinrich von Treischtke. Fünfzigster Band, Berlin 1882. S. 321–371, hier S. 343. (books.google.de)

Die am 28. Mai ſtattgehabte Hauptverſammlung des Schutzaufſichtsvereins (Präſident Herr Direktor Hartmann) hat die vorgelegte Jahresrechnung nach Antrag der Rechnungskommiſſion (Berichterſtatter Herr Bezirksamtsſchreiber Dr. Scheitlin) genehmigt, die Amtsführung des Komites verdankt und der Arbeiterkolonie Herdern, der Beſſerungsanſtalt Oberuzwil, dem Aſyl für ſchutzbedürftige Mädchen, der Rettungsanſtalt Thurhof, ſowie der Anſtalt zum „Guten Hirten“ in Altſtätten Beiträge von je Fr. 200 aus dem Ueberſchuſſe der Jahresrechnung zugeſprochen.

N. N.: Nr. 45, 03. 06. 1896. In: St. Galler Volksblatt. Uznach 1896, S. 2. (deutschestextarchiv.de)

Der Begriff A[rbeiterkolonie] gehört der neuern Zeit an, früher war mehr die Benennung Armenkolonie üblich.

Arbeiterkolonie. In: Meyers großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 1–20. Leipzig 1902– [bzw. 1905-]. Erster Band A bis Astigmatismus, Leipzig/Wien 1905, S. 680–681, hier S. 680.

Das Vogtland war eine Armenkolonie in Berlin vor dem Hamburger Tor, wo ein Schweizer namens Grunholzer etwas gesammelt hatte, das man heute Interviews nennen würde: Daten, Fakten und Eindrücke von diesen 2500 Menschen, die in 400 Zimmern untergebracht waren.

N. N.: Dies Buch gehört Bettinen. In: Die Zeit, 15. 9. 1995, Nr. 38. [DWDS] (zeit.de)