Wortgeschichte
Die Arbeiterkolonie als Ansiedlung
Arbeiterkolonie begegnet im Deutschen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Vorgängerwort ist ArmenkolonieWGd, das seit den 1820er Jahren im Deutschen bezeugt ist (1825, 1826) und (gezielte) Ansiedlung von Mittellosen, in der Regel im Kontext der Armenfürsorge
bedeutet (1829, 1835). Voraussetzung sowohl für die Bildung des Kompositums Armenkolonie als auch für den Nachfolger Arbeiterkolonie ist die Abkoppelung der Bedeutung Siedlung
von der machtpolitischen Bedeutungsschicht des neuzeitlichen Wortes Kolonie im Verlauf des 18. Jahrhunderts (vgl. hierzu im Detail auch KolonieWGd).
Arbeiterkolonie statt Armenkolonie. Sprachliche Ablösung
Abb. 1: Wortverlaufskurve zu „Arbeiterkolonie“ und „Armenkolonie“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Armenkolonie lässt sich zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin nachweisen (1871), wird aber vom neu gebildeten Arbeiterkolonie (1896) zunehmend abgelöst. Das gilt sowohl mit Blick auf die Verbreitung der beiden Wörter (vgl. Abb. 1 sowie die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers) als auch semantisch: Arbeiterkolonie bedeutet nun seinerseits (gezielte) Ansiedlung von Mittellosen, in der Regel im Kontext der Armenfürsorge
(1896) und impliziert, dass Arme, Obdachlose und vermeintlich Arbeitsunwillige an eine geregelte Arbeit herangeführt werden sollen (1902, 1906). Dass Arbeiterkolonie Armenkolonie auch semantisch ablöst, zeigt ein entsprechender Eintrag in Meyers Großem Konversationslexikon: Der Begriff A[rbeiterkolonie] gehört der neuern Zeit an, früher war mehr die Benennung Armenkolonie üblich.
(1905) Bedeutungsverwandt zu Arbeiterkolonie sind Bildungen wie Heimatkolonie, Ackerbaukolonie und Zwangsarbeiterkolonie (vgl. Brasch 2017, 33–34).
Warum Armenkolonie durch das neue Wort abgelöst wurde, ist schwer zu sagen; eine mögliche Erklärung wäre, dass es sich bei Arbeiterkolonie um einen Euphemismus handelt. Die wohl erste auch so benannte deutsche Arbeiterkolonie ist die Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf bei Bielefeld, die Pastor Friedrich von Bodelschwingh 1882 gründete (vgl. Brasch 2017, 33). Das Wort Arbeiterkolonie setzt sich erst in den Jahren danach mit dieser Bedeutung durch, vereinzelte frühere Bezeugungen stehen hingegen entweder im Kontext überseeischer Expansion (1866) und sind als Spontanbildungen zu bewerten, oder aber das Wort wird vereinzelt im Sinne von Kolonne
verwendet (vgl. 2DWB 3, 204).
Fabrikarbeitersiedlung
. Die andere Bedeutung von Arbeiterkolonie
Daneben bildet sich bereits früh eine zweite Bedeutung heraus, die im Kontext der Industrialisierung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verorten ist: Arbeiterkolonie kann seither auch Siedlung für Fabrikarbeiter
bedeuten (1872, 1899, 1900). Zu dieser Zeit haben Fabrikanten Siedlungen speziell für ihre Arbeiter angelegt. Bekannte Beispiele sind die Arbeiterkolonien der Firma Krupp wie beispielsweise die Essener Siedlung Margarethenhöhe. Diese Bedeutung von Arbeiterkolonie ist insofern nicht synonym zu Armenkolonie mit den genannten Implikationen der Armenfürsorge, sondern steht semantisch vielmehr dem Wort Arbeiterviertel, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Bedeutung vorwiegend von Arbeitern bewohntes Stadtviertel
bezeugt ist (1845, 1848), nahe.
Gegenwärtiger Sprachgebrauch
Beide Bedeutungen bestehen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert parallel. Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sinkt dann die Bezeugungsfrequenz von Arbeiterkolonie deutlich (vgl. Abbildung 1 sowie die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Das hat in erster Linie sicherlich mit sachhistorischen Entwicklungen zu tun: Zum einen gehört die gezielte Ansiedlung von Mittellosen mit dem Ziel der Heranführung an geregelte Arbeit im Kontext der Armenfürsorge vor dem Hintergrund des Ausbaus des Sozialsystems heute der Vergangenheit an. Zum anderen gehören spätestens mit dem Übergang von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Gesellschaft auch Gründungen von solchen Siedlungen, die Großfabrikanten zu Zeiten der Industrialisierung für ihre Arbeiter gebaut haben, der Vergangenheit an. Daneben mag für den Rückgang der Bezeugungsfrequenz des Wortes auch das Ende des deutschen Kolonialengagements in Übersee und der damit einhergehende Verwendungsrückgang des Grundwortes Kolonie eine Rolle gespielt haben.
Vor diesem Hintergrund wird Arbeiterkolonie gegenwärtig überwiegend in historischer Perspektive als Bezeichnung für Arbeitersiedlungen des 19. Jahrhunderts verwendet (1987, 1994).
Literatur
Brasch 2017 Brasch, Anna S.: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der „Kolonie“ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2017.
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
6Meyers Meyers großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 1–24, Kriegsnachtrag Teil 1–2. 6., gänzlich neubearbearbeitete u. vermehrte Aufl. Leipzig 1902–1917.
4Pierer Pierer’s Universal–Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Vierte, umgearbeitete und stark vermehrte Aufl. Bd. 1–19. Altenburg 1857–1865. (zeno.org)
WDG Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 1–6. Berlin 1964–1977.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Arbeiterkolonie.