Wortgeschichte
Ghetto: Vormoderne, konfessionelle Segregation zwischen Ab- und Aussonderung
Ghetto bzw. Getto ist seit dem 17. Jahrhundert mit der Bedeutung Stadtviertel, in dem Juden abgetrennt von der übrigen Bevölkerung leben
im Deutschen bezeugt (1614). Es gehört damit zu denjenigen Wörtern, die bereits vor der Ausbildung neuer gesellschaftlicher Strukturen ab 1800 eine Form sozialräumlicher SegregationWGd bezeichnet haben, genauer eine nach konfessioneller Zugehörigkeit (vgl. EdN unter Segregation; vgl. daneben auch den Wortfeldartikel sozialräumliche SegregationWGd).
Entlehnt wurde das Wort, soviel kann als gesichert gelten, aus dem italienischen ghetto. Die weitere Herkunft ist hingegen nicht eindeutig geklärt (vgl. Pfeifer unter GhettoDWDS). Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Ghetto auch im übertragenen Sinn für Isolation, Absonderung, Ausschluss
verwendet (1873, 1905, 1919).
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Mehrheitlich geht die Forschung inzwischen davon aus, dass sich das im Italienischen bereits im 16. Jahrhundert bezeugte ghetto vom Namen der Insel Geto nuovo bei Venedig ableitet, wo im 16. Jahrhundert Juden und Christen getrennt voneinander gelebt haben.1) Ghetto bzw. getto ist im Italienischen jedenfalls erstmals belegt, nachdem die Juden Venedigs 1516 in das Geto nuovo, einen Gießereibezirk (ital. gettare, gießen
), hatten umziehen müssen (EdN unter Ghetto). Die einschlägige Bezeichnung Geto nuovo ist spätestens 1531 erstmals belegt.
Während das Wort ghetto bzw. geto als Bezeichnung für ein von Juden bewohntes Stadtviertel vor 1516 nicht bezeugt ist, hat es jüdische Viertel freilich auch schon früher gegeben. Gleichwohl waren umgrenzte, abgeschlossene Viertel, in denen Juden aufgrund von entsprechenden Verfügungen zu leben hatten, wohl nicht die Norm. Mit dem Geto nuovo hatte Venedig ab 1516 dann ein eigenes, abgeschlossenes Viertel für Juden. Vor diesem Hintergrund wurde der Name in Italien, in dem in den nachfolgenden Jahren Juden zunehmend zwangssepariert wurden, üblich (vgl. 25Kluge, 356): Geto erfährt im Italienischen eine Bedeutungserweiterung und nimmt die Bedeutung abgeschlossenes Judenviertel
an. Mit dieser Bedeutung kehrt das Wort schließlich nach Venedig zurück: Zum Geto Nuovo kommt neben der alten Gießerei Geto Vecchio schließlich auch das Geto Nuovissima, wo es gar keine Gießerei mehr gibt, hinzu.2)
Eine weitere These zur Herkunft des Wortes besagt, dass das italienische getto von italienischen Juden lautlich mit dem hebräischen ghēt, Scheidung, Absonderung, Trennung
in Beziehung gesetzt wurde. Diese Hypothese würde zugleich eine Entwicklung der italienischen Schreibweise von getto zu ghetto erklären (vgl. 2DFWB unter Ghetto).
Im Deutschen wird Ghetto zunächst und bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein in Bezug auf Italien verwendet (1704). Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein kann Ghetto auch spezifisch auf Venedig und Italien bezogen werden und damit von Wörtern wie Judenviertel und Judengasse, die auch für Stadtviertel in Deutschland gebraucht werden, unterschieden werden (1905–1909; vgl. auch EdN unter Ghetto). Daneben erfährt Ghetto aber spätestens im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Bedeutungserweiterung und kann nun auch ein separates, zum Teil auch zwangsweise abgeschlossenes, Judenviertel außerhalb Italiens bezeichnen (1835).
Die Grenzen zwischen freiwilliger und erzwungener Segregation sind zunächst fließend und lassen sich aus den verschiedenen Bezeichnungen für Stadtviertel, in denen Juden leben, und die neben Ghetto von Judenstadt (1609) über Judengasse (1639) bis Judenviertel (1840a) reichen, nicht notwendig herauslesen (vgl. Ravid 2006, 14; EdN unter Ghetto).
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Gründe für die räumliche Trennung nach Konfessionen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten waren unter anderem, dass bestimmte Speisegebote und Feiertagsregelungen so besser eingehalten werden konnten. Zudem kam es immer wieder zu Übergriffen von Christen auf Juden, so dass die Einfriedungen jüdischer Wohnviertel mit hohen Mauern bereits im Mittelalter in einigen Fällen auch auf den Wunsch jüdischer Anwohner zurückging (vgl. Gareis in EdN unter Segregation). Andererseits weist Gareis darauf hin, dass Juden bereits im 14. Jahrhundert in vielen größeren europäischen Städten gezwungen worden seien, in eigene, von der übrigen Bevölkerung abgesonderte Stadtviertel umzuziehen, wo sie meist in sehr beengten und unkomfortablen Verhältnissen lebten (EdN unter Segregation; vgl. daneben auch EdN unter Ghetto). Erst mit der französischen Invasion unter Napoleon I. fielen in weiten Teilen Europas Ghetto-Tore, so etwa in Frankfurt 1796 (EdN unter Ghetto).
Neue Verwendungen und Bedeutungsaspekte zu Zeiten des Nationalsozialismus
Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurden Juden in den von Deutschland annektierten und besetzten Ländern erneut in Ghettos
zwangsumgesiedelt. Das hat Rückwirkungen auf die Bedeutung des Wortes Ghetto, das zu dieser Zeit für behördlich erzwungenes, zwangsweise eingerichtetes und räumlich beschränktes jüdisches Wohnviertel
steht (vgl. 2DFWB unter Ghetto sowie 1941, 1943, 1945). Ghetto erhält vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs zudem eine neue Implikation. So wird das Wort nicht nur erst nach der deutschen Invasion während des Zweiten Weltkriegs auch in Zusammenhang mit Osteuropa verwendet, vor allem gibt es hinsichtlich der Bedeutung einen grundlegenden Unterschied:
Im Gegensatz zu den Ghettos früherer Tage, die den Juden einen klar definierten, dauerhaften Platz in der christlichen Gesellschaft bieten sollten, stellten diese Ghettos des 20. Jahrhunderts lediglich eine vorübergehende Etappe auf dem geplanten Weg zur totalen Liquidierung dar. [Ravid 1992, 383, Übersetzung ASB]3)
Damit ist Ghetto zwar kein im engeren Sinn nationalsozialistisches Wort, insofern es seit Jahrhunderten im Deutschen bezeugt ist, erhält aber einen neuen Bedeutungsaspekt.
Elendsviertel und Reichenghettos. Ghetto im Wortfeld sozialräumliche Segregation in der Moderne
Neben Stadtviertel, in dem Juden getrennt von der übrigen Bevölkerung lebten
kann Ghetto auch allgemeiner Stadtviertel, in dem bestimmte Bevölkerungsschichten mehr oder weniger stark getrennt von anderen Bevölkerungsschichten zusammenleben
bedeuten. Das Deutsche Fremdwörterbuch datiert Verwendungen mit dieser Bedeutung bereits auf den Beginn des 19. Jahrhunderts (vgl. 2DFWB unter Ghetto). Verwendungen im Deutschen in diesem allgemeineren Sinn sind für das 19. Jahrhundert im Vergleich mit der Bedeutung Stadtviertel, in dem Juden getrennt von der übrigen Bevölkerung lebten
gleichwohl nur äußerst selten bezeugt (1840b). Während der Zeit des Nationalsozialismus wird die Verwendung mit der Bedeutung behördlich erzwungenes, zwangsweise eingerichtetes und räumlich beschränktes jüdisches Wohnviertel
dominiert haben.
Vor diesem Hintergrund wird man davon ausgehen können, dass sich Ghetto mit der Bedeutung Stadtviertel, in dem bestimmte Bevölkerungsschichten mehr oder weniger stark getrennt von anderen Bevölkerungsschichten zusammenleben
, häufig mit den Bedeutungsaspekt Armut, Elend
, im Deutschen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig etabliert hat (1967, 1972). Anzunehmen ist auch, dass hier eine Neuentlehnung aus dem Englischen zur Bedeutungserweiterung von Ghetto geführt hat: Im Englischen wird ghetto bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts auch im weiteren Sinn verwendet (3OED unter ghetto, n). Verwendungen von Ghetto mit der Bedeutung Stadtviertel, in dem bestimmte Bevölkerungsschichten mehr oder weniger stark getrennt von anderen Bevölkerungsschichten zusammenleben
sind im Deutschen ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst vor allem mit Bezug auf ausländische Großstädte (1953b), insbesondere auf die USA (1953c, 1956) bezeugt, was für eine Neuentlehnung aus dem Englischen spricht. Erst ab Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre wird Ghetto gelegentlich auch in Bezug auf Stadtviertel in deutschen Städten verwendet (1968, 1971, 2005).
Daneben kann Ghetto auch ohne den Bedeutungsaspekt Armut, Elend
für Formen sozialräumlicher Segregation verwendet werden, wie Komposita wie Regierungsghetto oder Reichenghetto exemplarisch zeigen (1953a, 2012). Hier dominiert der Bedeutungsaspekt sozialräumliche Isolation
.
Anmerkungen
1) Vgl. 25Kluge, 356; Ravid 1992; Ravid 2006; EdN unter Ghetto sowie EdN unter Segregation.
2) Die Ausführungen in diesem Absatz basieren wesentlich auf Ravid 1992 und Ravid 2006.
3) Im Original: If the word ghetto is to be used in its original literal sense in connection with Eastern Europe, then it must be asserted that the age of the ghetto arrived there only after the German invasions during the Second World War. However, there was a basic difference: unlike those ghettos of earlier days which were designed to provide Jews with a clearly defined, permanent place in Christian society, these twentieth-century ghettos constituted merely a temporary stage on the planned road to total liquidation.
(Ravid 1992, 383)
Literatur
2DFWB Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völlig neu erarbeitet im Institut für Deutsche Sprache von Gerhard Strauß u. a. Bd. 1 ff. Berlin/New York 1995 ff. (owid.de)
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
EdN Enzyklopädie der Neuzeit online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger. Leiden 2019. [basierend auf der Druckausg. im J. B. Metzler Verlag Stuttgart, 2005–2012]. (brillonline.com)
Gareis 2019 Gareis, Iris: Art. „Segregation“. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Online zuerst: 2019. (doi.org)
Klein 2019 Klein, Birgit E.: Art. „Ghetto“. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Online zuerst: 2019. (doi.org)
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Ravid 1992 Ravid, Benjamin C. I.: From Geographical Realia to Historiographical Symbol: The Odyssey of the Word Ghetto. In: David Ruderman: Essential Papers on Jewish culture in Renaissance and Baroque Italy. New York u. a. 1992, S. 372–385.
Ravid 2006 Ravid, Benjamin: Alle Ghettos waren jüdische Viertel, aber nicht alle jüdischen Viertel waren Ghettos. In: Fritz Backhaus: Die Frankfurter Judengasse: jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2006, S. 13–30.